Gespräch mit Rıza Altun
Rıza Altun ist eines der Gründungsmitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Er ist Mitglied im Zentralkomitee der PKK und gleichzeitig im Exekutivrat der KCK (Koma Civakên Kurdistan – Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans), einem Dachverband PKK-naher Organisationen. Nach den 1980er Jahren war er über zehn Jahre lang in türkischen Gefängnissen, unter anderem in den Folterzellen von Diyarbakır. Nach seiner Freilassung war er in vielen Bereichen für die PKK tätig. Zurzeit ist er Sprecher der Außenbeziehungs-Kommission der KCK.
Das Interview mit ihm wurde von GenossInnen vom Revolutionären Aufbau Schweiz Mitte Dezember 2016 in den Bergen Kandils geführt.
Lassen Sie uns mit einer Frage zu internationalen Spannungsfeldern zwischen den imperialistischen Kräften, der Türkei, der NATO und Europa im Mittleren Osten beginnen. Wie schätzen Sie die Vorgehensweise dieser Akteuere in der Region ein und welche Rolle spielt dabei die Revolution in Rojava?
Die ganze Entwicklung im Nahen Osten ist keine, die erst heute beginnt. Sie hat einen geschichtlichen Hintergrund, der nicht allzu weit zurück liegt. Es genügt, wenn wir uns den Ersten Weltkrieg ansehen und was damals mit der Region gemacht wurde.
Die Entwicklungen Anfang des 20. Jahrhunderts haben zu einer spannungsreichen Phase beigetragen, die bis zum Ende des 20. Jahrhunderts angedauert hat. In diesem Zusammenhang haben die imperialistischen Großmächte im Ersten und Zweiten Weltkrieg die Welt entsprechend ihrer Interessen aufgeteilt. Diese Aufteilung hat auch im Nahen Osten für viel Veränderung gesorgt.
Der Kapitalismus ist mit seinen universellen Ansprüchen in die Region gekommen und hat durch diese versucht, seine Interessen durchzusetzen. Das hat dazu geführt, dass der Nahe Osten in einen Kolonialisierungsprozess gedrängt wurde, um ihn dadurch ausplündern zu können.
Die Aufteilung wurde der Region aufgezwungen und sie wurde so zu einem Spannungsfeld entwickelt, in dem alle gegeneinander aufgehetzt wurden. Eine der größten ethnischen Volksgruppen sind die KurdInnen. Sie wurden bei den Grenzziehungen auf die Türkei, den Iran, den Irak und auf Syrien verteilt und somit zur Kolonialisierung freigegeben. Ähnlich wie den Kurden erging es den Jesiden, den Assyrern sowie zahlreichen anderen ethnischen und religiösen Gruppen.
Dadurch sind auch neue Nationalstaaten entstanden. Neben religiösen und konfessionellen Problemen ist dadurch eine Krankheit, nämlich der Nationalismus, in die Region hinein getragen worden. Hierdurch konnte der Kapitalismus die Hegemonie in der Region erlangen und die ihm eigentümlichen Machtverhältnisse entwickeln.
Es entstanden zahlreiche Konflikte und Auseinandersetzungen in der Region. Zahlreiche ethnische und religiöse Gruppen wurden durch die arabische, türkische und persische Herrschaft verleugnet, unterdrückt und bekämpft.
Gleichzeitig haben Kapitalismus und Imperialismus für ihren Profit und ihre Interessen zu diesen Auseinandersetzungen mit verschiedenen Methoden beigetragen. Also haben die heutigen Probleme der Region ihren Ursprung in jenen Auseinandersetzungen, wo auf Kosten der Menschen eine fatale Politik betrieben wurde, um bestimmte Interessen durchzusetzen.
