Im Rahmen einer Reise durch die kurdischen Gebiete der Türkei besuchten wir, einige Aktivist*innen aus unterschiedlichen Ländern, am 23.03.2016 die Stadt Cizîr (Cizre).
Bei der Einfahrt in die Stadt schlug uns eine sehr bedrückende Stimmung entgegen. Ganze Straßenzüge waren zerstört. Wo wir hinsahen, fanden sich Einschusslöcher in den Wänden. Auf den Straßen patrouillierten unzählige Panzerwagen und Wasserwerfer.
Im Gebäude der Stadtverwaltung trafen wir uns mit einem Anwalt. In dem Büro herrschte Hektik, viele Menschen kamen und gingen mit Telefonen an ihren Ohren. Der Grund für den Aufruhr war, dass die Polizei in jenem Moment damit begonnen hatte, ohne jegliche formale Prozedur, noch bewohnte Häuser, die während der Ausgangssperren beschädigt wurden, abzureißen. Die Familien sahen sich ohne Vorwarnung Polizei und Bulldozern gegenüber.
Als etwas Ruhe eingekehrt war, begann der Anwalt über die Geschehnisse während der Ausgangssperren zu berichten. Hunderte Menschen wurden getötet, tausende vertrieben. Genaue Zahlen sind nicht verfügbar.
Durch die Ausgangssperren wurde der systematische Versuch unternommen alle Bewohner der Nachbarschaften zu vertreiben. Im Viertel Cudi in Cizîr betraf dies 55.000 Menschen, in Sur 35.000. Mit Inkrafttreten der ersten Ausgangssperre wurden Strom- und Wasserversorgung gekappt. Häuser aus deren Schornsteinen Rauch kam, in denen also geheizt wurde, wurden von Armee und Polizei angegriffen. Wer sich auf die Straße wagte, wurde von Scharfschützen erschossen. In den ersten 35 Tagen ließen sich die Menschen weder durch Kälte noch durch Hunger vertreiben. Danach begann der Staat die Häuser durch wochenlangen starken Artilleriebeschuss zu zerstören.
Beispielhaft für das, was die Menschen in Cizîr während der Ausgangssperren durchgemacht haben, ist das Schicksal der drei Monate alten Miray. Diese wurde durch einen Schuss verletzt, während ihre Tante sie die Treppe herunter trug. Die Familie versuchte einen Krankenwagen zu verständigen, die Sanitäter weigerten sich jedoch zu kommen, da es für sie in jener Straße nicht sicher sei. Deshalb machte sich Miray’s Großvater mit dem Baby auf dem Arm und einer improvisierten weißen Flagge in der Hand auf den Weg in Richtung Krankenhaus. Die Familie erachtete es als zu unsicher den Vater zu schicken, da junge Menschen beim Erscheinen im Krankenhaus unter den Pauschalverdacht gestellt werden, sie wären „Terroristen“. Sie werden der Staatsanwaltschaft übergeben, bevor sie irgendeine Art von Behandlung erhalten. Nachdem der Großvater wenige Meter auf der Straße zurückgelegt hatte, wurde er Opfer eines Scharfschützen. Miray und ihr Großvater kamen beide ums Leben.
Die Körper der während der Ausgangssperren Getöteten werden häufig in weit entfernte Krankenhäuser verbracht. Die Familien fahren Hunderte von Kilometern in andere Städte, um ihre Angehörigen zu finden. Viele sind noch immer auf der Suche nach ihren Kindern, Eltern oder Geschwistern.
Die Gewalt der Militäroperationen gipfelte in drei Massakern an Hunderten von Menschen, die in Kellern Schutz gesucht hatten. Die Keller waren in den Neunzigern aus Angst nach den Giftgasangriffen der irakischen Armee auf Halapca gebaut worden. Sie waren also sehr stabil. Trotzdem stürzte einer der Keller nach zehntägigem Bombardement ein und begrub die Gruppe von Schutzsuchenden unter sich. Unter den Toten befanden sich 47 Student*innen, größtenteils zwischen 18 und 19 Jahre alt, aus unterschiedlichen Teilen des Landes, die aus Solidarität mit den Menschen in Cizîr angereist waren. Kurz darauf kamen die Schutzsuchenden in einem zweiten Keller unter bisher ungeklärten Umständen ums Leben. Es gibt aber Hinweise auf den Einsatz von Chemikalien. Die genaue Zahl der Menschen, die in diesen zwei Kellern den Tod fanden, ist nicht bekannt; es handelte sich vermutlich um mehrere Hundert. In einem weiteren Keller verbrannten 120 Menschen. Während des letzten Massakers befand sich Angela Merkel in der Türkei, um über den sogenannten „Flüchtlingsdeal“ zu verhandeln. Zu keinem Zeitpunkt wurden die Geschehnisse in den kurdischen Gebieten von Merkel angesprochen.
