Ein paar Stunden, bevor ich in Kilis ankomme, regnen wieder Raketen auf die Stadt nieder: drei nach Darstellung der Medien, fünf bis sechs nach Zählung der Menschen vor Ort. Für sie ist das Zählen der Raketeneinschläge so etwas wie Volkssport geworden. Kilis ist diejenige Stadt, in der die Auswirkungen des Syrienkriegs auf die Türkei vermutlich am unmittelbarsten zu spüren sind: nämlich in Form von permanentem Raketenregen auf die Stadt, die keine drei Kilometer von der syrischen Grenze entfernt liegt. Auf der anderen Seite der Grenze liegt der Bezirk al-Bab, der seit langem unter der Kontrolle des IS ist. Seit Januar 2016 sind mehr als 80 Raketen in Kilis eingeschlagen. 22 Menschen starben dadurch, unzählige wurden verletzt.
An der Oberfläche hat der Umgang mit den Zuständen groteske und absurde Züge angenommen. Noch während ich in die Stadt hineinfahre, wird mir beim ersten Straßenschild angekündigt: „Willkommen in Kilis, dem Friedensnobelpreiskandidaten der Türkei“. Einst sollen überall in der Stadt Plakate und Werbebanner in dieser Art gehangen und Demos stattgefunden haben für die Verleihung des Friedensnobelpreises an Kilis unter dem Motto „Menschheit, begleich deine Rechnung mit Kilis!“. Beim Aussteigen an der Busstation die nächste Begrüßung: Ein unglaublich potthässliches Werbeplakat für günstige Immobilienfinanzierung, das „unsere Demokratie“ in den Himmel lobt. Seit dem Putsch wird ja „unsere Demokratie“ für alles Tolle in der Türkei verantwortlich gemacht, im vorliegenden Fall für günstige Immobilienfinanzierungsmöglichkeiten, weil permanenter Raketenregen, Krieg und Anschlag auf Anschlag den Immobilienmarkt erschüttert hat. Wahrlich eine Demokratie sondergleichen.
Aber der ehemalige Gouverneur von Kilis, Süleyman Tapısız, toppt alles. Er ist mit seinen absurd hirnlosen Statements zu einer Legende in der Türkei geworden: „Ich bin doch nicht Superman, dass ich die anfliegenden Raketen in der Luft abfangen kann“, echauffierte er sich gegenüber einer CHP-Delegation, nur um derselben kurze Zeit später das berühmte Lied „eine Kugel fragt nicht nach der Adresse“ zu zitieren. Anschließend, fügte er noch leicht genervt hinzu: „Alle kritisieren, dass hier Raketen niederregnen. Klar tun die das, es gibt so etwas wie die Schwerkraft. Was sollen die sonst tun, in der Luft hängenbleiben?“1 Nun, die Ataraxie hatte der Gouverneur jedenfalls perfektioniert. Nach dem sechsten Raketenregen auf die Stadt, bei dem 6 Menschen starben, erklärte er den Verletzten, die er im Krankenhaus besuchte, väterlich-wohlwollend: „Sowas kann uns jederzeit treffen, wir wissen das ja nicht zuvor. Aber ich sag mal so: Wir gehen einfach nicht mehr ohne rituelle Waschung [abdest] aus dem Haus.“2 Sprich, wenn „uns“ dann unvorhergesehen oder aufgrund der Schwerkraft eine Rakete tötet, fahren wir wenigstens „rein“ zur Hölle oder in den Himmel, je nach dem. Vermutlich weil niemand den geradezu britischen Humor des Gouverneurs verstand oder Feingefühl für stoische Gleichmut besaß, wurde er dann irgendwann nach Karaman zwangsversetzt. Und so verlor Kilis einen hirnlosen Realzyniker.
Spontan hätte ich ja, wenn man mich nach meiner Einschätzung gefragt hätte, gesagt, dass die Situation fürchterlich, angsterregend und gefährlich ist. Eine kurdische Freundin, die mir davon abriet, nach Kilis zu fahren, mich aber davon nicht abbringen konnte, meinte ironisch: „Na gut. Wir rufen dann einfach auch für dich şehit namırın“, die Märtyrer sind unsterblich. Aber was die einen als Gefahrensituation wahrnehmen, ist Actionkino für die anderen: Am Abend sitzen wir auf einer Dachterrasse mit Kollegen aus dem Gesundheitssektor und Kleinladenbesitzern und reden über die Situation in Kilis. Der eine Kollege, extrovertierter social boy par excellence, kommt später hinzu und vitalisiert die Abendgesellschaft: „Am Anfang haben wir uns alle in die Hosen geschissen, wenn auch nur eine Tür zugeknallt ist. Jetzt ist es normal für uns, wir zählen mittlerweile die Raketen. Tja und dann, als die Gefechte auf der anderen Seite am heftigsten waren, habe ich jedes Mal, wenn ich sturzbetrunken war, ein paar Bier eingepackt und bin zur Grenze gefahren. Ey Junge, das war so geil. Bam, boom, bäm, schweres MG, Granatwerfer, Bomben, alles am Start, Junge“, sagt er und lacht dabei schallend.
