Widerstand gegen Krieg und Jihadismus im türkisch-syrischen Grenzgebiet

21. Juni 2016

Trotz aller Spannungen mit der Türkei besuchte Merkel im April ein „Modellflüchtlingslager“, Nizip 2, in der Türkei und meinte, die Türkei könne gar nicht genug gewürdigt werden dafür, was sie in der Flüchtlingskrise geleistet habe. Das passt gut zur Demagogie des türkischen Präsidenten Erdoğan, der die ganze Zeit davon redet, wie die Türkei für mehr als 2,5 Millionen Flüchtlinge aufkommt, allen die Tür öffnet und das Land ist, das sich am sorgsamsten und humansten um die Flüchtlinge kümmert, während Europa die Tore schließt. Eine Inszenierung der großen Politik, um den EU-Türkei-Deal als eine Menschheitsformel zu verkaufen. Eine Inszenierung, die die wirkliche Lage der Flüchtlinge in der Türkei und die desaströsen Auswirkungen des Syrienkriegs und der türkischen Syrienpolitik auf die Türkei selber verschleiert.

Die Lage im türkisch-syrischen Grenzgebiet sieht nämlich ganz anders aus als angepriesen: Das Grenzgebiet ist selbst Teil des Krieges geworden als logistisches Hinterland der von der Türkei unterstützten jihadistischen Gruppierungen wie IS, al-Nusra-Front oder Ahrar-al-Scham. Noch vor kurzem liefen deren militärische Einheiten mit IS-Fahnen oder FSA-Mützen und Militäroutfit durch das Stadtzentrum der historischen Stadt Antakya (Antiochia). Das Flüchtlingslager bei Apaydın ist offiziell ein militärisches Lager der FSA, zu dem niemand anderer einen Zugang hat, wofür das türkische Militär sorgt. Aus der Unterprovinz Reyhanlı berichtet die Bevölkerung davon, wie regelmäßig LKW-Kolonnen teils ohne Kennzeichnen bei Nacht über die Grenze in beide Richtungen verkehren, während der türkische Rote Mond und islamische Hilfsorganisationen wie die IHH für die Versorgung des Flüchtlingscamps Atme sorgen, das direkt an der Grenze liegt, von einer Mauer abgeschirmt ist und von der al-Nusra-Front und Ahrar-al-Scham dominiert wird. Dabei befinden sich zum Beispiel in der Provinz Hatay nur knapp 5% aller Flüchtlinge in Flüchtlingscamps. Über das Schicksal des Großteils der Flüchtlinge weiß keiner so wirklich Genaues zu berichten.

Karte der Provinz Hatay mit den Unterprovinzen.

Karte der Provinz Hatay mit den Unterprovinzen.

Dadurch, dass direkt auf der anderen Seite der Grenze jihadistische Banden ihr Unwesen treiben und ein konfessionell motiviertes Massaker nach dem anderen begehen und unterschiedliche regierungsnahe Personen und Medien in der Türkei Benzin in das Feuer gießen, machte sich großer Unmut und Furcht insbesondere in den nicht-muslimischen und nicht-türkischen Gemeinden in der Provinz Hatay breit: eine Provinz, die seit Jahrhunderten dafür bekannt ist, die unterschiedlichsten religiösen und ethnischen Gemeinden zu beherbergen. Während sich die alevitischen Gemeinden unmittelbar von einem Überschwappen des Krieges auf die Türkei bedroht fühlen (IS und al-Nusra haben Dutzende Massaker an arabischen Alawit*innen in Syrien begangen), möchten die Tscherkess*innen die Stadt verlassen und auch die Christ*innen fühlen sich nicht mehr sicher.

