Verzweiflung und Hoffnung: Die Linke in der Westtürkei und der Kampf der kurdischen Befreiungsbewegung
„Was sollen wir tun, Abi? Die Lage ist zum Haare raufen“, sagt unser langjähriger Freund Ahmet, während wir in Besiktas bei Meze und Raki sitzen. „Wenn ich nicht wüsste, dass ich ein schlechtes Gewissen hätte, wenn ich da bleibe, würde ich zuhause bleiben.“ Der 1. Mai steht bevor. Der Kampftag der Arbeiter*innenklasse stand dieses Jahr von vornherei klar im Zeichen der Schwäche der radikalen Linken in der Westtürkei. Die wurde schon im Vorfeld durch die Entscheidung der großen linken Gewerkschafts- und Berufsverbände DISK, KESK, TMMOB und TTB dieses Jahr nicht dazu aufzurufen, sich vor der DISK-Zentrale in Istanbul-Sisli zu versammeln, um sich zum wieder einmal für Kundgebungen gesperrten Taksim-Platz durchzukämpfen. Stattdessen wurde in Absprache mit den Behörden eine legale Kundgebung in Istanbul-Bakirköy ausgehandelt.
Ahmet gehört zu jenen Aktivist*innen, die Bakirköy für einen Verrat halten. „Wir brauchen die Riots. Wenn das Tränengas kommt, ist es paradoxerweise der einzige Moment, in dem man in diesem Land noch atmen kann.“ Wir kennen viele, die so denken. Die sich aus den Organisationen zurückgezogen haben, weil ihnen das Festhalten an den jeweiligen Traditionen und überkommenen Konzepten keine Perspektive mehr gibt, die aber dennoch kämpfen wollen, weil ihnen das Leben im Faschismus unerträglich geworden ist.
Auf der anderen Seite muss man zugestehen: Der Deal, den die Gewerkschaften gemacht haben, um sich einigermaßen friedlich irgendwo sammeln zu können, hat Gründe: Seit 2013 wurde der Belagerungszustand durch die türkische Polizei Jahr für Jahr verschärft. Zehntausende Einsatzkräfte mit hunderten gepanzerten Fahrzeugen und Wasserwerfern riegelten selbst die Vortreffpunkte hermetisch ab, öffentliche Verkehrsmittel und Fähren wurden gesperrt. Das Eskalationsniveau war so hoch, dass viele nicht mehr in der Lage waren, überhaupt an den Demonstrationen teilzunehmen. Die Zahl derer, die erbittert versuchten, zum Taksim durchzukommen oder dem Gegner wenigstens eine richtige Schlacht zu liefern, sank von Mal zu Mal.
In der Defensive
Und auch dieser 1. Mai dokumentiert die Defensive, in der sich die Arbeiterbewegung und die revolutionäre Linke in der Westtürkei befinden. In Bakirköy kommen etwa 20 000 Menschen zusammen, was hinter den Erwartungen zurückbleibt, aber auch mit dem Trauma zu tun hat, in das die Bombenattentate von Suruc und Ankara die Linke gestürzt hat.
Jenseits der erlaubten Pfade sieht es nicht besser aus. Einige kleinere wie größere Organisationen aus verschiedenen Traditionen versuchten über Sisli zum Taksim durchzudringen. Da gab es zum einen die in Istanbul größte Kraft der revolutionären Linken, die marxistisch-leninistische Volksfront (Halk Cephesi), die von vornherein Bakirköy als „Kapitulation“ ablehnte und dort gar nicht erschien. Ähnlich verhielt sich die größte anarchistische Gruppe, Devrimci Anarsist Faaliyet (DAF). Dann gab es Gruppen, die einen Teil ihrer Militanten nach Sisli schickten – wie Kaldirac oder die Halk Evleri -, einen Teil trotz kritischer Erklärungen an der erlaubten Kundgebung teilnehmen ließen.
Die Versuche, den Taksim zu erobern, blieben allesamt symbolisch. Halk Cephesi hatte dutzende Verhaftungen zu verzeichnen, Halk Evleri versuchte mit einigen dutzend Aktivisten einen Überraschungsmoment zu nutzen und wurde gestoppt. Allein die sich um zehn Uhr an der Metro-Station Zincirlikuyu sammelnde Masse aus der Bauarbeitergewerkschaft Insaat Iscileri Sendikasi, DAF und Alinteri vermochte es, sich auf dem Weg nach Sisli mit einer Gruppe von Kaldirac zu vereinen und so mit 200 bis 300 Aktivist*innen zumindest halbwegs die Möglichkeit zur Gegenwehr zu eröffnen. In Sisli wurde die Sponti angegriffen, nach kurzer Gegenwehr war auch hier alles vorbei.
Kaum erfreulicher präsentierte sich die Situation in den Hochburgen der revolutionären Linken Istanbuls – den Vierteln Kücük Armutlu, Okmeydani, Gazi, Bir Mayis. In Gegenden, in die noch vor nicht allzu langer Zeit kein Bulle einen Fuß setzen konnte, ohne dass massive Angriffe erfolgten, patroullierten Akreps und Tomas rund um die Uhr. Aus Langeweile begannen in Okmeydani Polizisten gezielt Journalisten anzugreifen, die ihrerseits dort in großer Zahl auf Riots warteten, die ausblieben. Einzig in Gazi gingen einige Dutzend Militante der DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front) für ein paar Stunden mit Knarren und Molotows auf die Straße, doch auch hier war das – im Gegensatz zu früheren Widerständen – eher symbolisch.
