– Ein Interview mit dem politischen Kollektiv Dexpierte
Kolumbien hat, ebenso wie die meisten Länder Süd- und Mittelamerikas, eine lange Geschichte der blutigen Unterdrückung linker Befreiungsbewegungen. Exemplarisch dafür stehen die in den 70er und 80er Jahren von den USA gestützten Staatsstreiche und darauf folgende Militärdiktaturen, die im Rahmen der sogenannten Operation Condor ab 1975 linke Oppositionelle grenzübergreifend verfolgten. Bei der Methode des Verschwindenlassens selbst handelt es sich um eine paramilitärische/staatsterroristische Strategie als Reaktion auf die Aktivitäten linker Guerillas auf dem Kontinent. Hunderttausende wurden entführt, in Geheimgefängnissen gefoltert und an unbekannter Stelle verscharrt oder in Flüsse und Meere geworfen. Das kolumbianische Kollektiv Dexpierte versucht künstlerisch und öffentlich die Erinnerung an die Opfer des Staatsterrors wachzuhalten.
Jan Ronahi (LCM): Hallo Ana, du bist Teil eines politischen Kunst-Kollektivs, das sich auf Wandmalereien in der Öffentlichkeit spezialisiert hat. Eure Wandbilder thematisieren politische Themen und beziehen sich auf verschiedene politische Kämpfe. Kannst du uns mehr über eure Arbeit und die Idee hinter dem Projekt erzählen?
Das Kollektiv, in dem ich mitarbeite, nennt sich Dexpierte und existiert nun seit knapp 6 Jahren. Wir begannen damals zu zweit, sind heute aber zu dritt unterwegs. Seit dem Beginn unserer Arbeit haben wir viele unterschiedliche Projekte gemacht, die wir technisch mit den Techniken des Stenciling, aber auch Kalligraphie- und Tapeziertechniken durchgeführt haben. Wir wollen Grafiken entwerfen, die für die Menschen zugänglich sind und sie ansprechen, während wir uns inhaltlich vor allem mit der Rolle staatlicher Gewalt und staatlichem Terror befassen. In diesem Kontext liegt uns insbesondere die Erinnerung an die zahllosen Opfer staatlichen Terrors am Herzen. Viele unserer Werke kann man in Kolumbien finden, allerdings haben wir auch einige Wandbilder in Mexiko gemalt, da ich dort für eine Zeit gelebt hatte. Die Bilder dort sind im Kontext sozialer Kämpfe der Indigenas [1] und der Campesinos [2] entstanden. Normalerweise wird unser Projekt von sozialen Initiativen, politischen Projekten oder Nachbarschaftsinitiativen eingeladen oder wir arbeiten im Rahmen eines Festivals oder Straßenfests. Manchmal ziehen wir aber auch einfach so los, suchen uns einen geeigneten Ort und legen einfach los. Unsere Arbeit hat neben der künstlerischen und politischen natürlich auch eine pädagogische Dimension, da wir die Techniken an interessierte Menschen vermitteln, um das Projekt mit den Menschen gemeinsam umzusetzen. Zwar ist das Projekt nicht als eine Art Volksschule [3] konzipiert, es hat aber definitiv den Charakter einer kollektiven Übung.
Jan Ronahi (LCM): Kannst du uns noch etwas mehr dazu erzählen, welche politische Haltung ihr genau vermitteln wollt? Welche verschiedenen Aspekte hat denn z.B. das Thema der Erinnerungspolitik und wie fließen diese in eure Arbeit ein?
Im Prinzip malen wir in den meisten Fällen anonyme und tote Menschen. Einfach aus dem Grund, dass die meisten Menschen, die Opfer staatlichen Terrors wurden, bis heute anonym bleiben und damit als ein Beispiel für die vielen Opfer des Verschwindenlassens [4] und der Ermordungspolitik in Zentral- und Mittelamerika stehen. Im Falle jener Wandbilder, die sich mit den Kämpfen der Indigenas und Campesinos beschäftigen, benutzen wir Fotografien befreundeter Fotografen, um Gesichter zu malen. Auch diese sind mehrheitlich anonym, da sie nicht für eine Person oder ihre Leistung stehen, sondern für den jeweiligen sozialen Kampf und die Auseinandersetzung. Wir haben festgestellt, dass Latein- und Mittelamerika trotz den sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen und sozialen Kontexten und Entwicklungen eine gemeinsame Tradition des Widerstands aufweisen. Hinter unseren Projekten und den Wandgemälden steht nicht nur die Idee eine Art Erinnerungskultur für die Opfer staatlicher Gewalt, sondern auch den Willen zum Widerstand zu bestärken. Wir sehen uns daher als dezidiert politisches Projekt, da für uns der öffentliche Raum ein politischer Raum ist. Der öffentliche Raum ist es, in dem gesellschaftliche Konflikt auf unterschiedlichste Weise ausgetragen werden und unsere Wandbilder reflektieren eben diese Auseinandersetzung. Wir sind keine Künstler, wir sind in erster Linie Soziologen.
