Über die EZLN, linke Eitelkeiten und die kapitalistische Gewalt.
Politische Kämpfe werden nicht dadurch gewonnen, dass alter Wein in neue Schläuche gefüllt, sondern indem erfrischender Pozol aus selbst gemachten Jícaras getrunken wird. Diejenigen Kämpfe, die darüber hinaus einen umfassenden Transformationsprozess anzustoßen versuchen, verlaufen zumeist in ungleichen Konfliktlinien. Die darin abverlangte Notwendigkeit der permanenten Selbsterfindung, ohne dabei eigene Prinzipien über den Haufen zu werfen und dennoch gleichzeitig für ein Überraschungsmoment zu sorgen, gelingt den wenigsten politischen Organisationen derart effektiv wie der Zapatistischen Armee der Nationalen Befreiung (EZLN).
Das gilt auch für den von ihnen ausgearbeiteten Vorschlag, der Mitte Oktober während des fünften Treffens des Nationalen Indigenen Kongresses (CNI) in der südmexikanischen Kolonialstadt San Cristóbal de las Casas mehreren hundert indigenen Delegiert*innen vorgestellt wurde. Zeitgleich war die Idee Auslöser für eine Welle selbstherrlicher Reaktionen aus dem mexikanischen Polit-Establishment. Sie kamen hauptsächlich aus den Reihen der institutionalisierten Partei-Linken, ihren Anhänger*innen und Teilen der sich an ihnen orientierenden (Massen-)Medien.
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Der Vorschlag ist für sich genommen ziemlich simpel: den 360 Delegiert*innen aus 32 ursprünglichen Völkern, Nationen und Stämmen wurde unterbreitet, ihre Basen zwecks der Ernennung einer eigenen indigenen Kandidatin für die kommenden mexikoweiten Präsidentschaftswahlen 2018 zu befragen. Diese Kandidatin würde aus den Reihen des CNI und keineswegs aus der zapatistischen Struktur kommen.
Sie soll Sprachrohr eines extra dafür gebildeten Indigenen Regierungsrates sein, der sich aus je einer Frau und je einem Mann aus jedem Volk, jeder Nation, jedem Stamm zusammensetzt und den CNI und die EZLN bei den Wahlen repräsentieren soll. In dem gemeinsamen Kommuniqué ‚Damit die Erde in ihren Zentren erbebe‚ heißt es außerdem unmissverständlich – so als hätten sie die späteren Reaktionen erahnt – „dass unser Kampf kein Kampf um die Macht ist“ und sie im Laufe ihrer Erfahrung außerdem gelernt haben, die politischen Parteien links liegen zu lassen, da diese nur „Tod, Korruption und den Kauf von Würde generiert haben.“ Zum Jahresende soll sich erneut getroffen, die Ergebnisse der Befragungen gesichtet und eine endgültige bindende Entscheidung getroffen werden.
Nun gibt es in Mexiko nicht nur soziale Organisierungen und Bewegungen, die in den unteren gesellschaftlichen Klassen und ausgeschlossenen sozialen Sektoren ihren Ursprung haben und dort ihr politisches Projekt verorten, sondern traditionellerweise ebenso linke Massenparteien. Um die aktuellsten Reaktionen zu verstehen, muss ein wenig ausgeholt werden.
Nachdem die Ende der 1980er Jahre gegründete oppositionelle Partei der Demokratischen Revolution (PRD) in den letzten Jahren Stück für Stück ihres progressiven Inhalts entleert und integraler Bestandteil des restlichen Establishments wurde – was so viel heißt wie: Korruption, politische Repression und Verstrickung mit dem Organisierten Verbrechen – gründete sich 2014 eine neue linke Partei, die Bewegung der Nationalen Regenerierung (MORENA). Ihr derzeitiger Präsidentschaftskandidat, Andrés Manuel López Obrador, kurz Amlo, war bereits 2006 und 2012 Kandidat für das höchste Staatsamt. Für die PRD. Und verlor. Die Niederlagen verliefen jedoch nicht ganz koscher; und so wird gemeinhin davon ausgegangen, dass in beiden Fällen Wahlbetrug stattfand. Offizielle Prognosen lassen aktuell verlauten, dass Amlo für 2018 ganz gute Chancen hat, das Rennen für sich zu entscheiden. Ähnlich wie vor einem Jahrzehnt. Dabei stört dann nur die wenigsten, dass es seit den Wahlen von 1994 seitens der PRD erst zwei unterschiedliche Spitzenkandidaten für das Präsidentschaftsamt gab: Cuauhtémoc Cárdenas und er, López Obrador.