Wir sollten aber auch sehen, dass der Kapitalismus als Ganzes in einer Krise steckt. Dadurch entstehen überall auf der Welt ganz viele Probleme, die nicht von heute auf morgen überwunden werden können. Im berechtigten Klassenkampf der Völker ist eine Wut entstanden, aber da sie in diesem Kampf keinen Wegweiser haben, sind sie mit ihrem Aufstand gleichzeitig auf die Interessen der Außenmächte getroffen. Und da es in dieser Situation keine vernünftige gesellschaftliche Perspektive gab, die die Menschen zur Freiheit führen konnte, sind die Aufstände in eine andere Perspektive gemündet. Denn auch der Kapitalismus versucht, sich mit neuen Methoden in der Region zu verschanzen.
In den vergangenen Wochen und Monaten verstärkte die Türkei ihr Säbelrasseln gegen die kurdische Bewegung im Nordirak, sie drohte sogar offen mit dem Einmarsch. Wie wahrscheinlich ist ein Krieg gegen Kandil, Shengal und andere Gebiete im Nordirak?
Die türkische Regierung und der türkische Staat benötigen so eine Operation, weil sie den Status von Shengal nicht dulden können. Sie können auch nicht dulden, dass Kandil ständig mit der PKK identifiziert wird. Sie können die ganzen Entwicklungen nicht dulden. Deswegen bereiten sie eine Militäroperation mit dem Fokus auf Shengal oder Kandil vor.
Ohne die Unterstützung der internationalen oder regionalen Mächte ist so eine militärische Operation schwierig. Auf der regionalen Ebene arbeitet die KDP eng mit der Türkei zusammen. Im Fall der Fälle werden sie sich an die KDP anlehnen und so eine Operation durchführen.
Ich sage nicht, dass es auf jeden Fall stattfinden wird, aber wenn es stattfindet, werden wir mit allen Möglichkeiten, die wir haben, sowohl hier aber auch in Shengal und ebenfalls mit all unseren Verbündeten dagegen Widerstand leisten und kämpfen. Wir haben unsere Vorbereitungen getroffen.
In dieser Situation ist die Position der Kurden nochmal anders. Der Kampf gegen die Rückständigkeit in der gesamten Region ist dabei ganz wichtig. Dass sich das Interesse der internationalen Öffentlichkeit auf die kurdische Freiheitsbewegung fokussiert, hängt damit zusammen.
Was sind die Methoden, mit der die PKK ihren Kampf führt?
Wir führen den Kampf nicht in der traditionellen Weise, derzufolge die Religion oder die Nationalität die Basis bildet, sondern wir führen eine andere und neue Art des Kampfes. Wir nehmen uns die freiheitliche Perspektive, die in der Geschichte immer da war, als Wegweiser für unseren Kampf und versuchen, aus der Geschichte zu lernen, wie wir eine zeitgemäße Bewegung in der Region verwirklichen können.
Wir haben eine Weltanschauung, die auf Geschlechterbefreiung, auf freiheitlichem Zusammenleben der Völker und einem friedlichen Zusammenleben der Menschen mit der Natur basiert. In diesem Zusammenhang führen wir den Kampf auf allen gesellschaftlichen Ebenen und an allen möglichen Orten fort. Das hat dazu geführt, dass unser Kampf zu einer Hoffnung in der Region wurde.
Die Situation in Rojava ist grundsätzlich bereit für eine Revolution. Mit einer richtigen Herangehensweise an die Probleme und einer richtigen Perspektive kann sich in der gesamten Region eine Revolution entwickeln. Aber um das voranzutreiben, braucht es nicht nur Solidarität, sondern man muss den gemeinsamen Kampf mehr in den Vordergrund rücken. Unsere Bewegung hat eine solche Perspektive: Sie kämpft nicht nur für die Rechte oder die Freiheit der Kurdinnen und Kurden, sondern sieht alle Probleme der Völker im Nahen Osten als ihre eigenen Probleme.
Wie sehen Sie unter diesen Umständen die Aussichten dieses Kampfes und wie kann eine erfolgsversprechende Strategie aussehen?
