– Ein Erklärungsversuch zum negativen Ausgang des Referendums in Kolumbien
Am 2. Oktober war die kolumbianische Bevölkerung aufgerufen, zu dem bereits unterschriebenen Friedensvertrag zwischen der Regierung des konservativen Präsidenten Juan Manuel Santos und der linken Guerillagruppe FARC-EP Stellung zu beziehen. Vorangegangen waren Wahlanalysen, die für das Si-Lager traumhafte Resultate bis zu 70% vorhersagten. Auch auf den Straßen sprach wenig für ein Kopf-an-Kopf-Rennen, wie es der Wahlabend zeitigen sollte. Das Si-Lager dominierte nicht nur die sozialen Medien, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung. Das rechtsradikale Lager um den ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Alvaro Uribe hingegen war lediglich in Form von landesweiten Informationsveranstaltungen präsent, die jedoch gleich mehrfach medienwirksam von AktivistInnen der Friedensbewegung konterkariert wurden. Schließlich scherten sogar einige höhere Funktionäre des rechtsradikalen Lagers aus und erklärten ihre Unterstützung zum Friedensprozess, was zu einer ernsthaften Krise im No-Lager führte [1]. Doch zuletzt kam es anders als erwartet. Am Abend des 2. Oktober konnte das No-Lager die Abstimmung mit einem hauchdünnen Vorsprung für sich entscheiden. [2] Wenige zehntausend Stimmen trennten demnach die beiden Lager voneinander. Und, was definitiv keine Randbemerkung bleiben sollte: Lediglich 37 % der wahlberechtigten KolumbianerInnen nahmen die historische Chance zu einem definitiven Ende des über 50 Jahre anhaltenden Krieges wahr. Wollen die KolumbianerInnen also keinen Frieden oder sind gar mehrheitlich Anhänger der Uribisten, des rechtsradikalen No-Lagers? Mitnichten, wenn die gesellschaftlichen Umstände und die Geschichte des bewaffneten Konflikts näher betrachtet werden.
Eine Geschichte der Repression und des Ausschlusses
Das politische Koordinatensystem in Kolumbien ist ein grundsätzlich anderes als in anderen Ländern Lateinamerikas: Wir sprechen von einem Land, das sich seit Beginn seines Bestehens vor knapp 200 Jahren mit Unterbrechungen durchgängig im Bürgerkrieg befand. Allein der jetzige, seit 50 Jahren anhaltende Konflikt zwischen linken Guerilla-Gruppen und dem kolumbianischen Staat forderte mehr als 220.000 Todesopfer [3], zuzüglich der sogenannten Verschwundenen (Desaparecidos). Die politische Macht ist traditionell in den Händen einer Oligarchie gebündelt, die sich historisch auf zwei traditionelle Parteien, jene der Konservativen und Liberalen aufspaltete [4], und nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das gesamte politische und mediale Alltagsgeschäft dominierte [5]. Dieses ausschließende politisch-ökonomische Herrschaftssystem, das sozialen Protest und Dissidenz historisch nahezu immer mit brutaler Gewalt beantwortete [6] und obendrein die massive soziale Ungleichheit – insbesondere in den ländlichen Gebieten – aufrechterhielt und sogar beförderte [7] war mitunter eines der Hauptargumente für die Strategie des bewaffneten Kampfs der Kommunisten in Kolumbien. Und es ist eine Erklärung dafür, dass Kolumbien, bis auf eine sehr kurze Zeitspanne [8] niemals eine faschistische Militärdiktatur im Ausmaß von Pinochet in Chile oder Videla in Argentinien erleben musste: die formal demokratischen, de facto oligarchischen Institutionen reichten zur blutigen Aufstandsbekämpfung und zur Herrschaftssicherung für die kolumbianische Oligarchie schlicht vollkommen aus.
Die materielle Gewalt….