Brisantes Detail zur Wahlniederlage im Jahr 2006: die EZLN hatte einige Monate zuvor die ‚Andere Kampagne‘ ausgerufen gehabt, um landesweit politische Organisierungs- und Mobilisierungsprozesse fernab von Parteien und des Wahlspektakels, welches alle sechs Jahre seinen Lauf nimmt, anzustoßen. Einen Aufruf zum Wahlboykott seitens der Zapatistas gab es nicht. Gab es genau genommen auch noch nie – obwohl das gerne anders gesehen und vor allem dargestellt wird. Vielmehr lautete die damalige Parole: ‚Wählt oder wählt nicht. Was zählt ist, dass ihr euch organisiert!‘ Zur Zielscheibe wurde Amlo dennoch, ebenso wie die anderen beiden Präsidentschaftskandidaten. In verschiedenen Gelegenheiten kritisierte ihn der damalige EZLN-Sprecher Subcomandante Insurgente Marcos scharf und deutete darauf hin, dass der PRD-Politiker keineswegs ein linker Messias sei, so wie er von vielen Seiten hochstilisiert wurde. Hintergrund der Kritiken war sicherlich das auch Wissen darum, dass eine (linke) Sozialdemokratie letztlich besser das neoliberale Projekt umsetzen und widerständigen Strukturen die Luft nehmen kann, als es einer offenen rechten repressiven Regierung möglich ist. Die Auseinandersetzung besiegelte den Bruch zwischen einer Vielzahl linker Intellektueller und dem wichtigsten linken Massenmedium sowie eine der größten mexikanischen Tageszeitungen, La Jornada, mit der EZLN. Sie sahen in Marcos plötzlich einen Verräter, einen Spalter, jemand, der die zapatistischen Gemeinden in das politische Abseits dränge und verantwortlich sei für die Misere im Land. Sie hegten Groll.
Heute sind es fast die gleichen Stimmen wie damals, die nach dem aktuellsten Vorschlag der EZLN wieder laut wurden und die gleichen Töne wie ehedem anschlagen. ‚Warum ausgerechnet jetzt, da MORENA die Chance hat zu gewinnen?‘, fragen sie klagend. ‚Die EZLN und der CNI sollen mit MORENA zusammen arbeiten‘, meinen sie ungeachtet jeglicher politischer Erfahrung und Analysen der letzten Jahre. Andere, wiederum, glauben zu wissen, dass mit dem Vorschlag, die zapatistischen Prinzipien verraten worden sind und sich fortan – so wie es die klassische Politik vorschreibt – an der Ergreifung der Staatsmacht orientiert wird. Eine Woche nach Bekanntgeben des Vorschlags und einem medialen Shitstorm in den sozialen Netzwerken, veröffentlichte die EZLN eine zynisch-bissige Antwort gegenüber den Reaktionen und stellte trocken dazu fest: „Der Chicharito spielt nicht bei Barcelona und der Messi nicht bei den Jaguares de Chiapas.“
Sie, das sind die Meinungsmachende; verantwortlich für eine wie auch immer geartete oppositionelle Gegenöffentlichkeit. Sie schreiben für La Jornada und einige alternative, aber viel gelesene Medien. Sie stehen MORENA nahe und Amlo noch viel näher. Und die Art und Weise wie sie auf die Möglichkeit einer unabhängigen indigenen Präsidentschaftskandidatin reagieren – in einem Land, in dem Feminizide tagtäglich ungestraft passieren; in einem Staat, in dem der indigene Bevölkerungsteil auch zwei Jahrhunderte nach der Unabhängigkeit systematisch ausgeschlossen und paternalistisch behandelt wird; in einem institutionellen Koordinatensystem, in dem jüngst besagter linker Präsidentschaftskandidat allen korrupten und korrumpierten Politiker*innen Amnestie angeboten hat, sollte seine Partei gewinnen – gibt Zeugnis über ein allseits verbreitetes (linkes und vermeintlich aufgeklärtes) Verhalten ab: hysterische Eitelkeit sowie Beißreflexe vor jemandem Unbekannten, der einem vermeintlich den Platz der Opposition streitig machen könnte.