Unter diesen Umständen leistet die Bevölkerung vor Ort seit Jahren Widerstand gegen den Syrienkrieg und vor allem gegen den aktiven Part der Türkischen Republik darin, der darauf hinausläuft, jihadistische Banden in ihrem Kampf gegen Assad und die Kurd*innen und andere demokratische Kräfte zu unterstützen. Im Rahmen dieses Widerstandes gründeten sich 2015 die Volksräte (halk meclisleri). Sie sind ein Zusammenhang unterschiedlicher politischer und zivilgesellschaftlicher Organisationen und Individuen, die sich in Form von Bezirks- und Stadtteilräten organisieren, um eine selbstorganisierte Form der Macht der lokalen Bevölkerung aufzubauen und den Widerstand gegen die Kriegspolitik auf diese Macht gestützt und unabhängig vom Staat oder anderen großen Mächten zu führen. So organisierten die Volksräte letztes Jahr im Mai erfolgreich den Widerstand gegen das USA-Türkei-Gemeinschaftsprojekt einer Ausbildung von ausgewählten sogenannten „moderaten Rebellen“ (eğit-donat/train and equip) in der Türkei, um sie sodann gegen IS und Assad ins Feld zu führen. Das Projekt musste wegen des Widerstands teilweise abgebrochen werden.

„Wir werden uns weder den IS-Massenmördern, noch der kollaborierenden AKP beugen.“

Eine Abteilung der Volksräte, der Friedensratschlag gegen den Krieg (Savaşa Karşı Yaşam Hakkı Meclisi) bringt seit Anfang 2016 in regelmäßigen Abständen längere Berichte zu den Auswirkungen des Syrienkriegs und der türkischen Syrienpolitik auf die Region Hatay hervor, die sich mit der Lage der Flüchtlinge, jihadistischer Aktivitäten im Grenzgebiet, Auswirkungen auf die Wirtschaft, gesellschaftliche Polarisierung und anderen Themen beschäftigten. Bisher wurden zwei solcher Berichte angefertigt (sie wurden von labournet ins Deutsche übersetzt und sind hier und hier einzusehen). Wir trafen uns mit dem Journalisten und Koordinator der Berichte, Ali Ergin Demirhan, in Antakya während einer Veranstaltung des Friedensratschlags mit dem Aufruf „Bevor es für Hatay zu spät ist“ (Hatay için çok geç olmadan), bei der die bisherigen Berichte vorgestellt wurden und diskutiert wurde, wie weiter vorzugehen ist. Anbei das Interview, das wir mit Ali Ergin Demirhan geführt haben.

Ihr habt bisher zwei Berichte zu den Auswirkungen des Syrienkriegs und der türkischen Syrienpolitik auf die Region Hatay angefertigt, ein dritter wird bald erscheinen. Kannst du den Inhalt der Berichte im Allgemeinen kurz darstellen?

Wir befinden uns in Hatay am Rande des Krieges, aber genauso gut auch mittendrin. Am Rande, insofern der Krieg unmittelbar nebenan stattfindet; und mittendrin weil die Region hier zu einem logistischen Hauptquartier und Rückzugsort für die Jihadisten geworden ist. Die Region Hatay ist also von außerhalb einer unmittelbaren Gefahr ausgesetzt, andererseits wird sie aber auch negativ beeinflusst von der Politik im Inland, die den Krieg dort unterstützt. Das führt unmittelbar zu einer Gefährdung der Sicherheit des Lebens. Andererseits ermöglicht die Unterstützung der Jihadisten auf türkischem Boden, dass der Jihadismus auch auf die Türkei überschwappt und dass eines Tages das entsteht, was Hediye Levent einen „türkischen Jihadismus“ genannt hat. Die isolierte unsichere und von Ungleichbehandlung geprägte Situation der Flüchtlinge auf der türkischen Seite bietet hierbei einen wunderbaren Nährboden für die Jihadisten.

Es besteht zusätzlich eine andere Art von Gefahr. Hatay ist berühmt für seine Multikulturalität, dafür, dass es geprägt ist von einem geschwisterlichen Miteinander der unterschiedlichsten religiösen und ethnischen Gemeinschaften. Dieses geschwisterliche Miteinander ist nun gefährdet. Es gibt keine Jüd*innen mehr in Hatay, die Tscherkess*innen bekunden, dass sie das Gebiet verlassen und nach Russland gehen möchten. Sie sagen, „uns gehörte einst diese Stadt, dem ist nicht mehr so“. Die Alevit*innen und Christ*innen fühlen sich bedroht, das letzte Osterfest wurde unter Polizeischutz veranstaltet, die Sunnit*innen werden aufgehetzt und die Kurd*innen als Bedrohung, als potenzielle PKK-Mitglieder präsentiert.

