– Die chilenische ,,Movimiento de Izquierda Revolucionaria“ (MIR)
Wenig ist hierzulande noch übrig geblieben von der einstmals starken Solidaritätsbewegung mit dem chilenischen Aufbruch und dem darauffolgenden Widerstand gegen die faschistische [1] Militär-Junta von Agosto Pinochet. Wenn Chile zur Sprache kommt fällt zumeist der Name des ehemaligen Präsidenten Chiles und Führer des Linksbündnisses Unidad Popular Salvador Allende, der im Zuge des Putsches 1973 von chilenischen Militärs ermordet wurde. Ebenso bekannt wie umfassend dokumentiert ist die Rolle, die der US-Geheimdienst CIA in den umstürzlerischen Aktivitäten spielte, die die linksgerichtete Regierung Allende schließlich zu Fall brachten. Häufig übersehen wird jedoch, dass die Unidad Popular gerade deshalb als so bedrohlich wahrgenommen wurde, weil in ihrem Windschatten noch radikalere Kräfte am Wirken waren, die weit über die linksreformistischen Schranken Allendes hinaus gingen. Eine dieser Kräfte war die Movimiento Izquierda Revolucionaria (MIR).
Luchar, Crear, Poder Popular!
statt Bündnis mit dem Bürgertum
Die MIR unterschied sich konzeptionell von Anfang an von der offiziellen Kommunistischen Partei Chiles, die, ganz den Weisungen Moskaus folgend, eine Politik des friedlichen Übergangs zum Sozialismus verfolgte und daher auf eine Regierungsübernahme im bürgerlichen Staat im Bündnis mit bürgerlichen Parteien hinarbeitete. Die MIR dahingegen vertrat seit ihrer Gründung ein genuin revolutionäres Konzept, das – inspiriert von der 1959 siegreichen kubanischen Revolution und den Ideen Che Guevaras – eine Zerschlagung des bürgerlichen Staates und seine Ersetzung durch ein revolutionäres System der Volksmacht (poder popular) vorsah.
,,Es wurde Klarheit geschaffen, dass dieses Programm nur durch den Umsturz der bürgerlichen Herrschaft sowie die Zerstörung ihres staatlichen und repressiven Apparates umgesetzt werden konnte. Die bürgerliche Macht sollte durch eine direkte proletarische Demokratie ersetzt werden, gestützt auf die Organe und die bewaffneten Milizen der Arbeiter und Bauern“ [2]
Allerdings war die MIR weit davon entfernt, ein anarchistisches Konzept zu verfolgen. Ihr Konzept von Marxismus-Leninismus war anders, als die Mehrheitsrezeption der damaligen Zeit nicht am stalinschen Staatsfetisch, sondern an der rätedemokratischen Tendenz im Leninschen Werk [3] orientiert. Sie war also eine marxistisch-leninistische Partei, die ein professionelles System der Schulung von Kadern entwickelte, sich jedoch aus verschiedenen ideologischen Strömungen gruppierte (Trotzkisten, Maoisten, Guevaristen, aber auch Anarchosyndikalisten wirkten mit). Die Kader wiederum hatten die Aufgabe, militante Aktionen, aber auch den Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen zu koordinieren. Das anvisierte Ziel war eine Form der Doppelmacht – eine parallele Existenz von revolutionärem Kern und Selbstverwaltungsstrukturen – ähnlich dem Modell Rojavas heutzutage [4].
Trabajadores al Poder!