Wir haben immer die Organisierung der Gesellschaft in demokratischen gesellschaftlichen Bereichen vorangetrieben und gefördert. Immer wieder wurden wir bekämpft und unterdrückt, aber wir blieben immer erfolgreich.
Die Guerillabewegung ist der Garant für die gesellschaftliche Organisierung. Wir tragen die Verantwortung für eine strategische Herangehensweise, die die gesellschaftliche Organisierung an einen Punkt bringt, an dem die Menschen ihre Freiheiten leben können.
Zur Zeit ist die AKP an einen Punkt gelangt, an dem sie ihre Politik nicht so durchsetzen kann, wie sie es sich vorstellt. Ihre internationalen Beziehungen sind an einem Nullpunkt angelangt. Ihre Beziehungen in der Region sind bei Null. Sie hat die Gesellschaft in der Türkei gespalten. Ein Teil der Gesellschaft ist vollständig liquidiert. Die Beziehungen der AKP in der Region basieren nur auf einer sunnitisch-islamischen Perspektive und auf der Verleumdung der Kurden. Wirtschaftlich steckt sie in einer Krise, da der Dollar sich immer weiter hochkurbelt und der Wirtschaftskreislauf nicht mehr so funktioniert, wie er soll. Die Unterstützung der Wirtschaft aus der USA oder aus dem Westen ist auch nicht mehr da. All diese Widersprüche müssen wir verschärfen, um die Macht der AKP zu schwächen.
Es gibt immer wieder Klärungsbedarf diesen Kampf betreffend. Ich denke da zum Beispiel an die Zusammenarbeit mit den USA. Was ist die Natur dieser Zusammenarbeit?
Dass die Beziehung zu den Großmächten taktisch bleibt, ist logisch. Wir versuchen eine demokratische, kommunale, pluralistische und antikapitalistische Perspektive zu entwickeln. Die Imperialisten versuchen, ihre Interessen mit Macht in die Region hineinzutragen und so ihre Hegemonie zu verbreiten. Wir, die wir uns für die Freiheit und die Interessen der Völker einsetzen, stehen auf der anderen Seite. Um zu einer strategischen Zusammenarbeit zu kommen, müsste man ideologisch die gleiche Weltanschauung teilen, was hier nicht der Fall ist.
Wir setzen uns für einen demokratischen Sozialismus ein. Sie hingegen versuchen, ihre kapitalistischen und imperialistischen Interessen durchzusetzen. Im Kampf entstehen aber manchmal Phasen, in denen eine taktische Beziehung eingegangen werden muss.
In den revolutionären Phasen können solche taktischen Beziehungen immer wieder vorkommen, was in der Geschichte auch oft zu beobachten ist. Zum Beispiel die Beziehung, die Lenin vor dem Ersten Weltkrieg mit den Deutschen einging, und auch die Beziehung nach dem Ersten Weltkrieg.
Irgendwann aber prallen bei solchen taktischen Bündnissen die verschiedenen Interessen aufeinander. Letztendlich kommen alle wieder zu ihrem Ursprung zurück. Schauen wir uns mal die Zusammenarbeit in Rojava an. Nehmen wir zum Beispiel die USA. Auf der einen Seite haben sie die YPG (Volksverteidigungseinheiten) aus der Luft unterstützt und auf der anderen Seite helfen sie der Türkei, die versucht, die YPG aus dem Feld zu drängen. Wegen der NATO-Partnerschaft oder wegen den Beitrittsverhandlungen mit der EU ist die Türkei von wichtiger Bedeutung. Daraus sehen wir, dass die Beziehung zur Türkei strategischer ist als die zur kurdischen Bewegung.
Ähnlich verhält es sich mit Russland. Auch sie bekämpfen den IS und versuchen die YPG zu nutzen, aber auf der anderen Seite unterstützen sie das Assad Regime.
Sie rufen andere fortschrittliche Kräfte dazu auf, sich dem gemeinsamen Kampf mit Ihnen anzuschließen. Kann man sagen, dass das in Gestalt der HBDH (Revolutionäre Einheitsbewegung der Völker) für die Türkei umgesetzt wurde?
