Die politsche Situation in Basur, im Süden Kurdistans, ist hierzulande weniger bekannt als die in Rojava oder Bakur. Dennoch lohnt es sich, diese Region verstehen zu wollen.
Irgendwie ist Südkurdistan das Schmuddelkind unter den vier besetzten Teilen Kurdistans. In Rojava (Westkurdistan – Syrien), da wird Selbstverwaltung aufgebaut, da wird Widerstand geleistet. In Bakûr (Nordkurdistan – Türkei), da wird ohnehin schon seit Jahrzehnten unentwegt gekämpft. Vom Rest aber weiß man oft nicht viel, besonders in Linken Kreisen.
Bevor ich irgendwelche Thesen aufstelle, wieso dem so sein mag, möchte ich das Ziel dieses Essays erläutern: Hier soll eine kurdische Feministin und Sozialistin, eine Verfechterin des demokratischen Konföderalismus einen Einblick in die Welt dieses kurdischen Südens liefern. Es soll kritisch werden, nach innen und nach außen. Es soll provozieren. Doch in erster Linie soll es in euch Breaking-News-verseuchten Lesern die Erkenntnis über die Ambivalenz dieses Themas erwecken.
Ich selbst komme ursprünglich aus diesem sehr seltsamen Teil Kurdistans und werde nach dem Vorstellen meiner Person genau deswegen oft schief angesehen („Wie, die fährt keinen Rolls Royce und ist nicht mit einem Barzani-Enkel liiert?“). Aber das zeigt mir, wie Stigma und Vorurteil und vor allem die schlichte Gemütlichkeit vieler Internationalisten dafür gesorgt hat, dass ein Teil Kurdistans zum Schmutzbengel der gesamten kurdischen Frage wurde.
Man mag es nicht glauben, doch Südkurdistan ist eigentlich der Teil Kurdistans, wo schon am längsten ein kontinuierlicher Widerstand geleistet wird. Seit Mitte der 40er Jahre gründete sich mit der KDP
unter Mustafa Barzani eine Partei, die für damalige Verhältnisse fast schon „revolutionär“ war. Diese Partei bezeichnete sich zunächst einmal wirklich selbst als Partei, wies solche Strukturen erstmals auf und betonte vor allem Eines: den kurdischen Nationalismus. Vorbild dafür waren die Aufstände im iranischen Teil Kurdistans unter Qazi Mohammed und seiner Partei, der KDP-I. Der Gedanke, dass eine Nation, eine Partei oder schlichtweg irgendeine Form von institutionalisierter Politik das Machtgefüge in Kurdistan beherrschen sollte, war ziemlich neu. Zuvor waren kurdische Aufstände von einem eher stammesgesellschaftlichen Charakter geprägt, was dann in etwa bedeutete: Stamm A wehrt sich gegen Stamm B. [Und ja ich merke eure Finger zittern aber das da oben ist eine Analyse, keine persönliche Wertung, inwiefern Nationalismus revolutionär sein kann.]
Barzani Senior war nun schon damals ein Machtmensch, ein richtiger Fuchs: Durch seine eigenen Clanstrukturen, die ihm Macht und Autorität unter den ländlichen Bevölkerungsteilen Kurdistans sicherten, sowie seine Verbindungen in die städtisch-nationalistische „Denkerelite“ konnte er seine Rosinenpickerei gekonnt ins Rollen bringen.
Jalal Talabani, heute die oberste Figur der YNK (Patriotische Union Kurdistans, neben der KDP die zweite Großpartei in Basur, d. Red.), war damals der Kopf dieser städtisch-nationalistischen Denkelite. Er sorgte dafür, dass ein Politbüro in der KDP installiert wurde und hatte dieses während Barzanis Zeit im Exil fest im Griff. Der Bruch kam bekanntermaßen Mitte der 70er Jahre, als nach der Übereinkunft des Iran und des Irak im Vertrag von Algier die Peshmerga, die zuvor mit dem Iran gegen Saddam verbündet waren, die Waffen niederlegen sollten. Diese Tragödie ist bis heute als „Ashbatal“ bekannt.
Besonders tragisch ist das Ganze, da die Peshmerga heutigen Schätzungen zufolge mindestens 100.000 Mann zählten und eine wahre Guerilla waren. Fragt man Kurden heute noch nach diesem verhängnisvollen Tag, so hört man dieselben Worte immer wieder: Hätte Barzani uns nicht dazu gebracht die Waffen niederzulegen, so hätten wir es geschafft.
Daraufhin gründete sich prompt die YNK unter Jalal Talabani und den ehemaligen Politbüro Mitgliedern. Das Konzept der YNK, oder auch kurz Yekitî (Die Vereinigung/ Das Bündnis), ging sogar sehr gut auf: eine machtpolitisch versierte Gruppe, die viel Erfahrung hatte, sammelte verschiedenste kommunistische, sozialistische und sozialdemokratische Gruppen Südkurdistans zusammen.