Trauriger Höhepunkt des Ganzen: jenes Verhalten hat es unmöglich gemacht, den Groll von damals beiseite zu legen und mit klaren Blickes auf die Dinge zu schauen. Oder, um es mit den Worten des verstorbenen Subcomandante Insurgente Marcos zu sagen: „Und wer nicht versteht, der richtet, und wer richtet, der verurteilt.“ [1] Eine Umgangssweise, die darauf aus ist, die politische Opposition vereinheitlichen, monopolisieren und sie anführen zu wollen – denn nur so wird es einem verständlich, dass allein die Möglichkeit einer oppositionellen indigenen Gegenkandidatin Grund genug für allerlei aggressives Unverständnis ist. Denn, wie bereits weiter oben festgestellt: der Vorschlag ist für sich genommen ziemlich simpel.
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Der jüngste Schachzug der EZLN ist Ausdruck der Fähigkeit, Gegebenheiten des mexikanischen Kontextes, Auswirkungen des neoliberalen globalen Kapitalismus und die Herausforderungen einer anderen Politik, zusammen zu denken und davon ausgehend einen Vorschlag zu äußern, der seinen Ursprung im Kollektiv hat und kollektive Handlungsmöglichkeiten anbietet. Die Tiefe und Ausmaße seiner politischen Bedeutung lassen sich unter mindestens drei Punkte fassen.
Die Spiegel und das System. Bevor im Kommuniqué ‚Damit die Erde in ihren Zentren erbebe‘ besagter Vorschlag artikuliert wird, werden 27 Szenarien gewaltsamer Vertreibung im Zuge vom Bau neuer Infrastrukturprojekten, Plänen grüner Energiegewinnung, Abbau natürlicher Ressourcen etc. aufgelistet. Alle diese Fälle passieren im ländlichen Raum. Allesamt auf indigenem Territorium. Und es sind lediglich die Beispiele, die innerhalb der Strukturen des CNI bezeugt werden können. Je nach Statistik sind in Mexiko derzeit zwischen ein Fünftel und einem Viertel des nationalen Raums durch Konzessionen an in- und (hauptsächlich) ausländische Bergbauunternehmen vergeben. Ob fordistische oder post-fordistische Produktionsweise, ob Wohlfahrts- oder Wettbewerbsstaat, ob Bio-Kapitalismus oder post-humaner Kapitalismus, die kapitalistische Maschinerie braucht natürliche Rohstoffe zum Produzieren, Zirkulieren, Konsumieren. Und da der Strom nicht einfach aus der Steckdose kommt, so sind auch Ressourcenvorkommen nicht im luftleeren Raum vorzufinden. Ein halbes Jahrtausend nach der spanischen Eroberung hat sich für einen Großteil der indigenen Gruppen in Mexiko wenig geändert: ihr Zuhause ist weiterhin Zielscheibe des Systems.