Die Rolle der MIR in sozialen Kämpfen
Die MIR bestand dabei zu Anfang lediglich aus 500 AktivistInnen im ganzen Land und rekrutierte sich mehrheitlich aus Studenten. Die Situation linker politischer Organisationen vor der Welle an aufständischen Erhebungen im ganzen Land beschreibt Andres Pascal Allende, eines der späteren Mitglieder des ZK der MIR, folgendermaßen:
,,In Zeiten, in denen die Massenbewegungen eine Flaute oder eine verlängerte Stagnation erleben und die revolutionäre Bewegung sich auf dem Rückzug oder in der Isolation befinden, ist deren Präsenz im sozialen Leben und der nationalen Politik eher schwach. Gewöhnlich kommt es in diesen Zeiten zu internen Krisen, die Bewegung spaltet sich in Kleingruppen auf, die sich häufig wegen ideologischer und politischer Unterschiede bekämpfen und in den meisten Fällen keine wirkliche Verbindung zum Klassenkampf haben. Diese Splittergruppen tendieren dazu, ihr politisches Leben auf die eigene Gruppe auszurichten, sich in Diskussionen und Reflexionen ausschließlich auf sich zu beziehen und über eine nur gerine taktische Initiative zu verfügen (…) In dieser Situation befanden sich die revolutionären Gruppen in Chile am Ende der 1950er- und zu Beginn der 1960er-Jahre“ [5]
Dem Wahlerfolg der Unidad Popular, einem 1969 geschlossenen Bündnis aus der offiziellen Kommunistischen Partei, der Sozialdemokratie und kleineren sozialistischen Gruppen, ging ein längerer Zeitraum der Verschärfung der gesellschaftlichen Situation voran. Es herrschte Inflation im Land, die vor allem die untersten Klassen mitnahm. Zugleich verschärfte sich die, in Chile, wie in ganz Lateinamerika, präsente Landfrage, die in Chile mit der nationalen Frage der Mapuche verbunden war. Auch aufgrund der Repression begann die MIR sich in einer Doppelstruktur zu organisieren: Eine offen arbeitende Struktur, die die politische Bildungsarbeit in den beginnenden sozialen Kämpfen führte und diese in Vorfeldstrukturen organisierte, sowie eine Untergrundorganisation, die mit der Koordination der militanten Aktionen betraut war. Dieser startete bewaffnete Propagandaaktionen und steigerte damit die Popularität der MIR in der Bevölkerung, z.B. durch Überfälle auf LKWs mit Nahrungsmitteln und anschließenden Verteilaktionen an die Bevölkerung in den Armenvierteln. Allerdings bildeten die bewaffneten Aktionen den kleinsten Teil der Aktivität der Organisation. Schwerpunkt war die Intervention in die sozialen Kämpfe, die Land- und Fabrikbesetzungen, aus denen consejos (Räte) als Selbstverwaltung und Organisation von Widerstandsaktivitäten hervorgingen. als revolutionäres Subjekt sah die MIR – anders als die verschiedenen orthodoxen kommunistischen Gruppen – nicht allein die Arbeiterklasse, sondern auch die arme Landbevölkerung und andere unterdrückte Teile der Gesellschaft, z.B. die indigenen Mapuche. Die Idee hinter den Selbstorganisierungsprozessen war die Organisierung der Arbeiter und Bauern für ihre eigenen Interessen.
,,Mehr als neunzig Prozent der Mitglieder der MIR waren mit vielfältigen sozialen und revolutionären politischen Aktivitäten beschäftigt. Wir waren immer davon überzeugt, dass das zentrale Moment, um revolutionäre Kräfte zu sammeln, die Mobilisierung der Massen für ihre eigenen Interessen ist“ [6]
Pueblo – Conciencia – Fusil!