Nun sind in einem anhaltenden bewaffneten Konflikt, in dem Oppositionelle vom Staat grundsätzlich unter Terrorverdacht gestellt und von extralegalen Todesschwadronen hingerichtet wurden und werden, die Möglichkeiten zum zivil-bürgerschaftlichen Engagement und der Öffentlichkeitsarbeit begrenzt. Viele Organisationen und Zusammenhänge dessen, was heute in Kolumbien als soziale Bewegungen wiederauflebt, mussten deshalb, insbesondere in der Zeit des schmutzigen Krieges (guerra sucia), gezwungenermaßen in den Untergrund gehen und unter andauernder Angst vor den staatlich geförderten Todesschwadronen arbeiten. Diese Organisationen und Bewegungen sind heute naturgemäß die stärksten Verfechter des Friedensvertrags zwischen FARC-EP und der kolumbianischen Regierung, da sie sich seit der Präsidentschaft von Santos mit weit weniger starker Repression reorganisieren und in die öffentliche Wahrnehmung zurückkehren konnten. Für sie ist der Friedensvertrag von Havanna eine Sache des politischen Überlebens, denn sollte der schmutzige Krieg zurückkehren, würden sie erneut gewaltsam von der öffentlichen politischen Bühne verdrängt werden. [9] Nichtsdestotrotz dominiert die Angst davor, sich zu positionieren, nach wie vor die Mehrheit der Bevölkerung in Kolumbien, denn die paramilitärische Gewalt schwebt immer noch wie ein Damoklesschwert über jedem, der sich gegen die Interessen der Oligarchie organisiert und auf die Straße geht. Exemplarisch gesprochen: Allein die soziale Bewegung Marcha Patriotica hat seit 2012 96 extralegale Hinrichtungen, 4 Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens, 13 Fälle der Folter und 4 Fälle der sexuellen Gewalt an AktivistInnen ihrer Organisation dokumentiert [10]. Die Organisation wird nicht müde zu betonen, dass diese Zahlen auf jede andere legal und öffentlich arbeitende soziale Bewegung oder NGO übertragbar sind. Dazu kommt das nicht unrealistische, bislang jedoch nicht mit Quellen belegbare Szenario, dass insbesondere in Gebieten mit hoher paramilitärischer Präsenz die Menschen aktiv vom Wählen abgehalten und/oder bedroht wurden. Mit sogenannten bewaffneten Streiks (gemeint ist: Ausgangssperre) unter Todesandrohungen bei Nicht-Beachtung versuchten paramilitärische Gruppen in der Vergangenheit immer wieder die Bevölkerung der von ihnen kontrollierten Gebiete mit blankem Terror einzuschüchtern.
…und die diskursive Macht der Ultrarechten
Der Schmutzige Krieg, der auf Betreiben des kolumbianischen Staates mit US-Hilfe in den 80er Jahren gegen die Guerilla-Gruppen begonnen wurde und der seinen traurigen Höhepunkt unter dem rechtsradikalen Präsidenten Alvaro Uribe fand, schaffte mit brutaler Repression [11] einen von sozialer Dissidenz nahezu gesäuberten politischen Raum, in dem die Oligarchie den gesamten öffentlichen Diskurs mit wenigen Ausnahmen [12] dominieren konnte. Jahrzehntelang konnten so anti-kommunistische, neoliberale Think-Tanks ihre Propaganda ungefiltert über die einflussreichsten Sender des Landes in jeden Haushalt bringen. Eine Tradition der Bürgerkriegs-Propaganda, an die Uribe und seine Anhänger, nun in den Mobilisierungen zum Plebiszit anknüpfen konnte: ,,Was wollen Sie, den Frieden oder einen aufoktroierten Sozialismus des 21. Jahrhunderts (…)?“, fragte Uribe kürzlich über Twitter. Seine Parteigänger glänzen mit Äußerungen wie ,,Gestern hat das kolumbianische Volk klar sein ,,Nein“ zum Castro-Chavismus geäußert“. Ergänzt werden diese Einbildungen durch propagandistische Verzerrungen und Falschmeldungen, wie z.B. der Behauptung es gäbe eine in den Friedensverträgen zugesicherte Generalamnestie für Guerilleros der FARC-EP [13]. Ein anderes Beispiel wäre die auch von Menschenrechtsorganisationen als vollkommen unzulässig eingestufte Gleichsetzung von Guerilla- und Paramilitärischer Gewalt [14], die von den Uribisten trotz ihrer inzwischen öffentlich nachgewiesenen Verbindungen zum Paramilitarismus heuchlerisch und ohne mit der Wimper zu zucken zur moralischen Legitimation eingesetzt werden. Kürzlich sind ebenfalls die Sponsoren der No-Kampagne bekannt geworden, die neben mehreren internationalen Multis (Heineken, Esprit…), auch das Medienimperium des Oligarchen Carlos Adila Lülle umfassen. Aber auch die geballte diskursive und materielle Macht des rechtsradikalen No-Lagers kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die außerparlamentarische Linke, die sozialen Bewegungen und die FARC-EP ihr strategisches Ziel eine tragfähige Mehrheit in der Bevölkerung für einen Frieden zu mobilisieren und damit zu politisieren, zumindest kurzfristig nicht erreichen konnten. Dem jahrzehntealten konzentrierten rechtsradikalen Diskurs, der von in verschiedenen Teilen der Oligarchie konzentrierten Monopolen organisiert wird, ein linke Alternative entgegenzustellen ist eine gigantische Aufgabe für die sozialen Bewegungen und eine perspektivisch legalisierte Guerilla, die offensichtlich eine längere Vorlaufzeit verlangt, als sie der vergleichsweise kurze Mobilisierungs-Zeitraum hin zum Plebiszit zuließ.