Faschisierung und Eskalation
Viele, viele Male sind wir seit Gezi in die Türkei gefahren. Einen ähnlich verfahrenen Zustand wie zur Zeit haben wir bislang nicht erlebt. „Wir können hier mit Toten leben. Wir können Verhaftungen überstehen, alle Arten von Repression. Was wir nicht können, ist ohne Hoffnung kämpfen“, sagt unser Freund Ahmet.
Die führende Clique im türkischen Staat rund um Präsident Recep Tayyip Erdogan hat einen Faschisierungsprozess durchgesetzt, der so rasant vor sich ging, dass es den Oppositionskräften schwer fiel, geeignete Strategien für den Widerstand zu entwickeln. Am deutlichsten zeigt sich das an der laizistischen, kemalistischen bürgerlichen Opposition, die nach wie vor nicht begriffen hat, dass wenn sie mit AKP gegen die kurdische HDP vorgeht, sie an ihrem eigenen Ast sägt. Aber auch die radikale Linke konnte mit dem Eskalationsniveau, das die Regierung vorgab, kaum mithalten. Im Grunde zwingt der Staat die Opposition vor die Option: Unterwerfung/Anpassung oder bewaffneter Kampf.
Der einzige Teil der Linken dieses Landes, der mit diesem Eskalationsniveau mithalten kann, ist die kurdische Befreiungsbewegung rund um die Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Sie wollte den Krieg, der jetzt im Südosten der Türkei geführt wird, nicht. Ihr Konzept einer Demokratischen Autonomie braucht Frieden, um die geeigneten demokratischen und sozialen Prozesse einleiten zu können. Aber als Erdogan sie an die Wand trieb, ihr keinen Ausweg mehr ließ, fand sie sich auch nicht bereit, dem Staat zu weichen.
„Für alle Unterdrückten“
Der militärische Widerstand, den die kurdische Jugend in den Städten (organisiert in den Zivilverteidigungseinheiten YPS und YPS-Jin) leistet, wird nun unterstützt durch große Sabotageaktionen und Angriffe der aus den Bergen kommenden Guerillaeinheiten der Volksverteidigungskräfte HPG. War dieser Kampf bereits in Cizre wie in Diyarbakir-Sur ausdauernd und zermürbend für die türkischen Streitkräfte, hat er nun mit dem Widerstand in Nusaybin eine neue Qualität erreicht. Die türkisch-syrische Grenzstadt ist, mit vielen dutzenden gefallenen Soldaten und Polizisten, zu einem Symbol dafür geworden, dass die technologisch überlegene Streitmacht Erdogans den politischen Willen der kurdischen Bewegung nicht brechen kann, wie es ihr beliebt.
Auf einer politischen Ebene aber ist der Widerstand der Kurd*innen noch bedeutender als auf der militärischen. In seiner Rede zum ersten Mai betonte der Oberkommandierende der HPG Murat Karayilan: „Der Kampf gegen den Kolonialismus in Kurdistan heute ist ebenso ein Kampf aller Arbeiter*innen der Welt gegen die Ausbeutung durch den Kapitalismus. Der Kampf um Demokratische Autonomie in Kurdistan heute, in den Städten und den Bergen, ist ein zentraler Kampf für alle unterdrückten Klassen und Gesellschaften.“
Zumindest auf die Türkei bezogen, gibt es keinen Zweifel daran, dass das eine zutreffende Einschätzung der Lage ist: Sollte es dem Staat gelingen, Kurdistan, die letzte Front, zu brechen, sähe es auf lange, lange Zeit düster für alle Schichten der türkischen Gesellschaft aus, die nicht in einer Gesellschaft nach Wunsch und Willen Erdogans leben wollen.
Hoffnung
Aussichtslos ist dieser Kampf bei allen Härten und allem Leid, das er bringt, nicht. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei die Macht des Staatspräsidenten gefestigt. Doch es tun sich bereits Risse auf. Die Bourgeoisie fürchtet eine ökonomische Krise, die durch den Krieg im Südosten beschleunigt werden könnte. Der Tourismus, ein wichtiger Wirtschaftssektor in der Türkei, ist eingebrochen. Zwischen Erdogan und seinem Premier Ahmet Davutoglu tun sich Konflikte auf, die tiefer reichen könnten, als bislang vermutet. Und der Militär- und Polizeieinsatz in den kurdischen Landesteilen fordert mehr Opfer, als der AKP lieb sein kann.
Sicher ist: Mit Erdogan wird es keinen Frieden geben. Sicher ist: Unter Erdogan wird das Land weiter und weiter ins Chaos gerissen. Der IS lauert schon auf eine Ausdehnung seines Handlungsspielraums, wie die Bombenanschläge und der andauernde Beschuss der Grenzstadt Kilis zeigen.
Noch sind es kleine Hoffnungsschimmer. Aber es könnte sein, dass die Widersprüche, die die herrschende Schicht zum eigenen Machterhalt und Machtausbau zugespitzt hat, auch sie selbst in Bedrängnis bringen.
-Peter Schaber