Die Wirtschaft liegt natürlich brach. Die Region baute auf Landwirtschaft und Export landwirtschaftlicher Güter auf, beides ist massiv eingebrochen, logistische Dienstleistungen werden nicht mehr angeboten, es existiert kein geeignetes Umfeld für Investitionen. Die Einbrüche im Wirtschaftsleben wurden eine gewisse Zeit lang kompensiert von der Kriegswirtschaft, sprich zum Beispiel vom Öl-Schmuggel. Aber auch die Kriegswirtschaft ist mittlerweile eingebrochen.

Nimmt man all diese Gefahren zusammen – die kulturelle Entfremdung der unterschiedlichen ethnischen und religiösen Gemeinschaften voneinander, die ökonomische Not, usw. –, lässt sich absehen, dass in Zukunft Konflikte auf reaktionärere und rechtere Art und Weise ausgetragen werden. Das findet heute zum Beispiel als eine relativ kleine Auseinandersetzung auf dem Bazaar statt oder es werden syrische Arbeiter*innen seitens konkurrierender Arbeiter*innen angegriffen, obwohl oder gerade weil dieselben syrischen Arbeiter*innen von Unternehmer*innen vor Ort überausgebeutet werden. Aber was wird passieren, wenn mit der anstehenden Idlib-Offensive in Syrien die Jihadisten erneut scharenweise hier auftauchen und ihre internen Konflikte in den Städten hier austragen? Die von Jihadisten dominierten Flüchtlingslager an der türkisch-syrischen Grenze sind jetzt schon wie Pulverfässer, die jederzeit explodieren können, wenn sich zum Beispiel die Politik gegenüber der al-Nusra-Front verändert oder sich die Gefechte bis hierher ausweiten. Und dann gibt es noch die ganzen schlafenden Zellen des IS, der sich ja bisher nicht im Krieg mit dem türkischen Staat befindet. Was dann passiert, wenn sich diese Zellen aktivieren, lässt sich nicht absehen. Der Anschlag in Reyhanlı1 war jedenfalls ein bloßer Vorbote dessen, was uns bevorsteht, sollte sich der IS dazu entscheiden, hier aktiver zu werden.

In den Berichten ist davon die Rede, dass insbesondere ab dem 24. November 2015 und dem 3. Februar 2016 eine erhöhte Gefahrensituation in Hatay vorherrscht. Warum?

Am 24. November 2015 erreichten die Spannungen zwischen Russland und der Türkei einen vorläufigen Höhepunkt mit dem Abschuss eines russischen Bomberjets seitens der türkischen Luftwaffe. Um diesen Zeitraum herum intensivierte sich die Bombardierung der Jihadisten in Syrien aus der Luft, was sie natürlich scharenweise in die Türkei, vor allem nach Yayladağı trieb.

"Stopp dem Kriege!"

„Stopp dem Kriege!“

Am 3. Februar 2016 wurde die Hauptverbindungslinie zwischen Gaziantep und Aleppo gekappt. Damit wurde ebenfalls die Verbindung einiger von der Türkei unterstützter jihadistischer Gruppen um Idlib herum und nördlich von Aleppo innerhalb von Syrien gekappt. Das führte dazu, dass diese Gruppen ihre Verbindungslinien über die Türkei, um genauer zu sein: über die Achse Hatay-Kilis wiederaufbauten. Auch diesmal verkehrten wieder scharenweise Jihadisten und Zivilisten, die gezwungenermaßen oder freiwillig in von Jihadisten kontrollierten Gebieten lebten, in der Türkei.

Diese beiden Daten bezeichnen also Wendepunkte aus der Betrachtung der Auswirkungen des Syrienkriegs und der türkischen Syrienpolitik auf die Region Hatay. Seitdem ist eine Zunahme von Jihadisten und die Errichtung jihadistischer Hauptverbindungsachsen in unserer Region zu verzeichnen.

Wie schaut es mit der Situation der Flüchtlinge aus? Erdoğan redet ja die ganze Zeit davon, dass die Türkei alle Türen öffnete und das Land sei, das am besten und menschlichsten mit den Flüchtlingen umgehe, während Europa die Türen schließe. Auf der anderen Seite schließt die EU mit der Türkei einen Flüchtlingsdeal ab, Merkel besucht das „Vorzeigelager“ Nizip 2 und preist die Türkei für ihre humanitären Bemühungen. Läuft hier alles wirklich so toll ab wie behauptet?