Es war Anfang August vor zwei Jahren, als sich die zapatistischen Gemeinden mit den Delegiert*innen des CNI erstmals auf zapatistischem Gebiet trafen. 1300 Vertreter*innen der EZLN tauschten sich tagelang mit den 312 Angereisten des CNI aus. Zum Abschluss des Treffens wurde eine gemeinsames Erklärung veröffentlicht, in der zum ersten Mal 29 Fälle bzw. Szenerien der Vertreibung und Enteignung genannt und als ‚Spiegel‘ umschrieben werden. Spiegel, in denen sich jede Einzelne wieder findet; Spiegel, in denen sich ein jeder sich im Anderen wiederkennt. Dadurch wird nicht nur eine identitätsstiftendes Metapher verwendet, sondern zugleich die Basis für eine kollektive Ausgangssituation geschaffen.
Die wiederholte Nennung der Spiegel erfolgt auch mit dem Hintergrund, dass durch die staatlichen Institutionen (Behörden, Parteien) oder internationalen Rechtsnormen (Artikel 169 der ILO; UN-Erklärung zu den Rechten der Indigenen Völkern) keine Verbesserungen erzielt werden konnten. Dass die vom Establishment angebotenen (legalen) Wege – zwischen Parteimitgliedschaft bis hin zu Straßenblockaden – erschöpft sind. So schrieb die Gruppe GIAP, die sich der Sexta [2] zugehörig fühlt, wenige Tage nach Bekanntwerden des Vorschlags: „Die Macht des Staates ist korrupt und korrumpierend. In der jetzigen Konjunktur hat sich der Staat auf einen Apparat zur Konsolidierung der Hegemonie und Hyper-Mächtigkeit des Neoliberalismus, also des Kapitalismus unserer Zeit, reduziert. Damit wird mit neuen Strategien das gleiche Ziel wie immer verfolgt: die uneingeschränkte Akkumulation mittels Vertreibung, Ausbeutung und Spekulation. Die Regierungen der Staaten haben sich in das verwandelt, was Marx vor mehr als einem Jahrhundert erkannt hatte: in eine Junta, die die gemeinen Geschäfte der bürgerlichen Klasse verwaltet.“ Die darin enthaltenen Feststellungen führen zum zweiten Punkt.
Politik und Ethik. Zweifellos, die Möglichkeit einer Kandidatur ist überraschend. Sie ist jedoch keine 180 Grad Wendung. Es ist keine Seltenheit, dass vor lauter taktischen Überlegungen über die Frage wie eine hegemoniale Machtverschiebung zustande kommen könnte, die Kritik an der Realität mitsamt der Utopie, die einen nicht stehen bleiben lässt, baldigst hinter sich gelassen werden. Je näher man sich den staatlichen Politik-Apparaten nähert wird, desto schwammiger wird der eigene Blick. Die EZLN hat es nicht nur geschafft, sich in den letzten zwei Jahrzehnten davon nicht korrumpieren zu lassen (wovon die Radikalität ihres Diskurses genauso wie die Autonomie ihrer Bezirke zeugen), sondern ist zudem dazu fähig, eine reale Alternative zu artikulieren, die sich nicht in der aufgepfropften Entweder-Oder-Logik (Pepsi oder Coke, Trump oder Hillary) bewegt. Wenn die Lehre aus der Syriza-Erfahrung diejenige ist, dass internationale Kreditinstitute sowie supranationale politische Strukturen mitsamt dem Druck einer dominanten ausländischen Regierung das kurzweilig offene Fenster eines gesellschaftlichen Aufbruchs binnen weniger Monate wieder schließen kann; wenn die Lehre aus dem aktuellen Venezuela diejenige ist, dass interne korrupte Parteistrukturen, die eigene politische Unfähigkeit Maduros sowie eine aggressive Destabilisierungspolitik seitens internationalen und heimischen Akteuren die emanzipatorischen Fortschritte der letzten 15 Jahre Stück für Stück zerlegen; wenn die Lehre aus der Regierungsbeteiligung der Grünen in Deutschland diejenige ist, das eine aufstrebende Partei zunehmend von anti-linken Kräften unterwandert und danach übernommen wird und schlussendlich die minutiöse Entleerung ihres ursprünglichen progressiven Inhalts betreibt: dann lässt sich der Gang der Geschichte nicht einfach dadurch verändern, indem seine Protagonist*innen ausgetauscht werden. Die Krux liegt an den Dynamiken und Grenzen des Möglichen innerhalb des Systems; oder, wie jemand kürzlich in Mexiko-Stadt sagte: der Kapitalismus ruft nicht nur eine Fetischisierung der ökonomischen Verhältnisse hervor, sondern ebenso eine Fetischisierung der Politik.