Was vielen Linken heute leider nicht bewusst ist, ist die Tatsache, dass Südkurdistan eine sehr lebhafte Vergangenheit von Studentengruppen und kommunistischen Graswurzelgruppen hat. Besonders im Bereich des Nordostens des Irak sammelten sich gebildete junge Menschen, die politische Analysen über ihre Heimat anstellten, zu denen ihre Eltern wohl nicht in der Lage gewesen sind. Genauso gab es aber auch ältere Peshmerga, die von Barzanis Verrat empört waren und eher dem gemäßigten Spektrum zuzuordnen waren. All diese brachte Talabani zusammen.
Was danach jedoch geschah, war auch wieder eine Geschichte von Intrigen und falschen Allianzen. Mal rannte die YNK nach Baghdad um gegen die KDP zu arbeiten, mal rannte die KDP nach Baghdad um gegen die YNK zu arbeiten und irgendwie waren alle eher mit ihrer Macht als mit dem Aufbau eines freien Kurdistans beschäftigt. Bis zum „einfachen Mann“ ist diese Einsicht leider nicht vorgedrungen.
Das übertriebene Loyalitätsgefühl – es mag etwas aus vergangenen Clan-Dynastien sein, doch es ist eine Realität Südkurdistans: Man kämpft für etwas, man sieht, dass das System korrupt ist, doch man denkt, man tut seinen bestmöglichen Teil. Aus diesem Material macht man starke Kämpfer, jedoch keine besonders organisierten Oppositionellen.
So liest man in den Geschichten des Kampfes der Peshmerga von 1975-1991 von Verrat und von Betrug, von sich ändernden Machtkonstellationen und von einem schreienden Hass, der sich zwischen den zwei verfeindeten Lagern entwickelte. Seinen Höhepunkt fand dieses erbärmliche politische Spiel von Barzani und Talabani im Bruderkrieg, Mitte der 90er Jahre. In diesen Zeiten besuchte ich bereits meine Heimat als kleines Kind. Und Durchreisen zu dieser Zeit bedeuteten: An jedem Grenzposten die Schnauze halten – ob türkisch, barzani-kurdisch oder talabani-kurdisch. Es bedeutete pure Angst. Ein ehemaliger US-Lieutenant sagte sogar mal, dass kurdische Kämpfer im Kampf gegen die irakische Armee human waren. Sie verzichteten auf Folter und unnötige Gewalt, da sie den Gegenüber als ebenbürtigen Kämpfer anerkannten. Ging es jedoch um den inneren Bruderkampf, so zeigten die kurdischen Kämpfer unermesslichen Hass, da der „feindliche“ Peshmerga ein noch schlimmerer Verräter sei, da er ein innerer Verräter sei.
Die US-Invasion im Jahre 2003 brachte den innerlich aufs Blut verfeindeten zwei kurdischen Parteien wohl den größten Erfolg: Als feste Partner der amerikanischen Invasoren konnten beide Parteien eine kurze Zeit mal das Maul halten, solange es mit genügend Petrodollar gestopft war. In den 2000ern wurde in Kurdistan investiert und gebaut, Kurden aus der Diaspora kehrten zurück, bauten sich Häuser auf und entschieden sich teilweise für eine komplette Rückkehr in die Heimat. Diesen Zeitgeist muss man verstehen. Gerade in Südkurdistan gab es unglaublich viele Fluchtbewegungen, ganz Südkurdistan ist im Grunde genommen ein Flüchtlingscamp. Das erste Ziel der irakischen Baath-Regierung war nach jedem Missglückten Aufstand die Zivilbevölkerung. Bis heute hat sich die ländliche Bevölkerung Kurdistans davon nicht erholt. Dorfgemeinschaften gibt es fast nicht mehr, alle hat es nach dem Abebben der Flut in die Städte gezogen, wo man auf schnelle Arbeit hoffte. Was das für die Psyche und die Moral eines Volkes bedeutet im eigenen Land über Jahrzehnte Flucht als Lebensrealität gesehen zu haben, ist schwer nachzuvollziehen.
Ab 2009 zog erstmals mit der Gorran Bewegung eine oppositionelle Gruppe in das kurdische Parlament. Die Phase des kurdischen Parlaments von 2009-2013 wird heute die „goldene Phase“ der parlamentarischen Arbeit genannt. Auf Korruption und Missstände wurde aufmerksam gemacht, man mobilisierte Jugendliche massenweise auf die Straßen und protestierte gegen die Staatsgewalt, gegen die Eliten, gegen diese alten raffgierigen Politiker, die die letzten Jahrzehnte zu einem kurdischen Kampf nach außen, aber vor allem nach innen gemacht haben.