Jan Ronahi (LCM): Was ist die durchschnittliche Reaktion der Menschen auf eure Arbeit? Hattet ihr jemals Probleme mit staatlicher Repression?
Im Laufe unserer Arbeit waren wir nur zwei Mal wirklich mit problematischen Situationen konfrontiert. Meistens läuft das eher so ab, dass die Polizei auftaucht, uns darüber ,,informiert“, dass es illegal ist, die Wände zu bemalen und das wars dann. Einmal jedoch, in der Region Cauca [5], bekamen wir richtig Probleme mit dem kolumbianischen Militär und der Polizei, da wir ein Wandbild malen wollten, dass die regionale Polizei in Verlegenheit gebracht hätte. Die tauchten dann während der Arbeiten auf, konfrontierten uns in einer sehr harschen Art und Weise und nahmen uns für eine Aussage mit auf das Revier. Am Ende entstanden abseits der Unannehmlichkeiten am Tag selbst aber keine größeren Probleme. In einem anderen Fall malten wir mit einem befreundeten Künstler ein Wandbild in Bogota, das die historischen Führer der Union Patriotica (UP) [6] abbildete, die im Zuge der Massaker, die der kolumbianische Staat an der Partei in den 80ern verübte, ermordet wurden: Faustino López, Miguel Ángel Díaz and Jaime Pardo Leal. Die ersten beiden wurden Opfer des sogenannten Verschwindenlassens, wohingegen letzterer Opfer eines Attentats wurde. Die Idee hinter diesem Wandbild war, öffentlich an die Opfer des Staatsterrorismus zu gedenken und die Reaktion der Menschen darauf auszuwerten. Nun ja und die kam dann auch: Am nächsten Tag hatte eine faschistische Gruppe das Wandbild mit dem Keltenkreuz und dem Kommentar ,,Terroristen!“ gecrosst. Natürlich handelt es sich hier nicht um einen Fall unmittelbarer staatlicher Repression gegenüber öffentlicher Erinnerungspolitik, aber eben seitens der Ultra-Derecha [7]. Aber normalerweise sind wir mit solcherart Problemen eher selten konfrontiert. Eine Mehrheit unserer Arbeiten bleibt lange Zeit intakt.
Jan Ronahi (LCM): Was genau erwartet ihr von euren Projekten? Geht es da lediglich darum, Aufmerksamkeit für ein Thema zu schaffen und Leute einzubinden?
Die einzelnen Projekte sind als politische Statements im öffentlichen Raum zu betrachten, sie haben also ein stark demonstratives Element. Es geht darum einen öffentlichen Raum zu besetzen und ihn damit neu zu öffnen, mit den Menschen in Kontakt zu treten und sie in unsere Arbeit einzubinden, um darüber einen Ort zur Reflexion über das jeweilige Thema zu schaffen. Natürlich ist auch der ästhetische Aspekt zentral für die Projekte, da die Menschen meistens besonders von dem künstlerischen Teil des Entstehungsprozesses angezogen werden. Da die Wandbilder ein politisches Statement öffentlich sichtbar machen, kann diese Art von Projekten auch als irgendwie aggressiv wahrgenommen werden, da das Statement ja dauerhaft sichtbar bleibt und die Menschen damit auch alltäglich konfrontiert. Und unser politisches Statement sagt eben auch nicht weniger, als dass wir alle Teil des bewaffneten Konflikts in unserem Land sind und es kein außerhalb dieses Konflikts gibt, was eben auch heißt, dass es unsere Pflicht ist, die Wahrheit auszusprechen. Das ist es, worum es uns im Grunde geht.