Die Zapatistas gelten gemeinhin als Referenz dafür, dass sie zu unterscheiden wissen, wann politische und wann militärische Mittel ergriffen werden müssen. Als am 2. Mai 2014 ein paramilitärischer Angriff auf ihre Strukturen stattfand wäre es ein leichtes gewesen, vernichtend mit Gegengewalt zu antworten. Stattdessen wurde auf eine politische Antwort gesetzt. Beispiele dieser Art ziehen sich durch die letzten 22 Jahre, seitdem die EZLN die Bühne der Öffentlichkeit betreten hat. Mehr als einmal wurde intern diskutiert, wieder zu den Waffen zu greifen. Dass dem nicht so war ist nicht nur Resultat strategischer Schlüsse, sondern auch einer politischen Ethik, die, ungleich zu anderen bewaffneten Gruppen oder Bewegungen, den Kult um den Tod hinter sich gelassen hat. In der das Leben im Vordergrund steht und die Fragen darum, wie aus der Misere und Verzweiflung entkommen werden kann, ohne dass sich kommende Generationen mit der gleichen Ausgangssituation konfrontiert sehen müssen. Wer nur noch militärisch handelt, denkt schlussendlich nur noch in militärischen Kategorien und vergisst den Beweggrund seiner Handlung: die Notwendigkeit des Aufbaus neuer, bzw. im zapatistischen Jargon autonomer Strukturen. Die EZLN hat es geschafft, ihre eigene Berufung zu überwinden: Guerrillerxs, die statt auf Kugeln auf das Wort setzen; statt neue militärische Offensiven, wird der Ausbau des autonomen Gesundheits-, Justiz- und Bildungssystems vorangetrieben.
Das Unvorhersehbare der gegenwärtigen mexikanischen Situation. Mehr als 50 Millionen Menschen, die offiziell als ökonomisch arm eingestuft sind. Tendenz steigend. Mehr als 160 000 Tote und an die 30 000 offiziell anerkannte gewaltsam verschwunden gelassene Mexikaner*innen seit Dezember 2006. Jährlich über 20 000 verschwundene aus Mittelamerika kommende Migrant*innen; mehrere Feminizide pro Tag. Zukunftsperspektiven für den Großteil junger Generationen: informelle und prekäre Jobs, Auswandern in die USA, oder Teil der lokalen organisierten Kriminalität werden.
Luis López, aus Mexiko-Stadt und Aktivist bei einem Anti-Repressionsnetzwerk, welches der EZLN nahe steht, sagt im Interview mit LCM über den aktuellen Gewaltkontext: „All das lässt das soziale Gefüge zerbrechen. Die Gewalt drück sich nicht ausschließlich auf politischer, sondern auf sozialer Ebene aus: die Nachbarin, die keine Nachbarin mehr ist, sondern eine potentielle Kriminelle. Großes Misstrauen und Angst entstehen um uns herum.“ Es ist ein Pulverfass, was sich da in Mexiko zusammenbraut. Allein im Bezirk von Tancítaro, gelegen im westlichen Bundesstaat Michoacán und Ort einer popularen Erhebung Ende 2013 gegen das organisierte Verbrechen, besitzen die Menschen 17 000 registrierte Waffen, die an sich genommen eigentlich ausschließlich für die Armee bestimmt sind. Es sind hochkalibrige Waffen. In Tancítaro wohnen nicht mehr als 35 000 Menschen. Derjenige, der die Zahlen gegenüber dem LCM nennt, ist Teil der lokalen Selbstverteidigungseinheiten. Er lacht. Denn zu den 17 000 müssten eigentlich noch all diejenigen Waffen gezählt werden, die entweder nicht registriert wurden oder von kleineren Kalibern sind. Wer glaubt, dass populare Erhebungen frei jeglicher Schuld sind, der irrt. In manchen Gewaltkontexten, die weder Maß noch Gnade kennen, verschwimmen oftmals die Linien. Bis zu einem gewissen Grad wirst du selbst grausam.