Flucht und Wut
Ganz so leicht nehmen es die Leute dann aber doch nicht: Der Galgenhumor ist bloß die recht zynische Art und Weise, die permanente Bedrohung irgendwie zu bearbeiten. Viele Menschen, insbesondere die unabhängigen Professionellen, sind aus Kilis nach Antep, Adana, Iskenderun geflohen. Genaue Zahlen gibt es nicht, die Schätzungen reichen von 20 bis 70 Prozent der Bevölkerung, die de facto geflohen sind oder nur mehr zum Arbeiten hierher pendeln. Die, die nicht fliehen konnten oder wollten, sind mittlerweile ziemlich erzürnt. Das entlädt sich auch auf der Straße: Als beispielsweise am 24. April 2016 morgens und abends Raketen auf die Stadt niederregneten und unter anderem auch in eine Moschee einschlugen, stürmte die Bevölkerung wutentbrannt zum Gouverneursamt. Sie musste von der Polizei gestoppt werden und infolgedessen wurde ein Demonstrationsverbot verhängt.
Auch die Gruppe, mit der ich am Abend zusammensitze, beschwert sich. Niemand interessiere sich für die Menschen in Kilis, im besten Fall heiße es: „Die Türkei wird angegriffen“. Die Gruppe besteht zu einem Großteil aus AKP- und MHP-Anhängern. Beide Lager sind sehr regierungskritisch. Sie werfen der Regierung Desinteresse vor – und eine falsche Flüchtlingspolitik. Ausgerechnet in Kilis stellte Erdoğan Anfang Juli zu propagandistischen Zwecken syrischen Flüchtlingen die türkische Staatsbürgerschaft in Aussicht. Das kam bei der Bevölkerung in Kilis gar nicht gut an. In Kilis leben, ohne die Geflüchteten oder Pendler abzuziehen, knapp 96.000 Menschen zu denen mittlerweile mehr als 120.000 Flüchtlinge dazugekommen sind. Es ist klar, dass die Stadt und die Region infrastrukturell so viele Menschen ohne gezielte Investitionen, die aber nicht stattfinden, nicht tragen kann.
Mal wieder die Syrer*innen…
Dementsprechend ist der Frust bei den Menschen groß. Ihre Haltung zu den syrischen Flüchtlingen ist ambivalent. Einerseits finden ihre Präsenz gut, weil so endlich ein wenig Bewegung und Handel in die Stadt kommt. Der Ladenbesitzer in der Gruppe erzählt, dass 70 Prozent seiner Kunden mittlerweile Syrer*innen seien und er selbst einen Syrer im Laden angestellt hat. Jeder Laden habe hier mittlerweile mindestens einen Syrer beschäftigt und sie würden auch „besser arbeiten als die Türken“. Die Liste der negativen Seiten, die die Männer „den Syrern“ zuschreiben, ist bedeutend länger. Hier paaren sich Probleme, die aus den infrastrukturellen Mängeln erwachsen (z.B. der Überauslastung der Krankenhäuser) mit rassistischen Klischees: die Syrer würden vor lauter Langeweile „rumvögeln wie die Wilden“ und würden deshalb bald die Türken in der Stadt demographisch überholen; sie würden die Stadt übernehmen, falls ihnen die Staatsbürgerschaft ausgestellt wird, denn dann würden sie sich mächtig fühlen; außerdem würden sie bevorzugt behandelt werden und würden humanitäre Hilfen missbrauchen, indem sie gespendete Güter weiterverkaufen würden. Und sowieso: Sie seien faul und die Frauen trügen zu viel Make-up. Usw. usf.