Im Hatay befinden sich in etwa 400.000 syrische Flüchtlinge. Ich sage „in etwa“, weil niemand weiß wirklich wie viele es genau sind. Von diesen Flüchtlingen leben jedenfalls knapp 18.000 in Flüchtlingslagern. Vielleicht sind es mit den neuesten Lagern mehr geworden. Die Türkei akzeptierte schon lange keine Flüchtlinge mehr, eine Politik der offenen Tür gibt es seit 1,5 Jahren nicht mehr und im Konkreten fällt die Grenzpolitik von Tag zu Tag unterschiedlich aus. In letzter Zeit werden öfters neu ankommende Flüchtlinge gefoltert, verwundet oder gar ermordet. Normalerweise werden sie zurückgeschickt in Lager direkt an der Grenze oder auf der syrischen Seite, womit sie de facto Ahrar al-Sham übergeben werden.

Was die Unterbringung der Flüchtlinge angeht: Wie gesagt, von den knapp 400.000 Flüchtlingen sind nur in etwa 20.000 in Flüchtlingslagern untergebracht. Die restlichen sorgen privat für ihre Unterkunft aber wo und wie, das weiß niemand so genau. Einige kommen in Barracken oder alten Scheunen unter. Diese ungünstige Situation der Flüchtling wird natürlich missbraucht und ausgenutzt.

Ansonsten bekommen die anerkannten Flüchtlinge Lebensmittelmarken im Wert von 400 bis 500 TL [umgerechnet etwa 150€, Anm. A.K.] für jeweils 3 Monate, mit denen sie bei bestimmten Supermärkten einkaufen gehen können. Das Gesundheitssystem können sie vollständig in Anspruch nehmen, allerdings ist der Staat gegenüber den Krankenhäusern in der Gegend hoch verschuldet. Es stellt sich die Frage nach der Nachhaltigkeit dieser Herangehensweise.

Was die Bildungssituation angeht, bekommen die Flüchtlingskinder zwar Unterricht, aber nach Unterrichtsplänen, die nicht laizistisch sind und von denen nicht klar ist, wer sie entlang welcher Prinzipien erstellt.

Was Arbeitsmöglichkeiten angeht, sind die Flüchtlinge klar benachteiligt und werden ungleich behandelt. Daraus entsteht erstens ein Missbrauch ihrer Notsituation und zweitens eine Fremdenfeindlichkeit und Konkurrenz unter den Völkern.

Vor allem die Jugendlichen reagieren heftiger auf diese Situation. Was hieraus in 5 bis 10 Jahren entsteht, lässt sich nicht vorhersagen, aber die Situation bietet, wie schon erwähnt, einen Nährboden für den türkischen Jihadismus. Es wird ja kein Mensch als Jihadist geboren, eine solche Einstellung entwickelt sich erst unter bestimmten Umständen und die gibt es hier und es gibt auch die kriminellen und jihadistischen Organisationen, die die Entwicklung solcher Einstellungen befördern.

In den Berichten ist die Rede von Flüchtlingslagern, die die Türkei auf der syrischen Seite der Grenze angelegt hat.

Die Sache ist so: Regelmäßig werden zwar noch auf dem Gebiet der Türkei aber direkt an der Grenze zu Syrien Mauern gebaut. Direkt an diesen Mauern befinden sich Flüchtlingslager, z.B. dasjenige von Atme, das sich auch auf die syrische Seite hin ausstreckt. Gebaut und unterstützt werden diese Lager vom Roten Mond in der Türkei und der IHH (Insan Hak ve Hürriyetleri ve Yardım Vakfı, deutsch: Stiftung für Menschenrechte, Freiheiten und humanitäre Hilfe). Der Staat schafft sich hiermit eine sichere Zone: Das Flüchtlingsproblem wird auf die andere Seite der Grenze verschoben, andererseits werden so die Jihadisten geschützt. Die Türkei investiert somit in die Zukunft des Krieges. Syrer*innen, die aus Idlib vor dem Krieg fliehen, werden in der Provinz Altınözü aufgefangen und per Minibus in das Camp bei Atme gebracht.

