Eine zumindest zeitweilige Übereinkunft der Gegner Erdogans wäre längst notwendig. Die kurdische Befreiungsbewegung und Teile der türkischen Linken sind dazu bereit. Doch andere entscheidende Kräfte sperren sich – und arbeiten am eigenen Untergang.
Der Plan, den der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan verfolgt, könnte offensichtlicher nicht sein. Innenpolitisch arbeitet er an der Zentralisierung aller militärischen und politischen Machtmittel bei sich und seinem Umfeld. Dabei hat er sich geschickt angestellt: Erst stellte er zusammen mit der Bewegung des exilierten Imams Fethullah Gülen die alten kemalistischen Eliten kalt, dann fiel auch der Imam in Ungnade und die Gülen-Bewegung wurde entmachtet. Linke Opposition, Presse, Reste einer ihm nicht völlig untergebenen Justiz drängte er durch massenhafte Repression und Gewalt ins Abseits. Das Präsidentialsystem als auch formale Festschreibung des de facto vollzogenen Staatsstreiches soll „auf jeden Fall“ kommen, heißt es aus dem Prunkpalast, den sich Erdogan als architektonische Verkörperung seines Herrschaftsanspruches errichten ließ.
Außenpolitisch lässt sich das Projekt, das den Möchtegern-Sultan und seine Verbündeten antreibt, als neoosmanischen Versuch der Etablierung der Türkei als relativ eigenständiger regionaler imperialistischer Macht beschreiben. „Das letzte Jahrhundert war für uns nur ein Einschub. Wir werden diesen Einschub beenden“, hatte der mittlerweile geschasste Premier Ahmet Davutoglu einmal bekundet. „Wir werden Sarajevo wieder mit Damaskus verbinden, Benghazi mit Erzurum und Batumi.“ Deutlich zeigen sich diese Ambitionen in Syrien, wo die türkische Regierung seit langem Stellvertreter-Milizen unterhält und auf eine Chance wartet, auch direkt selbst intervenieren zu können.
Innen- wie außenpolitisch hat die Politik des Erdogan-Regimes der Regierung in Ankara viele Feinde beschert. Den entschiedensten Widerstand leistet im Moment die kurdische Befreiungsbewegung in der Türkei. Sowohl ihre zivilen Organisationen und Parteien, wie ihre Guerilla rund um die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und deren Volksverteidigungskräfte (HPG) kämpfen verzweifelt gegen den Vernichtungswillen des faschistischen Systems.
CHP, quo vadis?
Doch: Sie sind dabei nahezu alleine. Einige Gruppen der revolutionären türkischen Linken unterstützen sie, mittlerweile auch bewaffnet, wie kürzlich militante Aktionen in Giresun zeigten. Die größte Oppositionspartei aber, die kemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) laviert ohne wirkliche Strategie hin und her.
In Istanbul trafen wir vor einigen Wochen Kenan Otlu, einen Parteilinken der CHP, zum Gespräch. Otlu war von der Erdogan-Presse übel gehetzt worden, weil er sich erlaubt hatte, zu sagen, man müsse „Schulter an Schulter“ gegen Faschismus stehen. Er sei ein „CHPler, der wie ein PKKler redet“ schmierte daraufhin die Hofpresse. Otlu selbst erklärt sein Zitat so: „Ich habe nur darauf hingewiesen, dass der Terror im Südosten des Landes etwas damit zu tun hat, wie die AKP seit dem 7. Juni [2015, Wahlen, d.Red.] agiert hat.“
Die Position der CHP zu den Auseinandersetzungen im Südosten der Türkei beschreibt er so: „Seit den ersten Tagen des Konfliktes haben wir eine eindeutige Position dazu. (…) Unser zentrales Argument ist, dass die Lösung des Problems im Parlament zu erfolgen hat, und nirgendwo anders.“ Die CHP als die „Gründungspartei der Nation und der modernen Türkei“ sei als einzige dazu in der Lage mit allen Parteien gemeinsam, AKP, faschistischer MHP und linker kurdischer HDP im Parlament eine Lösung der „Kurdenfrage“ zu finden.
Wie diese Lösung aussehen soll, dazu sagt auch Otlu nichts. Wenige Tage nach unserem Gespräch gab die CHP, gemeinsam mit AKP und MHP, in einem Ausschuss grünes Licht für den Vorschlag Erdogans, die HDP mittels Aufhebung der Immunitäten aus dem Parlament zu drängen.