Leider währte diese Zeit nicht lange. Proteste wurden gewaltsam unterdrückt und niedergeschlagen, mehrere junge Widerständler auf den Straßen getötet, gekidnappt, gefoltert. Den innenpolitischen Kampf gegen die Opposition stützte 2014 endgültig der Einmarsch des IS. Plötzlich waren alle Augen auf den äußeren Feind gerichtet, der sich mit einer bedrohlichen Geschwindigkeit auf das zu näherte, was man sich die letzten Jahre aufgebaut hat. Und ja: Selbst da haben die zwei aufs Blut verfeindeten Parteien es maßlos verkackt.
Nach dem zeitgleichen Sturm auf Mosul, Kirkuk und Jalawla machten beide Parteien sich vor allem in Richtung einer Stadt auf: Kirkuk. Die ölreiche Stadt, die nicht ohne Grund momentan das Interesse des Großmeisters Erdogan auf sich zieht, ist schon immer eine umkämpfte Stadt. Weder YNK noch KDP konnten diese Stadt je als ihr Eigen bezeichnen und so witterten beide im Eifer des Gefechts die Möglichkeit das IS-Machtvakuum zu nutzen, um die Stadt zu überrennen. Guess what happened: Mosul und Jalawla wurden vernachlässigt, der Sturm auf Jalawla war durch die YNK Truppen schnell wieder rückgängig zu machen, doch was der Sturm auf Mosul mit sich brachte, das merken wir heute – 2 Jahre später – immer noch.
So ihr zumeist weißen, kritischen und klugen Leser: Was zeigt dieser Querschnitt durch die letzten 60 Jahre Widerstand in Südkurdistan? Ganz genau: In Südkurdistan wird die Bevölkerung seit Jahrzehnten auf übelste Art und Weise verarscht, verkauft, für dumm gehalten und in Geiselhaft genommen. Letzteres trifft ganz besonders gerade jetzt zu, wo Mesud Barzani seit nun mehr als einem Jahr verfassungswidrig im Amt ist und alle sich fragen „wieso setzt keiner den ab?“
Ja, wer käme denn danach? Wo sind die Alternativen für die Bevölkerung in Südkurdistan? Die Menschen dort haben eine ganz andere Entwicklung hinter sich als die Menschen in Bakûr oder in Rojava, die Menschen dort kennen vollkommen andere Parteien. Familien verbinden mittlerweile traurige Schicksale über Generationen mit bestimmten Mythen und Parteibildern.
Als Beispiel nehme man den Mann meiner Tante: Sein Bruder ist der wohl wichtigste Kopf der damaligen kommunistischen Studentengruppe „Komala“ gewesen. Sie kämpften an vorderster Front gegen Saddam Hussein und setzten sich auch für viele sozialpolitische Themen wie die Rechte der Landwirte in Kurdistan ein. Er wurde getötet. Die offizielle Version lautet: der Mann wurde von Saddams Leuten erschossen, die inoffizielle Version lautet: innere Konkurrenten wollten seinen Tod. Fakt ist aber dennoch: Komala gehörte zur YNK und somit ist dieser Mann, der in jungen Jahren sein Leben lassen musste auch ein Märtyrer dieser Partei. Sein Bruder sitzt heute noch im hohen Alter vor dem Fernseher und beschimpft das Politbüro der YNK als korrupte Schweine. Doch wo macht er am Ende des Tages sein Kreuz? Ratet mal.
Woanders sieht man Menschen, die am absoluten Existenzminimum leben. Dabei kann es sich nach den Gehaltsstopps der letzten Jahre auch um Beamte handeln, die schon ewig von der Hand in den Mund leben. Wo haben diese Menschen eine Alternative? Wo gelingt der Wandel, wenn man in einer halbautonomen Autokratie lebt, die von schiitischen Milizen und IS-Kämpfern, wie von türkischem Militär und iranischen Pasdaran umzingelt sind?
Haben wir Linke Antworten dafür? Bisher, denke ich, leider nein.
Dazu müsste man über Kurdistan als vielfältiges Stück Erde nachdenken – und das geschieht viel zu wenig. Kaum jemand hat Lust, sich in die Materie reinzulesen, zu verstehen woher diese Parteien kommen, woher diese Korruption kommt, woher diese Furcht der Menschen kommt. Stattdessen gibt man sich aus dem fernen Westen damit zufrieden die Kurden im Irak als revolutionsunwillig abzustempeln. Aber wozu noch an Wandel und Revolution glauben, wenn man gerade dort, wo sie am bittersten nötig sind, nicht dazu Willens ist die Drecksarbeit zu tun?
Kurdistan in „gut“ und „böse“ zu teilen, im Prinzip das, was die deutsche Verteidigungsministerin macht, nur „andersrum“, ist nicht zielführend. Das ist selektive Solidarität. Wer keine Lust hat, Kurdistan zunächst einmal zu verstehen, bevor man es ändern will, der hat viele seltsame Absichten in seiner politischen Tätigkeit, aber sicher nicht die, etwas zu verbessern.
– Von Mani Cudi