Kritische Unterstützung der Unidad Popular
Die MIR analysierte den Wahlsieg Allendes und dessen linkssozialdemokratische Reformpolitik als vor-revolutionäre Phase, die in eine unbarmherzige Reaktion der Herrschenden münden musste. Sie unterstützte die Regierung Allende zwar kritisch-solidarisch, kritisierte jedoch die rein legalistisch und reformorientierte Politik Allendes, die auf einen Kompromiss mit den Herrschenden hinauslaufen musste, als nicht weitgehend genug. Das Modell Allende, eine Art linksreformistische, populistische Politik der Klassenzusammenarbeit unter Mobilisierung der Bevölkerung bei gleichzeitiger Beibehaltung der Eigentumsverhältnisse mit Teilverstaatlichungen [7], ist ein Modell das in der heutigen Zeit mit den Regierungen Chavez in Venezuela, Correa in Ecuador oder Morales in Bolivien eine Neuauflage erfahren hat, wenn auch die historische Mobilisierungskraft der Bevölkerung in Chile ungleich höher, die Stimmung revolutionärer und die Programmatik basisorientierter war. Die MIR rechnete schon beim Machtantritt Allendes mit dessen Ermordung oder einem Putsch der alten Eliten und des Militärs gegen die progressive Regierung. Eine Analyse, die sich traurig bewahrheiten sollte. Entsprechend reagierte die MIR auch auf das Angebot Allendes, an der Unidad Popular-Regierung teilzunehmen:
,,Aber Miguel (Enriquez, damaliger Führer der MIR – Anm. d. Autors) erklärte Allende auch klipp und klar, dass wir nicht mit seiner Strategie übereinstimmten, den Übergangsprozess zum Sozialismus innerhalb der herrschenden Gesellschaftsordnung zu vollziehen. Unserer Meinung nach würde die herrschende Klasse das Ende ihrer Privilegien und die Transformation des bürgerlichen Staates auf der Grundlage eines antiimperialistischen, antimonopolistischen, gegen den Großgrundbesitz gerichteten basisdemokratischen Programms (…) nicht hinnehmen“ [8]
La Dictadura Gorila
Militärputsch, Widerstand und Zerschlagung
Der Militärputsch kam für die MIR daher wenig überraschend. Noch wenige Monate vor dem Putsch am 11.September 1973 formulierte Miguel Enriquez in einer öffentlichen Ansprache an die Partei: ,,Wenn die Konterrevolution die Form eines Staatsstreichs annimmt (…) müssen die Revolutionäre und die Arbeiter unverzüglich die Fabriken und die Ländereien einnehmen, und die Bemühungen verdoppeln die poder popular zu verteidigen.“ [9] Diese offensive Haltung behielt die MIR auch nach dem Militärputsch bei und organisierte sich im Untergrund. Während zahlreiche Mitglieder der anderen linken Organisationen, insbesondere jener der Unidad Popular ins Exil gingen, rief die MIR dazu auf im Land zu bleiben, die revolutionären Teile der Bevölkerung nicht im Stich zu lassen und den bewaffneten Widerstand gegen das von ihr Diktatur der Gorilas genannte Pinochet-Regime zu organisieren. Dieser Strategie sollten in den folgenden Jahren mehrere tausend Mitglieder der Organisation zum Opfer fallen. Unter ihnen auch mehrere Führer der Organisation: Nach einem Jahr im Untergrund wurde Miguel Enriquez vom faschistischen Junta-Geheimdienst DINA in seinem Versteck in der Calle Santa Fe in Santiago de Chile aufgespürt und erschossen. [10] Mit Miguel Enriquez schaltete die Militärjunta um Pinochet bereits früh eine der populärsten und radikalsten Stimmen der chilenischen Widerstandsbewegung aus. Was bleibt sind die Erfahrungen dieses Konzepts der radikalen Linken in Chile, das nach wie vor in seinen Schwierigkeiten und Erfolgen parallelen zu heutigen sozialen Kämpfen aufweist. Eine Lehre, an die insbesondere die neuen heutigen Vertreter des linken Reformismus erinnert werden müssten, ist jene Konsequenz die Miguel Enriquez nach dem Militärputsch zog:
,,In Chile ist weder die Linke gescheitert, noch der Sozialismus, noch die Revolution, noch die Arbeiterschaft. In Chile ist auf tragische Art und Weise eine reformistische Illusion beendet worden, die darauf setzte Revolution zu machen mit (…) dem Einverständnis derer, gegen die sie sich richtete: Der herrschenden Klasse.“ [11]
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Anmerkungen:
[1] Die MIR selbst lehnte die Charakterisierung der Junta als ,,faschistisch“ und damit eine Orientierung am Volksfrontkonzept der anderen linken Parteien ab. http://www.mao-projekt.de/INT/LA/S/Chile_MIR_El_Rebelde.shtml
[2] Allende, Andres Pascal (2011): ,,MIR – Die Revolutionäre Linke Chiles“ Bd. 11, S. 24 Laika Verlag; Hamburg
[3] In ,,Staat und Revolution“ formuliert Lenin klar, dass der bürgerliche Staat zerschlagen werden muss. Reste dieses Staates würden nur der Funktion, nicht dem Charakter nach aufrechterhalten bleiben, um eine Rückkehr der Minderheit der Ausbeuter an die Macht zu verhindern. Mit dem Verschwinden dieser vorübergehenden Notwendigkeit der Fortexistenz der repressiven Funktion, würde auch der proletarische Staat, der in seinem Charakter schon etwas vollkommen anderes ist als der bürgerliche, aufgehoben, d.h. schlussendlich Absterben. ,,Dieser Gang der Ereignisse zwingt die Revolution ,alle ihre Kräfte der Zerstörung zu konzentrieren‘ gegen die Staatsgewalt, zwingt sie, sich nicht die Verbesserung der Staatsmaschinerie, sondern ihre Zerstörung, ihre Vernichtung zur Aufgabe zu machen“ (Lenin 1978, S.40 Dietz Verlag, Berlin) und zum Charakter dieses Zwischen-Staats nach dem Vorbild der Kommune‘: ,,Je vollständiger die Demokratie, umso näher der Zeitpunkt, zu dem sie überflüssig wird. Je demokratischer der Staat, der aus bewaffneten Arbeitern besteht und schon gar kein Staat im eigentlichen Sinne mehr ist, umso rascher beginnt jeder Staat abzusterben“ ( Lenin 1978, S.118 Dietz Verlag, Berlin) Nicht unterschlagen werden sollte allerdings auch, dass sich im Leninschen Werk durchaus auch jene Konzepte von Staatssozialismus finden, an die Stalin nahtlos anknüpfen konnte.
[4] Auch in Rojava findet sich jene eigentümliche Parallel-Existenz verschiedener Organisatorischer Instanzen organisch verwurzelt in einer Bewegung.
[5] Allende, Andres Pascal (2011): ,,MIR – Die Revolutionäre Linke Chiles“ Bd. 11, S. 32 Laika Verlag; Hamburg
[6] Allende, Andres Pascal (2011): ,,MIR – Die Revolutionäre Linke Chiles“ Bd. 11, S. 39 Laika Verlag; Hamburg
[7]Z.B. unternahm die Unidad Popular Regierung wenig gegen den die Ausbeutung der Landarbeiterschaft durch den Großgrundbesitz http://www.mao-projekt.de/INT/LA/S/Chile_MIR_1972_Casa_o_mierda.shtml. Die MIR bezeichnete die Unidad Popular Regierung als eine reformistische Regierung der Klassenzusammenarbeit: http://www.mao-projekt.de/INT/LA/S/Chile_MIR_1972_Casa_o_mierda.shtml
[8] Allende, Andres Pascal (2011): ,,MIR – Die Revolutionäre Linke Chiles“ Bd. 11, S. 50 Laika Verlag; Hamburg
[9] Enriquez, Miguel (1973): ,,Discurso del Miguel Enriquez en el teatro caupolican“ http://cedema.org/ver.php?id=2731
[10] Ein eindrucksvoller Film seiner damals schwangeren Frau Carmen Castillo ,,Calle Santa Fe“ zur MIR und zum Tod Miguels existiert in der Reihe ,,Bibliothek des Widerstands“ vom Laika Verlag Bd.11, dem auch die Zitate Andres Pascal Allendes entnommen sind.
[11] Enriquez, Miguel (1973): http://www.cedema.org/ver.php?id=3538