Eine Reportage aus Diyarbakir nach dem Ende der Ausgangssperre
In den westlichen Teil des Altstadtbezirks Sur der Kurdenmetropole Diyarbakir (Amed) ist das Leben zurückgekehrt. Vor einigen Wochen waren auch hier die Läden geschlossen, die Lokale leer. Die Menschen gingen nur vorsichtig auf die Straße, denn in der anderen Hälfte herrschte Ausgangssperre und so mordeten und bombten die türkischen Sicherheitskräfte. Der östliche Teil Surs ist immer noch abgesperrt, aber im westlichen kann man, trotz starker Polizeipräsenz, wieder Lahmacun und Leber essen, Cay und Ayran trinken.
Doch die Ruhe trügt. Der Krieg ist nicht vorbei. Er hat sich verlagert, nach Nusaybin und Sirnak, und zu jenen Guerilla-Aktionen, die die Volksverteidigungskräfte HPG in Unterstützung des Widerstands der städtischen Milizen in den letzten Tagen und Wochen durchführten.
In Diyarbakir gibt es, seit die Militärmaschinerie der Besatzer den langdauernden Widerstand beendete, keine Gefechte mehr. Der Belagerungszustand aber hält an. Die östliche Hälfte Surs ist immer noch abgesperrt, inmitten der kleinen Straßen, die von der zentralen Gazi Caddesi ostwärts führen, endet mit einem Mal die Bewegungsfreiheit: Polizeistellungen, bewacht von Bullen mit Maschinengewehren, zerteilen den historischen Bezirk in der Mitte.
Auch in den offen zugänglichen Bereichen ist die Präsenz uniformierter und ziviler Sicherheitskräfte hoch. Rund um Sur gibt es Checkpoints, überall sieht man die gepanzerten Akreps und Cobras durch die Straßen fahren, Wasserwerfer stehen an Kreuzungen. Für die Menschen hier ist das zwar längst Normalität, gewöhnen wollen sie sich aber nicht daran. Die türkischen Sicherheitskräfte sind hier niemandem willkommen. Denn man weiß, warum sie auch nach Ende der Gefechte noch hier sind. Sie sollen die eigenständige, demokratische Organisierung der Bevölkerung unterbinden. Und in Sur noch mehr: Hier bleiben sie, weil der Staat alle (!) Gebäude beschlagnahmt hat und die großangelegte Vertreibung der Bewohner organisieren will. „Wir sind arm hier. Sie wollen unsere Häuser abreißen, aber die neuen, teuren, die sie bauen werden, können wir uns nicht leisten“, erzählt uns ein junger Mann im Gebäude der kurdischen Halk Meclise (Volksversammlung). „Deshalb werden wir Widerstand leisten.“
Die Wunden, die der brutale Angriff des Erdogan-Regimes geschlagen hat, sind in Sur allgegenwärtig. Wenige Minuten entfernt von der Halk Meclise besuchen wir für kurze Zeit das Dicle-Firat-Kulturzentrum. Wir sprechen mit einigen Männern, die unter einem Banner sitzen. Auf dem Banner sehen wir Profilbilder von Jugendlichen, einige noch Kinder: Turgay Gircek, Rozerin Cukur, Mahmut Oruc, Hakan Aslan, Cihat Morgül, Gündüz Amese, Welat Bilen, Erhan Keskin, Ramazan Ögüt. Sie alle hat der türkische Staat ermordet. Die Männer, die hier sitzen, sind ihre Väter. „Rozerin war 17, als sie starb“, erzählt uns Mustafa Cukur. „Monatelang konnten wir nicht einmal ihre Leiche bergen und sie ordentlich begraben.“ Ein Kopfschuss tötete die Schülerin während der Zeit der Ausgangssperre.
Sie alle, die uns hier gegenüber sitzen, haben unendliches Leid erfahren. Und an uns als Deutsche haben sie alle dieselbe Frage: „Wieso unterstützt euer Land das? Wieso hilft Deutschland Erdogan beim Morden?“ Zu leicht würden wir es uns machen, wenn wir sagten: „Wir haben damit nichts zu tun, es ist ja unsere Regierung, nicht wir.“ Sicher. Aber haben wir es verhindert?
Das permanente Töten und Sterben hat hier tiefe Spuren in der Psyche einer gesamten Gesellschaft hinterlassen. Wer hier aufwächst, wächst nicht nur mit den Geschichten auf, die die Älteren zu erzählen haben, den Geschichten von Vertreibung, Erniedrigung und Gewalt. Wer hier aufwächst, wächst damit auf, dass Verwandte und Freunde sterben, gefoltert oder für lange Jahre in düstere Kerker gesperrt werden.
Und dennoch kann die Gewalt, mit der die Türkei hier seit Jahrzehnten versucht, die kurdische Befreiungsbewegung zu brechen, nicht obsiegen. Im Gegenteil: Der ungezügelte Hass, mit dem die wechselnden Regierungen hier wüten, schafft sich von Generation zu Generation erneut die eigenen Gegner. „Schon die Kinder lernen eines sehr schnell: Wer Freund ist, und wer Feind“, sagt uns eine Freundin, als wir durch die Straßen spazieren. „Sie lernen das, weil es ihnen der Staat Tag für Tag vor Augen führt.“ Als sie das sagt, erinnere ich mich an Zeichnungen von Kindern, die ich bei meinem letzten Besuch in Nusaybin gesehen hatte. Sah man auf den Kunstwerken der 7- bis 10-Jährigen Bewaffnete, konnte man leicht unterscheiden, welcher Seite sie zugehörten: Kämpfer der kurdischen Zivilverteidigungseinheiten trugen einen lachenden Strichmännchenmund, die türkischen Spezialeinheiten einen nach unten verzogenen.
- Von Peter Schaber, Bilder Karl Plumba