Noch nicht ganz. Das Interesse ist groß, aber die gemeinsamen Erfolge reichen nicht aus. Unsere Appelle gehen an die sozialistischen, demokratischen und revolutionären Gruppen, Menschen und Bewegungen, die für eine bessere Welt, eine würdevolle Welt kämpfen. Eine solche Welt kann nur entstehen, wenn wir den gemeinsamen Kampf anpacken und Verantwortung tragen.
Wenn man jetzt bezüglich der kurdischen Befreiungsbewegung im Nahen Osten und im türkischen Teil Bilanz zieht, lässt sich in Kürze sagen, dass vieles passiert ist und dass Solidarität und ein gemeinsamer Kampf zur Notwendigkeit geworden ist. Davon ausgehend lässt sich die Region zu einem Zentrum der Revolution entwickeln. Andere Erfahrungen, wie die aus dem spanischen Bürgerkrieg oder aus Palästina zeigen, wie ein gemeinsam geführter Kampf verschiedener linker und demokratischer Kräfte aussehen kann.
Es geht nicht darum, dass wir sagen, kommt und baut unseren Sozialismus hier auf, sondern alle, die eine sozialistische Idee haben, sollten mit dieser Idee hier in die Region kommen und zum Aufbau einer revolutionären sozialistischen Revolution beitragen.
Sie führen in der Türkei viele Guerillaaktionen durch. Jedoch wird auch die Repression immer massiver, fast alle oppositionellen Zeitungen wurden mittlerweile verboten. Wie sollen sich Ihre Aktionen verbreiten und was ist das politische Ziel des Guerillakampfes in der Türkei?
Es gab einen Militärputsch, der gescheitert ist, doch die AKP hat in Reaktion darauf selbst de facto eine Putsch-Regierung installiert. Seitdem steckt sie in einem Ausnahmezustand, in dem sie alle staatlichen Möglichkeiten ausschließlich in ihrem eigenen unmittelbaren Interesse einsetzt und immer wieder neue Gesetze verabschiedet, die die Situation für ihre Gegner verschlimmern.
All jene, die die AKP nicht unterstützen oder die kritisch gegenüber der AKP sind, werden verhaftet, eingesperrt oder zur Flucht gezwungen. Hunderttausende Menschen, die in verschiedenen Ämtern tätig waren, wurden entlassen.
Ein Teil der legalen kurdischen Freiheitsbewegung wurde stark kriminalisiert und bekämpft, viele wurden inhaftiert. Ihre Medien, die meisten ihrer BürgermeisterInnen und viele ihrer Abgeordneten wurden inhaftiert. Alles wurde lahmgelegt, damit sich die AKP ungestört durchsetzen kann. Doch das akzeptieren die Menschen nicht und sie werden sich auch weiterhin dagegen wehren.
Es gibt aber auch eine Kraft, eine Bewegung, die außerhalb des staatlichen Zugriffs agiert: das ist die Guerilla. So lange die Guerillabewegung da ist, so lange sie ihren Kampf fortführt, wird Erdoğan mit der Fortführung seiner Regierung Probleme haben.
Die Guerilla ist in der Türkei, in Rojava, Shengal, in den Kandil-Bergen und an vielen anderen Orten aktiv – es ist also eine Vielfalt von Strategien und Praktiken, mit denen Sie arbeiten müssen. Wie sehen die unterschiedlichen Strategien aus?
Ich habe erwähnt, dass wir nicht nur ein Teil des kurdischen Volkes sind, sondern wir sehen die Herausforderungen in der Region als ein Ganzes und betrachten sie als unsere eigenen. Somit hat für uns die Revolution im gesamten Nahen Osten und auf der Welt große Bedeutung. Ohne eine Revolution im Nahen Osten oder auf der Welt ist die Freiheit der Kurdinnen und Kurden nicht garantiert.