Und wie verhält es sich jetzt genau mit den Jihadisten und ihren Aktivitäten in der Region Hatay? In den Berichten redet ihr davon, dass Flüchtlinge und zivile Personen schikaniert und davon abgehalten werden, in die Türkei zu kommen, und dass die einzigen, die sich frei bewegen können, die Jihadisten sind.

Wir wissen nicht genau welche Abteilungen der türkischen Streitkräfte oder des Geheimdienstes es sind, die aktiv die Jihadisten unterstützen. Aber wenn wir zusammentragen, was wir aus bestimmten Quellen mitbekommen haben, was die Jihadisten selbst sagen und was man in der regierungsnahen Presse lesen kann, dann ergibt sich ein einheitlichen Bild.

Es gibt derzeit, soweit wir das wissen, 3 aktive Übergangspunkte für die Jihadisten an der syrisch-türkischen Grenze: einmal in Güveçci an der östlichen Grenze der Provinz Yayladağı. Wer aus Idlib oder Latakia flieht, der kommt über diesen Kontrollpunkt in die Türkei. Der offizielle Grenzübergang bei Cilvegözü hingegen wird zumeist von der al-Nusra-Front genutzt. Beim Flüchtlingscamp bei Atme hingegen befindet sich de facto ein weiterer Grenzübergang, der von einem Wachtposten der Türkei kontrolliert wird. Hier passieren regelmäßig LKWs in beide Richtungen die Grenzen. Wir gehen davon aus, dass dies unter Kontrolle des türkischen Geheimdienstes geschieht. Auch wird von syrischer Seite oft vom Grenzübertritt bewaffneter Menschen in die Türkei berichtet. Wir haben leider nur sehr wenig Bild- und Videomaterial, da die Grenzübertritte fast ausschließlich bei Nacht geschehen.

"Steh auf gegen Al-Nusra-Front und FSA"

„Steh auf gegen Al-Nusra-Front und FSA“

An allen drei genannten Grenzpunkten finden regelmäßig Grenzübertritte statt: mal organisiert, mal staatlich toleriert, mal aber auch illegal. Der Gouverneur von Hatay sprach einmal von 500 bis 1.500 illegalen Grenzübertritten pro Tag. Ein Teil der Grenzübertritte wird von Fliehenden getätigt, ein anderer Teil aber sind regelmäßige Übertritte in beide Richtungen. Zudem fanden vor allem ab dem 3. Februar 2016 regelmäßig Lieferungen für die Gebiete nördlich von Aleppo statt, die sich unter Kontrolle von Jihadisten, die von der Türkei unterstützt werden, befinden. Diese Lieferungen kommen teils vom Hafen aus Mersin über Iskenderun bis an die Grenze. Damals konnte man ganze LKW-Kolonnen oder Kolonnen von Mitsubishi-Jeeps ohne Kennzeichen an die Grenze fahren sehen.

Ansonsten lässt sich festhalten, dass jihadistische Kämpfer in allen Krankenhäuser in der Gegend verarztet werden und dass unter dem Deckmantel islamischer Hilfsorganisationen wie der IHH Hilfsgüter an die Jihadisten überbracht werden.

Eine andere Sache ist die, dass als jihadistische Terroristen klassifizierte Personen, die festgenommen werden, recht zügig in Drittländer abgeschoben oder in andere Städte der Türkei gebracht werden. So geschehen mit dem Attentäter von Brüssel. Es werden auch regelmäßig Jihadisten in die Ukraine abgeschoben.

Gibt es Orte, die man als Zentren der Jihadisten benennen kann?

Die Provinz Idlib ist dominiert von Ahrar-al-Scham und der al-Nusra-Front. Aber Ahrar-al-Scham ist mehr so ein Instrument, da die al-Nusra-Front ja international als Terrororganisation eingeschätzt wird. Das Flüchtlingslager bei Atme wird zum Beispiel von der al-Nusra-Front dominiert, aber es wird so getan, als ob sich Ahrar-Al-Scham und al-Nusra-Front das Lager teilen, damit dort einfacher Lieferungen seitens der Türkei hingeschickt werden können. Aber auch in der türkischen Stadt Reyhanlı gibt es große Sympathien für die al-Nusra-Front und der IS organisiert sich hier, vor allem unter den Jugendlichen. Auch in den Dörfern um Reyhanlı lässt sich ähnliches beobachten.