Das ist insofern erstaunlich, als im Grunde die CHP schon aus eigenem Überlebensinteresse ihre überkommenen Ressentiments gegen die kurdische Bewegung überwinden müsste. Denn sollte Erdogan in der Lage sein, die kurdische Bewegung entscheidend zu schwächen, wird wohl die Republikanische Volkspartei als nächstes in den Fokus geraten. Zudem kratzen stimmen aus der AKP in letzter Zeit häufiger an einem der für die CHP höchsten Güter des türkischen Staates: Sie überlegen, ob der Laizismus noch zeitgemäß sei oder ob es nicht eine dezidiert islamische Verfassung brauche. Wäre in Sachen Laizismus nicht die HDP der natürliche Bündnispartner, fragen wir Otlu. Man arbeite mit allen zusammen, aber eigentlich seien auch hier „mehr Gemeinsamkeiten mit der MHP“.
Überraschend ist das nicht. Die CHP war nie eine Partei, die durch besonderes Verständnis für die kurdische Bewegung aufgefallen wäre. Zwischen beiden Seiten existiert kein Vertrauen, politische Inhalte unterscheiden sich stark. Dennoch ist die kurdische Seite bereit, Experimente zu wagen, um Erdogans Diktatur gemeinsam entgegenzutreten. So brachte Bese Hozat, Ko-Vorsitzende der Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK) kürzlich die Idee eines Wahlbündnisses zwischen HDP, CHP und der kleineren sozialistischen ÖDP ins Spiel: „Alle demokratischen Kräfte, alle Kräfte, die die Demokratie schützen wollen“, so die kurdische Aktivistin, sollten sich gemeinsam gegen das Vorhaben Erdogans stellen.
Ob die anderen Kräfte ernsthaft über dieses Angebot nachdenken, ist ungewiss. Zu raten wäre es ihnen, wenn schon nicht aus Solidarität mit denen, die im Moment am meisten unter der Erdogan-Dikatur leiden, dann zumindest aus einem Selbsterhaltungswunsch heraus.
Die schändliche Grenzschließung
Ähnlich, wenn auch unter anderen Vorzeichen, verhält es sich im Süden Kurdistans, der kurdischen Autonomieregion im Norden des Iraks. Hier regieren zwar kurdische Parteien, leider vor allem aber eine Clique rund um den Präsidenten der Autonomieregion, Masud Barzani. Dieser pflegt nicht nur enge Beziehungen zu den USA und Europa, sondern eben auch zur Türkei Recep Tayyip Erdogans. Barzani ist ein scharfer Gegner der PKK, die allerdings auch hier im Süden viele Anhängerinnen und Anhänger hat.
Er verfolgt nicht nur Aktivisten, die zum Beispiel dem syrisch-kurdischen Gebiet Rojava verbunden sind, sondern ist auch mit den Luftangriffen, die die Türkei auf das Kandil-Gebirge im Nordirak fliegt, einverstanden. Und: Er hat die Grenze zu Rojava geschlossen. Damit riegelt er hermetisch ein kurdisches Gebiet von einem anderen ab. Er erschwert das Überleben des Aufbaus der demokratischen Autonomie in Rojava damit ungemein.
Die Grenzschließung sowie generell die Kollaborationspolitik Barzanis haben innere wie äußere Gründe: „Es gibt vor allem durch die USA und die Türkei einen enormen Druck auf die Regierung Südkurdistans, was wahrscheinlich ausschlaggebend für die Grenzschließung gewesen ist. Aber auf der anderen Seite möchte die KDP auch nicht, dass in Rojava oder woanders eine andere kurdische Macht stark wird. Es ist nun mal so, dass sobald jemand an der Macht ist, möchte er sie nicht mehr verlieren“, analysierte Şilan Eminoğlu, die HDP-Vertreterin in Erbil kürzlich im Gespräch mit lcm.
Diese Art der Politik wird, entgegen aller Rhetorik, über kurz oder lang das kurdische Autonomiegebiet im Nordirak selbst gefährden. Denn Erdogans Ambitionen erstrecken sich auch bis Kirkuk und Mossul. Barzani könnte dann als jener kurdische Führer in die Geschichte eingehen, der die mit viel Blut erkämpfte Unabhängigkeit der nordirakischen Kurden auf dem Altar der Kollaboration geopfert hat.
Doch auch in Südkurdistan besteht Hoffnung. Das Verhältnis zwischen der neben der KDP zweiten großen Kraft im Land, der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) und der PKK, die oft auch in dieser Gegend militärisch gegen den IS ausgeholfen hat, ist gut. Zwar ist der Handlungsspielraum der PUK beschränkt, aber zumindest stellt sie sich in Stellungnahmen klar gegen Barzanis Grenzschließung zu Rojava.
– Von Peter Schaber, Fotos: lcm