Im Gespräch betonte der Anwalt das Ausgeliefertsein der Bevölkerung während und nach den Ausgangssperren. Direkt nach der Aufhebung der Ausgangssperre begann der Staat mit sogenannten „Untersuchungen“ in den Vierteln. Diese würden jedoch hauptsächlich der Beseitigung von Beweisen dienen, genau wie der gerade begonnene Abriss beschädigter Häuser. All dies würde schnell geschehen, bevor eventuell internationale Aufmerksamkeit generiert werden könnte. Er berichtete von der Enttäuschung darüber, dass die Ausgangssperren auf keinerlei Interesse bei internationalen Medien stießen und betonte die Bedeutung derzeitiger internationaler medialer Präsenz in Cizîr, bevor alle Beweise vertuscht werden würden.
Nach dem Gespräch mit dem Anwalt begaben wir uns ins Viertel Cudi, welches am stärksten von den Beschüssen betroffen war und in dem sich die drei Keller befanden. Straßenzüge waren komplett zerstört. Wände, die noch standen, waren von Einschusslöchern übersät. Direkt am Eingang in das Viertel hatten die Sicherheitskräfte ein überdimensioniertes Graffiti, welches den türkischen Faschisten Muhsin Yazicioglu als heldenhaften Anführer preist, hinterlassen. Nach ca. zehn Minuten wurden wir von der Polizei angehalten, innerhalb kurzer Zeit sammelten sich drei Panzerwagen und ca. 15 schwer bewaffnete Polizisten um uns. Diese fragten uns nach dem Zweck unserer Reise aus, behaupteten wir hätten vor dem Betreten der Gegend die schriftliche Erlaubnis des Gouverneurs einholen müssen, und fragten, mit gespieltem Unverständnis, was wir überhaupt hier tun würden. Wir sollten uns doch lieber die „schönen Teile“ der Türkei ansehen und in Bursa Kebab essen gehen. Dass unsere kurdischstämmige Freundin ihnen nicht die Fotos auf ihrer Kamera zeigen wollte, war für die Beamten ein Beweis, dass diese eine Vaterlandsveräterin sei. Ein anderer Polizist behauptete völlig aus der Luft gegriffen einen unserer Freunde zuvor bereits in Sanliurfa verhaftet zu haben.
Zu diesem Zeitpunkt befanden wir uns neben den Überresten des Kellers, der Schauplatz des ersten Massakers war. Außer einem riesigen Schutthaufen hatte das Bombardement nichts übriggelassen.
Die Polizisten fragten uns, ob wir später behaupten würden, dass der Türkische Staat Verbrechen beginge und uns wurde erklärt, dass es unsere Länder seien, die die „Terroristen“ mit Waffen versorgen würden. Währenddessen wurden immer wieder Waffen auf sich nähernde, neugierige Kinder gerichtet. Zur gleichen Zeit konnten wir beobachten, wie der anwesende Offizier lächelnd ein Foto von drei Kindern aus der Nachbarschaft machte. Was in anderen Situationen ein schöner Moment des menschlichen Miteinanders sein könnte, erscheint hier einfach nur zutiefst absurd und pervers. Denn genau jener Offizier, der in jenem Moment in die aus Angst oder Unverständnis lächelnden Gesichter der Kinder blickt, ist mitverantwortlich dafür, dass sich der Hintergrund des Bildes ausnahmslos aus zerstörten Häusern zusammensetzt. Wer einmal einen Blick auf die Facebook-Seiten türkischer Nationalisten geworfen hat, weiß dass solche Bilder mehr als nur eine Spielerei der Soldaten oder Polizisten sind. Sie dienen dem Propagandazweck sich als Befreier zu inszenieren, welche von der Bevölkerung gefeiert werden, nachdem sie die sogenannten „Terrorist*innen“ in die Flucht geschlagen haben. Dass diese Inszenierung wenig mit der Realität zu tun hat, wird allen, die eine Stadt wie Cizre betreten und sich mit der Bevölkerung unterhalten, sofort klar.
Nach einer Stunde psychologischem Druck bei vordergründiger Freundlichkeit ließen die Polizisten uns gehen. Wir verließen Cudi – dicht gefolgt von der Polizei, die nicht von uns abließ bis wir die Räume der Stadtverwaltung erreicht hatten. Die Begegnung mit der Polizei hatte uns viel Zeit gekostet. Wegen der ab 19:30 einsetzenden nächtlichen Ausgangssperre mussten wir die Stadt verlassen, ohne unser geplantes Interview mit der Vorsitzenden der Anwaltskammer zu führen.
Während unserer Reise wurde immer wieder die Rolle Europas in diesem Konflikt herausgestellt. Um das „Flüchtlingsabkommen“ nicht zu gefährden, werden Kriegsverbrechen verschwiegen und gleichzeitig Milliardenhilfen gezahlt, ohne dass sich die Bedingungen für die Geflüchteten in der Türkei verbessern würden. Dementsprechend ist es unsere Verantwortung in Europa Druck auf die Politik auszuüben und mehr Öffentlichkeit für die Situation in Kurdistan zu schaffen. Die kurdische Bevölkerung ist zudem stark auf ausländische Beobachter*innen und Journalist*innen vor Ort angewiesen.