Nach dem US-Präsidenten und der Europäischen Union bekommt nun ein weiterer Kriegstreiber seinen Friedensnobelpreis. Der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos nahm die Auszeichnung am Samstag in Oslo feierlich entgegen. Dass in Kolumbien die Opfer staatlicher Gewalt nicht erwähnt und im schlimmsten Fall einzelne für immer zum Schweigen gebracht werden, ist grausam, aber keine Neuigkeit. Organisationen wie die Bewegung der Opfer staatlicher Gewalt (Movice) weisen seit Jahrzehnten darauf hin, dass rund 80 Prozent aller Grausamkeiten im bewaffneten Konflikt staatlichen und paramilitärischen Einheiten zuzuschreiben sind, und ernten Morddrohungen und Repression. Dass nun selbst in Oslo dieser Gewalttätigkeit eine Bühne geboten und sogar mit einem Preis ausgezeichnet wird, sollte nicht nur Beobachter*innen der medialen Berichterstattung in Aufregung versetzen.
Weder in Oslo noch in Kolumbien regt sich laute öffentliche Kritik. Die Vorsitzende der linken kolumbianische Partei Union Patriótica (UP) findet die einzig richtigen Worte: „Der Präsident Kolumbiens Juan Manuel Santos hat in der Ansprache zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises die Opfer staatlicher Gewalt vollkommen unsichtbar gemacht. Nicht ein Wort zu den tausenden von den Kolumbianischen Streitkräften ermordeten jungen Männern als ‚falsos positivos‘, kein Wort zu der vollkommenen Vernichtung der UP, nichts über die zahllosen grausamen Verbrechen. Dies zu ignorieren bedeutet, die Geschichte unseres Landes zu verfälschen.“
Santos selbst war als Verteidigungsminister bis 2009 unter dem ultrarechten Ex-Präsidenten Álvaro Uribe als Befürworter der harten Hand und Null-Toleranz-Politik bekannt. Er ist verantwortlich für mindestens 3.000 Morde an Jugendlichen unter Vortäuschung der Guerillamitgliedschaft, um gegenüber den USA als Geldgeber im Anti-Drogenkrieg Erfolge nachzuweisen. Diese Jugendlichen wurden zumeist aus marginalisierten Vierteln
entführt, ermordet und in Guerillauniformen gesteckt. Die Fotos wurden als Beweise für Kriegserfolge publiziert. Die UP ist eine in den 1980ern von demobilisierten Guerilla-Kämpfer*innen gegründete Partei – in nur wenigen Tagen wurden in einem Genozid im Jahre 1986 bis zu 4.000 ihrer Mitglieder ermordet.
Auch die Kommunistischen Partei Kolumbiens (PCC) kritisiert: Bis heute geht das grausame Morden vor allem seitens des Staates weiter: Ausgeführt von paramilitärischen Freischärgen und ultrarechten Mordkommandos unter Mitwissen oder sogar auf Befehl staatlicher Instanzen. Alleine in der Region um Buenaventura werden zu Hochzeiten 20 Morde an Aktivist*innen am Tag verübt. Seit Unterzeichnung des Abkommens zwischen Farc und Regierung im August 2016 ist es zu einer Verschärfung des sozialen Konfliktes gekommen. Die Zahl, über 50 ermordeten Aktivist*innen allein seit der Unterzeichnung, vor allem von Organisationen für Menschenrechte und Umweltschutz, belegt diese Behauptung. Die Zahlen sind dem Nationalen Erinnerungszentrum (CNMH) entnommen und selbstredend keine offiziellen Angaben, denn der Staat und die Regierung unter Santos führen keine offiziellen Statistiken. Santos selbst streitet die Existenz von Paramilitärs ab. Vor diesem Hintergrund erscheinen solche Inszenierungen wie die messeähnliche Zeremonie der Unterschrift des Abkommens in Cartagena lediglich als spektakuläre Versuche der Verschleierung.
Die Leugnung der Opfer staatlicher Gewalt seitens Santos‘ ist nicht nur Geschichtsrevisionismus, sondern hat weitere Straftaten zur Konsequenz. Denn die Nichtanerkennung begünstigt die Straffreiheit, und diese fast hundertprozentige Straffreiheit in Fällen von Morden an linken Aktivist*innen motiviert rechte Mordkommandos zu weiteren Straftaten. Vom Ausbleiben der Entschädigung bis hin zu direkter Bedrohung und selektiven Morden in den Fällen, in denen sich diese Opfer gegen Ungerechtigkeit wehren, bleibt der Linken in Kolumbien trotz Friedensabkommen nichts erspart. Der bewaffnete Konflikt war von seinen Anfängen an zur strategischen Eliminierung der Linken geplant und durchgeführt. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt die PCC die Ergreifung der Waffen durch aufständische Gruppen wie die Farc als „Selbstverteidigung und Verteidigung der demokratischen Grundrechte“.
Der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos hat die Opfer seiner eigenen Politik noch nie gewürdigt, geschweige denn als Opfer anerkannt. Stattdessen sagte er am Tag der Verleihung: „Kolumbien hat das Unmögliche möglich gemacht und den Krieg beendet“. Dies zu zitieren als „wegweisend für andere Kriegsregionen“ ist, gelinde gesagt, menschenverachtend. Wenn dieser Präsident irgendeine Form von internationaler Öffentlichkeit verdient, dann vom Internationalen Menschenrechtsgerichtshof.
In einem ersten Vorschlag sollte der Preis an die Verhandlungsgruppe gehen, dazu hätten auch der Vertreter der Farc in Havanna, Rodrigo Londoño Echeverry alias Timochenko, sowie Vertreter*innen der Opfer gezählt. Jedoch entschied sich das Nobelpreiskomitee für die Auszeichnung von Santos. Der hatte sofort nach Bekanntwerden der Entscheidung bekanntgegeben, das Preisgeld zur Entschädigung der Opfer spenden zu wollen. Von denen waren in Oslo genau fünf Vertreter anwesend. Warum so wenig offene Kritik seitens der kolumbianischen, emanzipatorischen Bewegungen? Vielleicht aus Angst, vielleicht aus Strategie, weil viele Bewegungen im Moment politische Mitsprache fordern. Grund zur Angst gibt es ebenfalls genug: Während nun die Entwaffnung der Farc beginnt, sind eine Erhöhung des Militärhaushaltes und ein neues Polizeigesetz verabschiedet worden, das Hausdurchsuchungen ohne richterlichen Beschluss und willkürliches Eindringen von Militär und Polizei in private Räume legalisiert. Der frisch gekürte Friedensnobelpreisträger stärkt somit die Rechte derer, die für die systematische Verfolgung und Repression gegen die linke Opposition verantwortlich sind.
Von Cristina Roher