Auch in dieser Hinsicht muss die Idee der EZLN verstanden werden; als räumliche Alternative zur herrschenden Realität „wo es Freiheit gibt, Ihre Freiheit; wo Sie auf die Straße oder aufs Feld gehen können, ohne Angst zu haben, entführt, verschwunden gelassen, vergewaltigt, ermordet zu werden; wo die Regierung nicht angefüllt ist mit Kriminellen und die Gefängnisse nicht voll von Unschuldigen“, wie es Subcomandante Insurgente Moisés jüngst in einem Kommuniqué darlegte.
Und angesichts einer Realität, die für die kommenden Jahre nichts Gutes für Mexiko parat haben: der Vorschlag scheint sich in der Logik der mexikanischen staatlichen Institutionen zu bewegen, benutzt diese jedoch letztlich nur. Es dreht sich keineswegs um die Wahlen und ihrer zeitlichen Beschränkung der politischen Aktivitäten, sie sind Anlass und Bühne, nie aber Grund und Ziel. Es ist vielmehr der erneute Versuch, einen landesweiten Organisierungsprozess von unten anzustoßen, welcher dazu fähig ist, einen gesellschaftlichen Transformationsprozess zu initiieren.
Als bei besagten Zusammenkommen im August vor zwei Jahren am letzten Tag alternativen Medien und Anhänger*innen der Sexta der Zugang gewährt wurde, konnte ein kleiner Ausdruck zapatistischer Politik erlebt werden: Teile der Generalkommandatur kamen auf Pferden angeritten, ritten Richtung Bühne und verschwanden dahinter; zeitgleich erfolgte ein aufgeregtes Hin und Her zwischen den freien Medien, Fotos wurden geschossen und sich schließlich wieder vor der Bühne versammelt. Von ihren Blicken unbemerkt tauchten 40 Meter auf der gegenüberliegenden Seite einige Sekunden darauf Subcomandante Insurgente Galeano, Subcomandante Insurgente Moisés sowie Comandante Tacho auf, nahmen an einem Tisch Platz und schauten dem Treiben belustigt zu. Galeano ergriff das Wort, doch es dauert noch zwei, drei Minuten bis die Medienschaffenden bemerkten, dass sie den Zapatistas auf den Leim gegangen sind. Eiligst passierten sie die Diagonale der Milizionäre und versuchten sich erneut zu positionieren. „Das, was ihr gerade vor einigen Momenten gesehen habt, nennt man in militärischen Termini ein Täuschungsmanöver, im Alltagssprech ist es Magie. Und das, was einige Minuten dauerte, musste jemand anderes 20 Jahren so machen, damit es letztlich so klappt“, kommentierte Galeano.
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Noch dauert es mehrere Wochen, bis die Entscheidung des CNI bekannt gegeben wird. Dass ein neuer politischer Prozess im Gange ist, steht derweil außer Frage. Und so wichtig die Figur einer indigenen Präsidentschaftskandidatin auch ist, genauso entscheidend wäre der Indigene Regierungsrat im Sinne einer kollektiven Instanz, welche gegenüber ihren eigenen Basen gehorchend regiert. Seit 1994 führen die Zapatistas die Politik der symbolischen Repräsentation [3] meisterhaft, doch gleichbedeutend als Motor zur Veränderung der sozialen Verhältnisse ist dies noch lange nicht, sondern vielmehr Ausdruck ihrer zugrunde liegenden materiellen Prozesse. Auf einem von der EZLN veranstalteten Kongress im Mai 2015 ließ Galeano hinsichtlich der Beteiligung der Frauen innerhalb der zapatistischen Organisation wissen: „Und lassen Sie mich Ihnen sagen, dass dies nur möglich war bis mindestens zwei fundamentale Sachen passierten: die eine, der Wandel in den Besitzverhältnissen über die Produktionsmittel, und die zweite, die Übernahme und Ausführung ihrer eigenen Entscheidungen, d.h., der Politik.“ [4].
