„Produktion ist die Grundlage der Gesellschaft oder, richtiger, sie ist der Kern, das Wesentliche der Gesellschaft; die Ordnung der Produktion ist daher zugleich die Ordnung der Gesellschaft. […] Es versteht sich daher von selbst, dass die in ihren Produktionseinheiten versammelten Arbeiter diese Angelegenheiten besprechen und ihre Abgeordneten wählen.“
Anton Pannekoek: Arbeiterräte, Texte zur sozialen Revolution
Die Fabrik Viomechaniki Metaleftiki (Vio.Me), im Industriegebiet der griechischen Metropole Thessaloniki gelegen, ist ohne Zweifel eines der bekanntesten Beispiele der selbstorganisierten Produktionsübernahme durch Arbeiter*innen. Die Fabrik, die heute u.a. Seifen produziert, wurde vor knapp sechs Jahren in Selbstverwaltung gebracht. Ein ausführlicherer Exkurs zu den Hintergründen der Besetzung der Fabrik wurde bereits 2015 im lower class magazine veröffentlicht. [1]
Im vergangenen Artikel „Mehr Rätedemokratie wagen“, von Peter Schaber und Fatty McDirty, wurde das Rätemodell als politische Inspirationsquelle und als das derzeit am heißesten diskutierte politische Konzept radikal-linker Bewegungen besprochen. Neben der Arbeit im Stadtteil, ist der Kampf um Selbstverwaltung und rätedemokratische Strukturen als ganzes– im Betrieb und im Kiez- eine Kampfansage an den globalen Rechtsruck und der sich im EU-Kontext weiter verschärfenden, kapitalistischen Ausbeutung. Während beispielsweise Griechenland unter dem Spardiktat der sogenannten Quadriga einen Sozialabbaukurs fährt und die neoliberale Elendspolitik den Ausverkauf des Landes an private Kapitalist*innen, durchprügelt, entwickeln sich auch im betrieblichen Rahmen linksradikale Basisansätze.
Zahlreiche Basisgewerkschaften, linksradikale Basisgruppen führender Gewerkschaftsverbände, antikapitalistische Organisationen der außerparlamentarischen Linken: die praktische Solidarität mit besetzten Fabriken und der kollektivierten Produktion und das Lernen aus diesen Ansätzen ist ein möglicher Weg aus der derzeitigen ideologischen Krise der radikalen Linken.
Grund genug, sich nach der vergangenen „Euromediterranean Workers Economy“-Konferenz, die im Oktober 2016 in der Vio.Me-Fabrik stattgefunden hat, nach dem aktuellen Stand der solidarischen Produktionsweise zu erkundigen. [2]
Es ist ein kühler Mittag im Januar, als wir in den kleinen „Empfangsraum“ der Fabrik eintreten und mit Tee begrüßt werden. An den Wänden hängen in verschiedenen Sprachen Poster, Fahnen sowie Zeitungsartikel, die den Kampf der Arbeiter*innen von Vio.Me nachzeichnen. Wir treffen auf Vangelis, der bereits seit Anfang der Fabrikbesetzung bei dem Aufbau der kollektiven Produktion aktiv ist und uns über das Gelände führt. Er zeigt auf die verschiedenen Produktionshallen und betont die Rolle der bereits 2011 gewerkschaftlich organisierten Arbeiter*innen in der Frühphase der Besetzung. Ohne ihr Engagement würde es die Fabrik in dieser Form vielleicht nicht mehr geben. Tag und Nacht wurden die Maschinen von ihnen bewacht, damit diese nicht von den Kapitaleigner*innen abtransportiert werden.
Wir wollen natürlich wissen, wie die kollektive Produktion organisiert ist. Der derzeitige Arbeitstag in der Fabrik dauert 8 Stunden. Die restliche Zeit sind Schichten, die zum Schutz der Produktionsmittel organisiert und abwechselnd solidarisch besetzt werden.
Die Produktion unterliegt dabei keinen hierarchischen Strukturen, sondern wird ganz im Sinne des niederländischen Rätekommunisten Anton Pannekoek in gemeinsamen Entscheidungen strukturiert. Auch wenn der aktuelle Lohn lediglich dem Niveau der offiziellen staatlichen Arbeitslosenunterstützung entspricht, arbeiten die Kolleg*innen vor allem aus politischen Motiven in der Fabrik. Ihr Antrieb ist dabei nicht auf einen Arbeitspathos zurückzuführen. Sie sehen politische Verantwortung, ihren Ansatz der fabriklichen Selbstverwaltung von unten in die Praxis zu führen. Ohne Chef und kapitalistische Ausbeutung.