Vom Flüchtlingslager Apaydın in Hatay steht fest, dass es ein Zentrum der FSA ist. Die FSA hat das selbst öffentlich so gesagt und es ist ein militärisches Lager, wo ehemalige Kämpfer der FSA und Familien von FSA-Kämpfern untergebracht sind. Der türkische Staat lässt uns nicht in das Lager hinein. Die al-Nusra-Front konnte man vor allem im Jahre 2012 sehr deutlich im Stadtbild von Antakya erkennen. Früher liefen sie mit FSA-Mützen und jihadistischem Look durch die Gegend. Mittlerweile hat sich das geändert, sie agieren versteckter. Aber auch heute sind sie noch gut organisiert, vor allem unter den Flüchtlingen.

Was ist mit den nicht-muslimischen Gemeinden im Gebiet Hatay, insbesondere die Aleviten und Christen? Jeder weiß, dass die Jihadisten in Syrien die grausamsten Massaker begehen an denen, die sie für Ungläubige halten, worunter für sie insbesondere Aleviten, Christen, Jeziden, usw. fallen. Sorgt diese erhöhte jihadistische Präsenz und Aktivität nicht für Unmut und Angst unter den Aleviten und Christen?

Offen gedroht wird den Aleviten, wenn auch weniger im Format à la „wir bringen euch alle um“. Es wird oft gehetzt mit Meldungen über Gräueltaten des nusairischen Regimes [Angehörige der Alawiten in Syrien werden Nusairier genannt und das Regime von Assad üblicherweise als nusairisch bezeichnet, Anm. A.K.] seitens der Jihadisten aus Syrien aber auch aus regierungsnahen Medien aus der Türkei, die die Aleviten oft als „abnormal“ bezeichnen.

Das nahm besonders im Februar 2016 groteske Züge an. Da sprachen die diversesten Zeitungen wie Aydınlık, Yeni Şafak und Yeni Akit davon, dass die Aleviten Waffen in Cemevis [alevitische Glaubensstätten, A.K.] sammeln, während der ehemalige CHP-Vorsitzende Deniz Baykal davon sprach, dass Aleppo ein Zentrum der Sunnit*innen sei und es deshalb geschützt werden muss vor einer möglichen Rückeroberung seitens der syrischen Armee.

Es findet also eine strömungsübergreifende Verteuflung der Alevit*innen statt und es wird versucht, die Gesellschaft zu polarisieren. Die Zunahme dieser Drohkulisse führt auf der andere Seite zu einem Rückzug der Alevit*innen in ihre eigene Gemeinschaften.

11265254_483625808457487_8454215186892720724_nBei den Christ*innen ist es so, dass sie sich zwar als ursprüngliche Einheimische der Stadt verstehen, in der Tat zu den besser Situierten in der Stadt gehören und auch ökonomisch betrachtet nicht aus der Stadt wegzudenken sind. Aber tonangebend im gesamten Land sind sie nicht. Deshalb sind auch sie vorsichtig. Kein*e Christ*in wird, wenn du ihn oder sie offen fragst, sagen, dass er daran denkt, zu fliehen. Aber du kannst dir sicher sein, dass sie alle ihre Pässe beantragt haben [in der Türkei ist es üblich, nur den Personalausweis zu besitzen, da der Pass nur für Auslandsreisen gebraucht wird, die jedoch üblicherweise sehr selten getätigt werden; Anm. A.K.].

Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass sich alle religiösen Minderheiten außer der dominierenden sunnitisch-islamischen Gemeinschaft zwar nicht zum ersten Mal mit konfessionell bedingten Gefahren konfrontiert sehen, die Gefahr diesmal aber zunimmt.

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* Bericht und Interview von Alp Kayserilioğlu

1 Am 11. Mai 2013 detonierten zwei Autobomben in der Grenzstadt Reyhanlı und töteten zwischen 51 und 300 Menschen. Die türkische Regierung sprach von einem „linksextremistischen Anschlag im Auftrag des syrischen Geheimdienstes“, der leak eines Gendarmeriedokuments lässt aber darauf schließen, dass es ein Anschlag der al-Nusra-Front war, um die Türkei in den Syrienkrieg hineinzuziehen. Aus dem leak geht ebenfalls hervor, dass die Gendarmerie vom bevorstehenden Anschlag wusste.

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