Was bleibt vom Referendum?
Kurz nach Bekanntgabe des Ergebnisses des Referendums beeilte sich Santos, das Ergebnis anzuerkennen. Bereits am vergangenen Mittwoch traf er nun auf seinen Kontrahenten Alvaro Uribe und dessen Parteigänger, während die Anhänger des Si-Lagers zeitgleich zur Verteidigung des Friedensprozesses landesweit zu Tausenden auf die Straße gingen. Allein dieses Symbol zeigt, wer der entscheidende Faktor zum Machterhalt Santos ist: Der andere Teil der Oligarchie, der des No-Lagers, keineswegs jedoch das Volk bzw. seine Unterstützerbasis. Faktisch ist das Resultat des Referendums ein schwerwiegendes Legitimations-Problem für Santos, da es seine mühsame Legitimationsfigur des ,,Friedenspräsidenten“ [15] nachhaltig untergräbt und offenlegt, dass seine Unterstützung in der kolumbianischen Oligarchie zu bröckeln beginnt. Santos befindet sich daher nun unter Handlungsdruck und muss wahlweise Vorwände finden, um ohne Gesichtsverlust eine Rückkehr zur militärischen Konfrontation verkaufen zu können, oder die Guerilla in ihren Forderungen noch weiter herunterhandeln, als er es in den Friedensverträgen von Havanna ohnehin schon getan hat. Dazu passt auch sein mehr als doppeldeutiges Statement, dass der beidseitige Waffenstillstand zum 31. Oktober auslaufen würde. Andersherum betrachtet ist der Ausgang des Referendums ein schwerer Schlag für die Verhandlungsposition der FARC-EP , die ohnehin bereits massive Abstriche machen musste, um zu einer Vereinbarung zu gelangen. Weitere Abstriche und Zugeständnisse an die kolumbianische Oligarchie könnten an der Basis der Organisation den Eindruck verschärfen, dass es ihren Führern um einen Frieden um jeden Preis geht, für den sie auch bereit sind, das politische Selbstverständnis der Organisation aufzugeben. Beide Seiten würden so zunehmend unter den Druck der jeweiligen Friedens-skeptischen Fraktionen geraten. Eine realistische Perspektive für einen erneute Einigung wäre dann zumindest eine langwierige, wenn nicht gar unmögliche Angelegenheit.
- Von Jan Schwab
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Anmerkungen:
[1] http://www.semanariovoz.com/2016/09/13/uribistas-pura-sangre-llaman-a-votar-por-el-si-a-la-paz/ Die 3 uribistischen Senatoren Wilson Rey Arias, Mauricio Bermúdez und San Vicente Humberto Sánchez hatten ihre Anhänger aufgerufen, die Si-Kampagne zu unterstützen. Uribe gestand daraufhin öffentlich ein, dass es am 2.Oktober zu einem Sieg der Si-Kampagne kommen könnte. (Stand: 13.09.2016)
[2] Nach letztem Auszählungsstand hat das No-Lager mit gerade einmal 0,5 Prozentpunkten Vorsprung die Abstimmung für sich entscheiden können. Interessanter Fakt: Insbesondere die vom schmutzigen Krieg am stärksten betroffenen Regionen des Landes, sowie die Hauptstadt Bogota und die ExilkolumbianerInnen stimmten für ein Si, während die vergleichsweise sicheren, von der Armee kontrollierten Bezirke um die Hauptstadt für das No stimmten.
[3] Von Menschenrechtsorganisationen herausgegebene Zahl der zwischen 1958 und 2012 im Zuge des Krieges Umgekommenen. Nachzulesen in: ,,Basta Ya! Colombia: Memorias de Guerra y Dignidad“ Centro Nacional de Memoria Historica [Hrsg.] 2014
[4] Der brutalste Bürgerkrieg zwischen den einstmals alleinig dominierenden Parteien war die sogenannte Violencia, ein an die Ermordung des populären liberalen Präsidentschaftskandidaten Jorge Gaitan 1948 anknüpfender Bürgerkrieg zwischen Liberalen und Konservativen, der erst 1958 mit der Bildung einer Einheitsregierung (Frente Nacional) beendet werden konnte. Bereits hier finden sich die Vorläufer des folgenden Konflikts mit liberalen Guerillas einerseits und Zentralregierung mit Unterstützung des Paramilitarismus (den sogenannten parejos) andererseits. Die Entstehung der FARC-EP als Bauernselbstverteidigungseinheit fällt ebenfalls in diese Zeit.