An jedem Tag findet die Generalversammlung statt, in der aktuelle Anliegen besprochen werden. Die Bezugnahme auf die Umsetzung des demokratischen Konföderalismus, dem u.a.mit der Einbindung einer Sprecherin des „Women‘s Economy Committee of Rojava“ Rechnung getragen wurde, ist dabei nicht nur symbolisch. Analog zum Ansatz des Aufbaus von kommunalistischen Strukturen, wie sie durch Murray Bookchin, Janet Biehl und zuletzt vor allem durch Abdullah Öcalan in radikal-linke Diskurse gebracht wurden, sind die Ansätze in dieser Fabrik der Beginn eines Aufbaus von real existierenden Rätestrukturen in einem bedeutenden Lebensbereich. Was ist revolutionärer, als die kapitalistische Produktionsweise durch eine solidarische zu ersetzen?
Einmal die Woche wird offen zur Solidaritätsvernetzung aufgerufen, die parallel in Athen und in Thessaloniki stattfinden. An diesen können auch externe Unterstützer*innen teilnehmen. Ein wichtiger Punkt ist dabei der Aufbau von internationalen Solidaritätsnetzwerken sowie Vertriebsstrukturen. Neben der Ermöglichung des Konsums solidarisch produzierter Waren, ist es vor allem der Ansatz der Fabrikbesetzung, der praktischen Enteignung der Kapitalist*innen, der damit publik gemacht wird. Sogenannte „soliarische Märkte“ sind in Griechenland seit geraumer Zeit im Aufbauprozess und bedeuten einen direkten Bezug von Produzent*innen und Konsument*innen. Diese sollen wiederum aktiver in die politischen Prozesse der Unterstützung solidarischer Produktion einbezogen werden. In Griechenland sind diese Märkte illegal, da der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ (Engels) ein Interesse hat, auch hier Steuern einzutreiben und die Einhaltung kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Bedingungen zugunsten der großen Unternehmen (vor allem von Lebensmittel-Ketten) zu gewährleisten. So wurde der letzte „solidarische Markt“, welcher wie alle zwei Monate auf dem Gelände von Vio.Me stattfinden sollte, von einem größeren Polizeiaufgebot blockiert. Alle Zufahrtsstraßen wurden von Polizeieinheiten gesperrt und die Produzent*innen daran gehindert, ihre Waren verkaufen zu können.
Trotz der latenten Gefahr der polizeilichen Repressionen wird das Konzept diser Märkte immer populärer. In zahlreichen Städten des Landes finden diese Zusammenkünfte inzwischen regelmäßig statt. [3] Seit relativ kurzer Zeit ist auch ein Geschäft in Athen aufgebaut worden, welches von einer Handvoll Leuten betreut wird und den Gedanken der Selbstverwaltung in Rätestrukturen auch dort weiter befeuern soll. Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch der internationale Austausch mit anderen kämpfenden Genoss*innen in Fabriken, bis in Übersee wie den USA, Kanada und Mexiko. Für die EU nennt Vangelis dabei die Freie Arbeiter*innen Union (FAU) sowie die CGT in Frankreich als wichtige Kooperationspartner*innen.
In aktuellen Debatten um die intersektionelle Verknüpfung der Teilbereichskämpfe (Stichwort „Kämpfe zusammenführen“), leistet das Kollektiv von Vio.Me vorbildliches. In einer größeren Lagerhalle werden kontinuierlich Kleiderspenden für Geflüchtete gesammelt. Ein eigens reservierter Bereich für lokalen „Refugee Support“ bietet Raum für Treffen und Spendensammlungen. Dieser nimmt für die gesamte Stadt und die umliegende Region eine wichtige Versorgungsrolle ein.
Zudem wurde eine „Worker’s Clinic“ eingerichtet, die an zwei Tagen in der Woche geöffnet hat und von Ärzt*innen ehrenamtlich betreut wird. Vangelis stellt uns die medizinischen Geräte vor, die in der Vergangenheit gespendet wurden. Diese erfüllen eine wichtige Funktion: aufgrund der massiven Kürzungen im Gesundheitssektor durch die herrschende Syriza-Regerung, sind viele Menschen aus den staatlichen Wohlfahrtssystemen praktisch herausgefallen.
Weder illegalisierte Geflüchtete noch viele zu Armutslöhnen arbeitende Griech*innen bekommen eine adäquate Gesundheitsversorgung zur Verfügung gestellt. In der Worker’s Clinic geht es dabei nicht nur um die „bloße“ Behandlung von physischem Leid, sondern vielmehr um die Artikulation der sozialen Zustände, die krank machen und tödlich enden können.