Damit die Kurden ihre Freiheiten bekommen, müsste es eine neue Herangehensweise der Völker auf der gesamten Welt bei ihrem Freiheitskampf geben. Dass wir die Freiheiten der Kurden in Syrien, im Irak, im Iran und in der Türkei durchsetzen und dabei auch der Freiheit der anderen Raum bieten, sorgt für neue und andere Perspektiven.
Um diese Perspektive zu stärken, benötigen wir ein einheitliches Auftreten der Kurden. Nicht im Sinne eines Nationalstaates, sondern für gemeinsame Interessen, damit man nicht mehr gegeneinander ausgespielt wird. Das nennen wir nationale Einheit, aber das ist nicht im Sinne eines kurdischen Nationalismus gemeint. Wir bleiben beim demokratischen Sozialismus und bemühen uns, diesen umzusetzen.
Für so einen freiheitlichen Kampf sind wir nicht auf die Hilfe der USA, Europas oder Russlands angewiesen. Ganz im Gegenteil, wir appellieren an alle fortschrittlichen, revolutionären, demokratischen Bewegungen: Lasst uns den gemeinsamen Kampf so führen, dass wir für die Freiheit alle Unterdrückten kämpfen.
Wir sehen einen Wiederklang auf unseren Appell, wenn sich weltweit Menschen aus vielen unterschiedlichen Strukturen der Linken der Revolution in Rojava anschließen. Sie kommen, um mitzukämpfen und mit aufzubauen. Auch wenn es nicht ausreichend ist, ist das eine positive Entwicklung.
Sie haben jetzt über das gemeinsame politische Dach gesprochen. Das andere ist natürlich, wenn man von den Kampfformen ausgeht, dass es in Bakur oder in Rojava aber auch in Shengal jeweils eine andere Strategie braucht in der konkreten Organisierung des Kampfes. Auch die militärischen Kampfformen sind ja in den verschiedenen Gebieten sehr unterschiedlich. Können Sie dazu was sagen?
Wir versuchen, mit unterschiedlichen Methoden ans Ziel zu kommen. Der Irak ist im Allgemeinen ein Feld, auf dem KurdInnen, SchiitInnen und SunnitInnen verschiedene Interessen verfolgen. Es ist noch nicht klar, wie sich das alles entwickeln wird und wie und ob sich das alles im Rahmen einer föderalen Struktur organisieren lässt. Ob sich jetzt die SunnitInnen durchsetzen, oder die Schiiten noch stärker werden und dadurch die KurdInnen wieder verleugnen und unterdrücken, oder ob die KurdInnen einen unabhängigen Status erlangen – all das ist derzeit noch unklar.
Shengal ist eine ganz andere Region und befindet sich in einer speziellen Situation. Sie ist sowohl mit der irakischen Zentralregierung aber auch mit der kurdischen Region in Verbindung und das benötigt einen anderen Umgang. Shengal kann in dieser Situation nicht darauf warten, was auf es zukommt oder was die anderen für Shengal planen. Im Gegenteil: Es muss Raum für die Menschen in Shengal geben, um ihre Selbstverwaltung zu organisieren und ihre Verteidigung und militärischen Strukturen aufzubauen. Nur so kann sich Shengal als eine spezielle Region im heutigen Irak herausbilden. Und natürlich haben die Menschen in Shengal den Anspruch, sich selber zu definieren, dabei bieten wir unsere Unterstützung und Erfahrung an.
Die Situation in Rojava wiederum ist ebenfalls speziell. In Syrien wurden die KurdInnen verleugnet, unterdrückt, ihre Identität wurde nicht akzeptiert. Sie hatten kein Recht auf Eigentum. Hunderttausende wurden nicht einmal als Staatsbürger anerkannt, sondern in ihrem eigenen Land wie Flüchtlinge behandelt. Nordsyrien oder Rojava ist vielfältig, hier leben KurdInnen, AraberInnen, TschetschenInnen, AssyrerInnen, ArmenierInnen und JesidInnen gemeinsam.
