„35 Jahre HipHop in Deutschland“ ist laut Cover nicht weniger als die „aktualisierte Ausgabe des Standardwerks über die Deutsche HipHop-Szene.“ Damit hat man selbst die Messlatte ziemlich hoch gelegt. Und bereits der erste Eindruck lässt vermuten, dass es sich bei diesem Backstein zumindest um ein sehr vollständiges Buch handelt. Zahlreiche Veröffentlichungen sind in den letzten Jahren zum Thema HipHop in Deutschland erschienen. Die meisten legen ihren Schwerpunkt auf Rap und viele Werke haben einen wissenschaftlichen Fokus. Das vorliegende Buch ist anders.
Nicht nur HipHop, sondern auch das Buch blickt auf eine lange Geschichte. Ende 2015 legten der Rapper Hannes Loh („Anarchist Academy“) und der Journalist Sascha Verlan die dritte Neufassung von „Hiphop in Deutschland“ vor. Die erste Fassung beschäftigte sich mit den ersten 20 Jahren HipHop in Deutschland, ausgehend vom Jahr 1980. Die zweite erschien 2005 und im Jahr 2015 blickt man logischerweise bereits auf 35 Jahre zurück. Kein leichtes Unterfangen, diese umfassend zu dokumentieren.
Die aktuellste Auflage hat schon mal einen interessanten Einstieg und Aufhänger. Einer der Autoren kommt zufällig an einem Konzert des inzwischen kommerziell erfolgreichen Rappers Prinz Pi vorbei und wundert sich über das Publikum, welches er eher als Besucher*innen von Indierock-Konzerten vermutet hätte. Er kommt zum Schluss: „Spätestens da dachte ich, dass ich wirklich keinen blassen Schimmer mehr habe, was in Rap-Deutschland so passiert.“
Keine gute Voraussetzung, um ein Buch über HipHop in Deutschland zu schreiben? Im Gegenteil. Loh und Verlan bleiben nach wie vor interessierte Experten und ihr (altersbedingter) Abstand zur eigenen Szene stellt sich nicht als Nachteil heraus. Es gibt ihnen auf die Fähigkeit zur Reflexion.
Der erste Teil des Buches, der gut 150 Seiten ausmacht und die Aktualisierung gegenüber den vorherigen Auflagen darstellt, legt seinen Focus naheliegender Weise auf den Gangsta-Rap der Nullerjahre. Damit wird schon deutlich, dass das Buch nicht chronologisch angelegt ist. Neben einer interessanten Einordnung des Aggro Berlin-Labels werden aber vor allem die beiden Hauptintentionen des Buches deutlich. Zum einen: HipHop in Deutschland ist in erster Linie eine Migrationsgeschichte und wäre in dieser Ausprägung nicht möglich gewesen ohne die Kinder der „Gastarbeiter“. Zum anderen: HipHop im Allgemeinen ist nicht nur Rap-Musik, sondern genauso Breakdance, Graffiti und DJing. Auch diese Formen werden ausgiebig gewürdigt und die Autoren bemühen sich die Waage zu halten.
Loh und Verlan erzählen die Deutsche HipHop-Geschichte (die auch ihre persönliche Geschichte ist) aus einer linkspolitischen und kritischen Perspektive. Das merkt man bereits bei der Beschäftigung mit dem Label Aggro. Hier wird nicht nur die Idee hinter dem Label, welche unter Marketingaspekten ein Meisterwerk war, darstellt. Auch ordentlich Kritik an seinen nationalistischen, sexistischen und antisemitischen Ausprägungen wird geübt. Die beiden sind halt Linke. Besonders weiter hinten, wenn es um die Kommerzialisierung von Deutschem Rap durch die Fantastischen Vier in den frühen 90ern geht, spürt man eine Ablehnung der Kommerzialisierung und Trivialisierung bei den Autoren und den Szenemitglieder*innen, die zu Wort kommen. Oft schwingt dazu eine gewisse Nostalgie und Sehnsucht nach der Oldschool-Szene in den 80ern bei ihnen und vielen Interviewten mit, also nach einer Zeit in der alles offenbar Underground und noch nicht so festgefahren war. Trotzdem schaffen alle immer wieder den Bogen und verklären die Vergangenheit nicht. Und über allem schwebt offenbar ein gewisser Torch, der wohl den Deutschen Rap-Übervater darstellt, was mir bis dato nicht bewusst war.
Rapper wie K.I.Z. oder Audio 88 & Yassin, die eine ironische und dekonstruistische „Post-Battle- Attitüde“, wie Loh es so passend bezeichnet, kommen nur sehr am Rande vor. Nicht vorkommen wiederrum deren Erben wie Antilopen Gang und Zugezogen Maskulin oder der Feuilleton-Liebling Haftbefehl. Auch eine Einordnung über das Rap-Phänomen Money Boy wäre spannend gewesen. Das soll aber nur erwähnt werden und kein Vorwurf sein. Wahrscheinlich sind diese Phänomene noch zu neu, um sie zu beschreiben, denn für eine korrekte Einordnung in den Gesamt-Kosmos deutscher HipHop braucht es einen gewissen zeitlichen Abstand.
Darauf freue ich mich aber schon, wenn im Jahr 2020 dann „40 Jahre HipHop in Deutschland“ mit dem Umfang von 700 Seiten ein noch größerer Wälzer dieses Werkes vorliegt.
Mir als ein Gelegenheits-Rapfan, der im Punk und Hardcore (wozu es übrigens auch ein Kapitel gibt) sozialisiert wurde und gern mal über den Tellerrand schaut, sind einige Codes der HipHop-Kultur nun deutlich klarer. Dieses Buch ist sowohl für Einsteiger ins Thema, die kaum bis wenig Ahnung von den Hintergründen haben, ebenso so hilfreich wie aufgrund seiner Informationsfülle für diejenigen, die sich für bereits umfangreich informiert halten. Auch als unkundiger und szeneferner Leser muss man dennoch keine Angst vor Überforderung durch „35 Jahre HipHop in Deutschland“ haben. Loh ist Lehrer und Verlan Journalist. Das kommt dem Buch durchaus zugute, denn die Erklärungen sind stets einleuchtend, ohne dabei trivial zu werden. Für die zahlreichen Szenecodes und Fachvokabeln gibt es darüber hinaus ein Glossar. „35 Jahre HipHop in Deutschland“ schafft den großen Spagat zwischen umfassender Informationslieferung und einem guten Einstieg ins Thema.
Franz Degowski
Sascha Verlan & Hannes Loh: 35 Jahre HipHop in Deutschland. Höfen: Hannibal Verlag. 592 Seiten. 24,99 Euro.