Leider besteht auch vor dem Kontext der solidarischen Produktionsprozesse ein bitterer Beigeschmack. Eine Ökonomie, ein Austausch von Waren nach Bedürfnissen, produziert unter nicht-kapitalistischen Bedingungen, konnte aktuell noch nicht weitflächig realisiert werden. Weder im nationalen noch im globalen Rahmen. Doch ist das Beispiel Vio.Me nicht das einzige, das Mut und Kraft gibt. In Südfrankreich konnten sich die Arbeiter*innen der ehemaligen Teefabrik des Großunternehmens Unilever nach 1336 Streiktagen erfolgreich durchsetzen, Produktionsmittel sichern und bis heute selbstorganisiert produzieren. [4] Dabei ist es vor allem die kapitalistische Konkurrenzgesellschaft, die kollektiv und solidarisch produzierten Waren kaum Raum lassen. Derzeit sind es vor allem soziale Zentren und Solidaritätsnetzwerke, die beispielsweise Vio.Me-Produkte abnehmen und weiterverteilen.
Auf die Frage nach der eigenen finanziellen Situation reagiert der Genosse entspannt. Er bezeichnet sie als stabil, trotz der allgemeinen Gefahr durch die „griechische“ Krise, die eine allgemein kapitalistische ist und durch die brutale Durchsetzung neoliberaler Verwertungsinteressen verschiedener Kapitalfraktionen gezeichnet ist.
Da die gesamtpolitische Lage im Land, trotz des vielfachen Versagens der Regierung, unter einer explizit konservativen Regierung (Partei Nea Demokratia) wohl noch schlimmer sein könnte, strebt das Kollektiv zukünftig ihre Legalisierung an. Während die Maschinen legal sind, da sie ihnen überlassen wurden, gilt das Gelände als potentiell räumungsbedroht. Ende des letzten Jahres konnte dank des politischen Drucks von hunderten solidarischen Genoss*innen aus Initiativen und Basisgewerkschaften die Zwangsversteigerung durch ein Gericht verhindert werden. Eine*n Käufer*in konnte nicht gewonnen werden. Vio.Me bleibt somit Risikokapital.
Für die Diskussion und die Realisierung einer linken, antikapitalistischen Perspektive, ist es ein konkreter Ansatz, der uns eine Vorstellung davon gibt, wie eine Produktion aussehen kann, die nicht den kapitalistischen Verwertungslogiken folgt. Dabei kann entlang der Bedürfnisbefriedigung jenseits „traditioneller“ Fabrikarbeit auch jener sich immer weiter ausdifferenzierende Dienstleistungssektor mit seinen entfremdeten und individualisiert erscheinden Ausbeutungsverhältnissen einbezogen werden. Die erfolgreichen Kämpfe bei Foodora in London und im vergangenen November in Turin, sind Ausdruck einer, wenn auch kurzlebigen, kollektiven Solidarität. [5]
Die Verknüpfung zum agrarwirtschaftlichen Sektor mit seinen Widerstandspotentialen wird in den kommenden zwei Artikeln thematisiert.
Neben der betrieblichen Organisierung in der hiesigen Arbeitssphäre, können wir natürlich die Genoss*innen von Vio.Me unterstützen. Solidaritätsstrukturen existieren auch hierzulande, die Produkte in den größeren Städten vertreiben. [6]
Begreifen wir die Kämpfe nicht als solche, die in weiter Ferne stattfinden, sondern als Spiegelbild der Perspektive sozialer Kämpfe weltweit. Richten wir den Blick auf unsere eigenen Arbeitsverhältnisse (dazu zäht auch der zugeschriebene Status „erwerbslos“) und führen gemeinsam die politischen Kämpfe. Ein revolutionärer Kampf ohne betriebliche Kämpfe bleibt ein nicht auflösbarer Widerspruch.
Von Felix Protestcu
weitere Informationen des Vio.Me-Kollektivs in diversen Sprachen:
https://www.viome.org/
[1] Solidarität mit Vio.Me:
https://lowerclassmag.com/2015/12/solidaritaet-mit-vio-me/
[2] Selbstverwaltung und Würde:
https://lowerclassmag.com/2016/10/workers-economy-in-thessaloniki-i-selbstverwaltung-und-wuerde/
[3] zwei weitere Artikel zu solidarischen agrarwirtschaftlichen Ansätzen, am Beispiel von Kreta, folgen in den kommenden zwei Wochen beim lower class magazine
[4] Fralib: Teebeutel- selbstverwaltet:
[5] Foodora-Auslieferungsfahrer im Streik: Die Bewegung nun auch in Italien:
Foodora-Auslieferungsfahrer im Streik: Die Bewegung nun auch in Italien
[6] Vio.Me-Vertriebsstellen in D:
https://www.viome.org/p/deutsch.html
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