Jan Ronahi (LCM): Habt ihr jemals mitbekommen, dass die Menschen von eurer Arbeit inspiriert wurden und selbst angefangen haben zu den Themen zu arbeiten oder sich gar zu organisieren?
Auf jeden Fall. Eine ganze Menge Menschen wurden auf sehr unterschiedliche Art und Weise von unseren Projekten bewegt und motiviert. Natürlich gibt es zunächst einmal eine ganze Menge Feedback, was die Wandbilder an sich, die Art und Weise ihrer technischen Herstellung und die politische Botschaft dahinter anbelangt. Ich kann mich aber auch an ein Projekt erinnern, das eine Gruppe junger Menschen dazu bewegt hat, eine Gruppe zu gründen, die ähnlich wie wir arbeitet. Andererseits gab es häufig auch Gründungen von kleineren Initiativen, Diskussionsrunden oder Kollektiven, die nicht unbedingt immer eine Haltung einnahmen, die wir in allen Bereichen teilen würden – sie arbeiten eben nach ihrem eigenen Kopf von unten nach oben.
Danke für deine Zeit Ana und viel Erfolg in Zukunft!
– Von Jan Schwab
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Anmerkungen:
[1] Mit Indigenas werden im südamerikanischen Diskurs die Mittel- und Lateinamerikanischen Völker bezeichnet.
[2] Mit Campesinos werden im südamerikanischen Diskurs im Allgemeinen die Landbevölkerung, im Besonderen die Landarbeiterschaft bezeichnet.
[3] Der Begriff popular bezeichnet im Spanischen in diesem Kontext einen Gegensatz zur herrschenden Kultur, Bildung etc. Er steht für eine Nähe zum Volk. Der Volksbegriff ist in der lateinamerikanischen Linken ein Klassenbegriff, er steht für die populären Klassen im Gegensatz zur Oligarchie und lässt sich im europäischen Maßstab wohl am ehesten mit Gramscis Subalterne übersetzen.
[4] Das Verschwindenlassen war eine systematische Auslöschungsstrategie lateinamerikanischer und mittelamerikanischer paramilitärischer Gruppen und Militär-Juntas, bei denen die Opfer entführt, verschleppt, umgebracht und in anonymen Gräbern verscharrt werden. Eine Identifikation der Täter ist damit kaum möglich. Exzessiv wurde diese Strategie im Rahmen des Plan Condor, einem von den USA finanzierten und von der Militär-Junta Chiles initiierten Programm zur internationalen und koordinierten Ausrottung jeder linken Opposition in ganz Lateinamerika, angewendet. Bis heute wurden diese Verbrechen nur unzureichend öffentlich aufgearbeitet.
[5] Cauca ist ein an der Pazifikküste gelegener kolumbianischer Verwaltungsbezirk im Südwesten des Landes. Die Pazifikküste gilt als historisch und aktuell hochgradig zwischen Guerillas und Paramilitärs umkämpftes Gebiet.
[6] Je nach Untersuchungsergebnissen und politischer Ausrichtung der Analysten geht man von 3000 – 5000 umgebrachten Polit-AktivistInnen bis Ende der 80er Jahre aus. Sogar bürgerliche, menschenrechtspolitische Analysen (die in einer extremismustheoretischen Art und Weise den Konflikt betrachten) gehen davon aus, dass 58% der Massaker im Konflikt von paramilitärischen Gruppierungen, d.h. de facto vom kolumbianischen Staat, begangen wurden; In dieser konservativen Zahl sind diesem Narrativ folgend noch nicht die offiziellen Massaker des Staates enthalten. (Siehe: ,,Basta Ya! Colombia: Memorias de Guerra y Dignidad“ (2013) Centro Nacional de Memoria Historica)
[7] Ultra-Derecha ist die in Kolumbien übliche Bezeichnung für die dem Paramilitarismus nahestehenden Gruppierungen und Parteien. Ihrer Funktion nach nehmen sie die Rolle faschistischer Gruppierungen und Parteien ein, sind jedoch was ideologische Tradition und Ausdruck angeht grundsätzlich verschieden von der europäischen Tradition. Sie wird in Kolumbien maßgeblich repräsentiert von Uribes Centro Democratico.