Würde man alle aufeinander hetzen, würde es den Interessen des Imperialismus dienen.
Deshalb wurde von Anfang an das Projekt der demokratischen Autonomie vorangetrieben in Form von Kantonen, wo alle ethnischen und religiösen Gruppen sich einbringen konnten. Schlußendlich wurde der Punkt erreicht, an dem ein föderales Syrien vorgeschlagen wurde.
Einer Ihrer Genossen, Duran Kalkan, hat gesagt, die AKP werde im nächsten Jahr durch die PKK gestürzt werden. Wie ist das zu verstehen?
Eines muss man unterstreichen: Alle europäischen Staaten und die USA haben dabei geholfen, dass die AKP an die Regierung kommt und somit auch Erdoğan als Führer dieser Partei unterstützt. Sie brauchten einen Partner, der im Nahen Osten, im islamischen Raum, einen gemäßigten Islam vertreten kann, damit sie ihre Interessen in der gesamten Region durchsetzen können. In den ersten fünf oder zehn Jahren hat man die Pläne der AKP und von Erdoğan nicht wahrgenommen. Erst danach ist er in den Vordergrund getreten und hat seine eigene Ideologie durchgesetzt, die auf der Religion basiert und aus einer faschistischen Art des Regierens besteht.
Die AKP versucht, sich zu inszenieren, als würde sie die Tradition des Islams für den gesamten Nahen Osten repräsentieren. In Ägypten haben sie die Muslimbrüder unterstützt, in Nordafrika und im Nahen Osten haben sie die ganzen radikalislamistischen Gruppen, die Salafisten, unterstützt und organisiert. So haben die Europäer und die Amerikaner ein Monster geschaffen. Der Westen ist durch die AKP gescheitert und die AKP ist wegen ihrer eigenen Politik gescheitert.
Durch diesen Prozess des Scheiterns kann sich die AKP weder mit der Welt verständigen, noch mit dem Nahen Osten, noch mit ihrer eigenen Gesellschaft in der Türkei. Die türkische Gesellschaft ist in einer chaotischen Situation, in der sie keine Perspektive hat – stattdessen herrscht ein Unmaß an Unterdrückung, Verhaftungen und so weiter vor. Die AKP wird nicht so weitermachen können. Der Untergang wird kommen. Auch wir als kurdische Freiheitsbewegung werden es nicht zulassen, dass die AKP sich so in der Türkei und in der Region ausbreitet. So ist das zu verstehen, was Duran Kalkan gesagt hat.
Der militärische Kampf und der politische sind sehr eng miteinander verknüpft. Das Selbstverständnis der YPJ (Frauenverteidigungseinheiten) beispielsweise ist, dass sie als Kampfeinheit der Frauen auch einen gesellschaftlichen Auftrag haben. Sie haben Gruppenstrukturen gebildet, die den Bedürfnissen der Frauen angepasst waren, um nach Lösungen für sie zu suchen…
Ohne die Gesellschaft zu organisieren, kann man auch keinen vernünftigen militärischen Kampf führen. Militärisch kann man große Ziele erreichen, aber das allein garantiert nicht die Freiheit. Wichtig ist auch in den gesellschaftlichen Strukturen die Ziele, die man militärisch verfolgt, wahrzunehmen, um sie weiterhin an die Front zu tragen. Übertragen auf Rojava: Man geht an die Front, kämpft, errichtet neue Stellungen und in diesen Stellungen entwickeln sich für die Gesellschaft neue Freiheitsräume, wo die Gesellschaft dann Verantwortung übernimmt und sich organisiert. Die Dialektik, dass man sich da gegenseitig unterstützt und Verantwortung trägt, ist zentral.
In Qamischlo gibt es Frauen, die den militärischen Zivilschutz übernehmen für ihre Viertel. Das wäre so ein Beispiel oder?