[5] Die heutige Parteienlandschaft ist diverser, umfasst jedoch prinzipiell nach wie vor die dominanten Lager des Liberalismus (Partido Liberal, Allianza Verde) und des Konservatismus (Partido de la U, Partido Cambio Radical, Opcion Ciudadana, Centro Democratico, Partido Conservador).
[6] Ein Beispiel ist das Masacre de las Bananeras, ein Streik der Bananenplantagen-ArbeiterInnen der United Fruit Company 1928 in Cienaga für bessere Arbeitsbedingungen. Der Streik wurde unter Interventionsdrohung der USA von der kolumbianischen Armee hin gemetzelt – mit tausenden Todesopfern.
[7] Kolumbien ist traditionell seit der Kolonialzeit auf dem Land der Herrschaft von zumeist kreolischen (einheimisch-weißen) Großgrundbesitzern unterworfen, die lange Zeit die Sklavenhaltung befürworteten und in neuerer Zeit als Hauptsponsoren des Paramilitarismus auftraten. Der Milizenführer der AUC – des massenhaft mordenden paramilitärischen Verbands in den 90er und 00er Jahren – Carlos Castaño Gil, war Abkömmling dieser ländlichen herrschenden Kaste.
[8] Lediglich mit ,,El Caudillo“ Gustavo Rojas Pinilla in der Zeit der Violencia herrschte von 1953-1957 in Kolumbien ein Diktator mit Unterstützung des Militärs.
[9] Angemerkt werden sollte hier, dass es trotz der gewaltigen Repression immer wieder mutige Menschen gab, die in der Öffentlichkeit für ihre Sache eingetreten sind. So gab es auch unter dem Terror der Paramilitärs im schmutzigen Krieg öffentliche Demonstrationen und Aktionen – jedoch fanden diese immer unter Todesgefahr statt.
[10] Dokumentiert und aufgestellt in: ,,Patrones de Persecucion – Al movimiento politico y social Marcha Patriotica“ 2015 mit Benennung der Täterorganisationen, soweit rekonstruierbar.
[11] Alvaro Uribe ist ein blutrünstiger Machtpolitiker unter dessen Ägide die schlimmsten Massaker des kolumbianischen Bürgerkriegs fallen. Die kolumbianische Armee ist unter seiner Präsidentschaft systematisch in Koordination mit den Mörderbanden des Paramilitarismus gegen die ländliche Zivilbevölkerung vorgegangen. Das bestätigte schon 2009 der ehemalige Direktor für Informationstechnologie des kolumbianischen Geheimdiensts DAS Rafael Garcia https://amerika21.de/nachrichten/inhalt/2009/sep/das_293847_garcia
[12] Z.B. der falsos positivos – Skandal; Kolumbianische Soldaten töteten im Zuge des bewaffneten Konflikts zahlreiche Zivilisten und bekleideten die Leichen nachträglich mit Guerilla Uniformen, um von der Regierung ausgeschriebene Erfolgsprämien einzuheimsen. https://de.wikipedia.org/wiki/Falsos_Positivos-Skandal
[13] Diese gibt es nicht. Es gibt klare Regelungen für Sondergerichte und mögliche Verurteilungen von Guerilleros. Einzusehen hier: http://farc-epeace.org/peace-process/agreements/agreements.html . Die Schlächter der AUC sind hingegen bis heute unter Uribes Mitwirkung tatsächlich straffrei davon gekommen!
[14] Beispielhaft: die vom kolumbianischen Staat geförderte Gedenkstätte ,,Centro Nacional de Memoria Historica“ spricht davon, dass 59% der Massaker von Paramilitärs und weitere 8% von staatlichen Stellen begangen wurden, während weitere 15% nicht zuortbar (und wahrscheinlich daher ebenfalls dem Paramilitarismus oder den Narcos zuzuordnen sind) sind. Das ergibt ein vermutliches Massaker-Resume von 82% unter Beteiligung oder unter Mitwissen des Staates.
[15] Santos, der frisch gekürte Friedensnobelpreisträger, war und ist alles andere als ein Friedensengel: Unter seiner Präsidentschaft fallen mehrere Dutzend Tote bei Demonstrationen und Streiks durch die ESMAD (Aufstandsbekämpfungseinheit der kolumbianischen Polizei). Santos war darüber hinaus Verteidigungsminister und Parteigänger von Uribe (!) bis 2009 und verantwortlich für den völkerrechtlich unzulässigen Luftangriff auf ecuadorianisches Territorium 2009. Er war außerdem als Verantwortlicher in den falsos positivos-Skandal verwickelt.