Die Zapatistas haben immer wieder betont, dass sie kein Beispiel sondern eine Erfahrung sind; dass für sie die wichtigste Solidarität diejenige ist, die sich in den eigenen Räumen organisiert und davon ausgehend Politik macht. Eine Erfahrung ist bis hierhin unwiderruflich; und mit Blick auf die eingangs benutzte Metapher: kein Wein in Schläuchen, sondern Pozol aus Jicaras – ein maishaltiges stärkendes Erfrischungsgetränk, das aus einer aus der Jicaro-Frucht hergestellten kleinen Schüssel oder Tasse getrunken wird. Vorzufinden in indigenen Gemeinden im mexikanischen Südosten. Wer sich neu erfindet und sich dennoch treu bleibt; wer überraschen kann, ohne dabei seinen radikalen Gehalt und Ausrichtung zu verlieren, ist letztlich in der Lage, politische Konflikte erfolgreich auf lange Sicht zu führen. In den Worten von Moisés: „Der Weg wird aus der Wut und dem Schmerz entspringen. Er wird aus dem Widerstand und der Rebellion hervorgehen. Der Weg wird aus seinem kollektiven Herzen entspringen. Nicht aus einem Individuum oder einer einzelnen Person. Aus dem Kollektiv wird er hervorgehen – so wie wir, die wir sind, was wir sind.“
- Von Timo Dorsch
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[1] „Zwischen Licht und Schatten“, so lautet der Name des letzten Kommuniqués von Subcomandante Insurgente Marcos vor seinem theatralischen Ableben am 25. Mai 2014 auf zapatistischen Gebiet in La Realidad. Bis heute ist er der meist gelesene Text der letzten Jahre auf der Homepage der EZLN. Die damals kurz nach Mitternacht verlesenen Worte sind nicht nur eine Abrechnung mit all jenen, die in den 20 Jahren davor Marcos verehrt oder verteufelt hatten, sondern eine zusammengefasste Reise durch die zapatistische Politik mitsamt ihren Errungenschaften nach dem bewaffneten Aufstand. Eine politische Pflichtlektüre, deren Wert über die geographischen Grenzen Chiapas und Mexikos hinausgeht.
[2] Eine lose mexikoweite und internationale Struktur, die sich um die Sechste Deklaration aus dem Lakandonischen Urwald mobilisiert und organisiert, die im Juni 2005 von der EZLN veröffentlicht wurde
[3] Eine Politik der Repräsentation, die in Mexiko und in Lateinamerika Wellen geschlagen hat. Allein deren derart starke öffentliche Betonung der indigenen Identität (durch Kleidung und Sprache z.B.) hat zu einer Stärkung des indigenen Selbstbewusstseins auch unter Nicht-Zapatistas geführt. Vor dem 1. Januar 1994 in San Cristóbal de las Casas war es für die indigene Bevölkerung verboten, öffentliche Plätze zu betreten bzw. für sich zu beanspruchen. Genauso musst ein Indigener den Bordstein verlassen, sobald ein Mestizo oder Weißer ihm entgegenkam, um ihm Platz zu machen. Verhältnisse, die heute so nicht mehr vorstellbar sind.
[4] Subcomandante Insurgente Galeano, 2015, Etcétera, in: EZLN, El pensamiento Crítico Frente a la Hidra Capitalista I, S. 263. Die Beiträge wurden später in Buchform herausgegeben. Die übersetzte deutsche Fassung wurde bei der diesjährigen Gegenbuchmasse in Frankfurt am Main vorgestellt und ist im Unrast-Verlag unter dem Titel „Das kritische Denken angesichts der kapitalistischen Hydra“ erschienen. Zum Teil sind die Beiträge auch online verfügbar.