Genau, das ist ein gutes Beispiel. Nicht nur die Frauen sondern auch die Jugendlichen und die unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gruppen haben ihre eigenen Selbstverteidigungseinheiten. Es ist spannend: Man bestimmt militärische Ziele, organisiert dadurch die Gesellschaft und somit wird die Gesellschaft nochmals zu einem Kontrollmechanismus, der mit dem Militärischen wieder in Verbindung steht.
Wir müssen eine Lehre aus der sowjetischen Erfahrung in Russland ziehen. In der Sowjetunion hat sich eine Revolution entwickelt, aber die Verwaltung hat sich zu einer bürokratischen Struktur entwickelt und ihrerseits die Gesellschaft bestimmt. Das hat dazu geführt, dass die Revolution untergegangen ist.
In Rojava zum Beispiel kann die YPG nicht alles bestimmen. Sie kann die Bevölkerung nicht mit ihrer eigenen Perspektive organisieren. Auch keine politische Partei alleine kann sich in diesem Sinne durchsetzen. Überall gibt es Selbstverwaltungen, alle haben ihre eigenen Einheiten. Somit wurde eine Gesellschaft organisiert, die sich gegen jeglichen Unterdrückungsversuch verteidigen kann. Die Beteiligung der Bevölkerung sorgt dafür, dass auch wenn man an der Front gegen den IS verliert, man immer noch eine organisierte Gesellschaft hat, die ihre Zukunft weiterhin in freiheitlich-demokratischer Art und Weise fortsetzen kann.
Für uns ist die Vorstellung eines guten Sozialismus dadurch bestimmt, dass die Bevölkerung selber Verantwortung trägt für das, was sie möchte.
Und was bedeutet das für Europa?
Klar hat das auch für Europa eine Bedeutung. In Europa benötigt man auch eine klare Organisierung, die sich in der Gesellschaft verbreitet. Nach der 68er Revolution gab es ganz viele Bewegungen, die sich in Europa entwickelt haben. Fortschrittliche Bewegungen, die viele unterschiedliche Perspektiven hatten. Ich habe ein Buch von der Roten Armee Fraktion gelesen. Darin stand: „Wir führen hier in Deutschland einen Kampf, aber sind gleichzeitig immer mit den anderen Bewegungen in Solidarität und unterstützen sie. In Deutschland versuchen wir den Löwen ihr Essen wegzunehmen.“
Das ist gut, aber nicht ausreichend. Die angebotene Perspektive sollte größer und breiter sein. Es reicht nicht aus, sich mit Bewegungen zu solidarisieren. Man muss sich da, wo man lebt, selbst organisieren und für ein würdiges Leben kämpfen. Diese Kröte ist schwer zu schlucken. Denn die kapitalistische Moderne, die sich in Europa oder im Westen entwickelt, produziert ebenfalls eine „eurozentristische Weltanschauung“. Es entsteht ein Drang, anderen helfen zu wollen. Durch diese Unterstützung versucht man aber seine eigene Identität zu verstecken.
Das macht derzeit die demokratische linke Bewegung in Europa, statt ihre eigene Revolution voran zu treiben.
Die Perspektive von RevolutionärInnen sollte es aber sein, überall eine Revolution voran zu treiben. Das heißt, die Revolution in Rojava zu entwickeln ist nicht nur unsere Aufgabe, es ist auch eure Aufgabe. Also solltet ihr europaweit AktivistInnen sein in diesem Prozess. Das ist eine gute Definition von marxistischer Revolution. Die Schwierigkeit in Europa ist im Moment das Vakuum, das durch die Krise entstanden ist. Die revolutionäre Linke besitzt derzeit leider keine Initiative, um dieses Vakuum ausfüllen zu können. Das, was sich in Rojava entwickelt, ist nicht einfach eine kurdische Revolution für Kurden. Die Revolution hat eine neue internationale Dimension. Eine Niederlage hätte auch eine Rückwirkung auf den europäischen Prozess.
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