Gleichzeitig kann man nicht sagen, dass das Ressentiment durchideologisiert und zielgerichtet ist. Einer der Männer, der sich am meisten über die syrischen Flüchtlinge beschwert, erklärt mir gegenüber: „Manchmal hassen wir sie, manchmal haben wir großes Mitleid; wir wissen nicht, ob wir sie hassen oder bemitleiden sollen.“ Wie überall sonst auch werden die Syrer*innen hier weitflächig als billige und einfach auszubeutende Arbeitskräfte gebraucht und an den steigenden Mieten verdienen sich die Hausbesitzer ein goldenes Näschen. Über die Gesundheitssituation der Menschen in den Lagern gefragt, meinen die Ärzte, mit denen ich spreche, nur knapp: „Allah’a emanetler“, sie sind Gott überlassen. Ein Arzt erzählt, er habe eine Kollegin in einem Lager darüber befragt, wie es mit der Verbreitung von AIDS, Hepatitis B, usw. aussieht. Die habe gelacht: „Keine Ahnung.“
Dass Syrien und die Syrer*innen als Problem wahrgenommen werden, ist allerdings eine neuere Entwicklung. Bis zu 6000 Familien aus Kilis, so eine Untersuchung3, verdienten noch knapp vor dem Krieg exorbitante Summen durch den Schmuggel über die Grenzen. Auch mit dem Krieg ging der Schmuggel – vor allem von Zigaretten, Öl usw. – weiter. Geschichten von Kingpins des Schmuggels, die ein Vermögen gemacht haben, hört man hier überall. Seit einem bis anderthalb Jahren habe der Schmuggel jedoch deutlich abgenommen. Seit dem Zeitpunkt nämlich, an dem die Türkei offiziell die Grenzen zugemacht habe. Das einzige Lukrative sei nur mehr der Menschenschmuggel bei Nacht.
… achja, und der IS
Auch in Kilis befinden sich natürlich der IS und andere Banden, die im Syrienkrieg mitmischen. Die Ärzte erzählen von bewaffneten, bärtigen Männern, die sie im Krankenhaus behandelt haben. Das sei noch vor vier Jahren exzessiv gewesen, habe mittlerweile aber abgenommen. Ein Pendler erzählt davon, wie der Minibus, mit dem sie jeden Tag fuhren, jedes Mal von der Hauptstraße wegfuhr in Grenzdörfer, in denen dann hastig lauter arabisch sprechende Männer mit ihrem Gepäck ausstiegen. Ähnlich wie in Hatay war es auch in Kilis gang und gäbe, dass Kolonnen von weißen LKWs und von der Gendarmerie begleitete Autokonvois bei Nacht über die Grenze fuhren, während Häuser, in denen Geheimtreffen der bewaffneten Gruppierungen stattfanden, weitflächig militärisch abgeriegelt wurden. „Die sind hier nur in Zellen organisiert“, meint der eine AKP-Anhänger. „Offen auftreten können die hier nicht, die Bevölkerung hier würde sofort intervenieren. Kilis nutzen sie viel mehr als Durchgangsort denn als Rekrutierungsort.“
Mit Pauken und Trompeten in den Sumpf
Um 7:30 Uhr am nächsten Morgen stehe ich besorgt auf der Terrasse, trinke meinen Kaffee und sehe Rauch über Syrien aufsteigen. Es ist wie im Grand Hotel Absturz. Eine Dreiviertelstunde zuvor hatte mich die Unruhe in der Wohnung aufgeweckt. Kaum mache ich die Augen auf und frage die Kollegen, was los sei, heißt es: „Wir sind in Syrien einmarschiert.“ Es ist der Morgen des 24. August. Ein paar Stunden zuvor sind keine 20-30 Kilometer von uns entfernt Panzer und Kommandos des türkischen Militärs über Karkamış in Nordsyrien eingerückt.
Für die HDP-Parlamentsabgeordnetenkandidatin in Kilis, Tülay Sarıkabadayı, ist die Sachlage klar: die Türkei habe schon lange vorgehabt, gegen die Kurden in Syrien vorzugehen. „Es ist doch kein Zufall, dass gestern Barzani und heute Joe Biden die Türkei besucht haben, während hier gestern die Raketen niederregneten. Wir wissen doch aus den abgehörten Gesprächen, dass der türkische Geheimdienst MIT plante, Raketen auf türkisches Territorium schießen zu lassen, um einen Einmarsch zu provozieren. Das haben sie seit Monaten gemacht, nur hatten sie keine Zustimmung der USA. Die haben sie jetzt und deshalb marschieren sie ein.“
Weitere Raketen auf Kilis hat der staatspropagandistisch als großer Erfolg verkaufte Einmarsch jedenfalls nicht verhindert. Am 29. August regneten wieder sechs Raketen auf die Stadt nieder und verletzten sechs Menschen. Und nun die wirklich schlechte Botschaft: Die Raketen sind mit großer Wahrscheinlichkeit nur ein erster Vorgeschmack davon, wie der Krieg, den die Türkei nach Syrien hineingetragen hat, wieder zur Türkei zurückkehrt.
2https://onedio.com/haber/altinci-kez-roketin-dustugu-kilis-in-valisi-abdestsiz-disari-cikmiyoruz—705631.
3Kuvvet Lordoğlu, Mustafa Aslan, „En Fazla Suriyeli Göçmen Alan Beş Kentin Emek Piyasalarında Değişimi: 2011-2014”, in: Çalışma ve Toplum 2016/2, S. 798.