Idil ist eine unscheinbare, kleine Stadt von 24.000 EinwohnerInnen. Die Dörfer im Umkreis weisen eine größere Einwohnerzahl auf als das städtische Zentrum. Die Stadt liegt allerdings in einem strategischen Dreieck: die Hauptverbindungsachse zwischen Nusaybin und Cizre – zwei Städte, in denen die kurdische Bewegung stark ist – verläuft südlich von Idil, die Hauptverbindungsachse von Diyarbakir und Batman nach Cizre und Sirnak – alles wichtige kurdische Städte – läuft direkt über Idil.
Idil ist also eine strategisch bedeutende Stadt. Auf der Straße von Nusaybin nach Idil fahren wir entlang einer kilometerlangen LKW-Schlange. Ein Armeeposten lässt die LKW`s nicht durch – nichts soll durch nach Cizre, das vollständig umzingelt und belagert ist.
In Idil gibt es keine und gab es im Laufe der derzeitigen Kriegsperiode auch nie eine Ausgangssperre. Zumindest nicht de jure. Die BewohnerInnen, mit denen wir sprechen, reden allerdings von einer “de facto” Ausgangssperre. Nach 16:30, spätestens 17:00 Uhr ist es zu gefährlich, um auf die Straße zu gehen. Die Straßen sind dann wie leergefegt, die meisten Menschen ziehen sich zuürck in ihre Wohnungen. Wir merken während unseres Aufenthaltes recht schnell, dass eine de facto Ausgangssperre herrscht: im Stadtzentrum werden 3 Menschen am Abend festgenommen, in der Nähe der Wohnung, in der wir bleiben, wird mehrmals gefeuert. “Kobras”, also gepanzerte Polizeifahrzeuge, sagt unser Gastgeber. “Die schießen immer mal wieder so beim Entlangfahren auf der Hauptstraße in das Viertel hinein.” Seine Wohnung befindet sich in der Yeni mahalle, einer der zwei Viertel, in denen Gräben ausgehoben und Barrikaden aufgebaut wurden sowie Militante der YPS bewaffnet patroullieren. Das andere Viertel heißt Turgut Özal mahallesi.
Gefechte finden hier zwar regelmäßig statt, sind aber nicht besonders heftig. Bis auf einen Tag vor unserer Ankunft, da ging eine Bombe beim Polizeihauptquartier hoch. Daraufhin gab es die gesamte Nacht hindurch schwere Gefechte. Mittlerweile erwarten alle eine wirkliche Ausgangssperre und damit einhergehend eine Belagerung: angeblich werden große Kräfte aus Silvan und Silopi, aus denen sich jeweils der Großteil der kurdischen Kräfte zurückgezogen hat, in Idil und anderen Städten, in denen der Staat einen schweren Stand hat oder noch nicht zuschlagen konnte, zusammengezogen. Am wahrscheinlichsten ist es, dass die Belagerung am oder nach dem Wochenende beginnt, denn dann sind Schulferien, sprich die meisten LehrerInnen und SchülerInnen verlassen die Stadt – und die Schulen sind leer und können ergo als Schützenstellungen genutzt werden, wie wir das schon aus anderen Städten kennen.
Einer der Kollegen, die uns begleiten meint, dass deshalb schon eine Migrationswelle aus Idil eingesetzt hat. Seiner Einschätzung nach ist knapp ein Drittel der Bevölkerung emigriert. Andererseits empfängt Idil aufgrund seiner strategischen Stellung auch sehr viele Geflüchtete. Laut Murat von der Rojava Vereinigung in Idil sind 1500 Familien von anderen kurdischen Städten, die belagert werden, nach Idil migriert. Wirklich geholfen wird den Familien vom Staat nicht: 400TL bekommen sie, falls sie einen Wisch unterschreiben, auf dem sie bestätigen, dass sie vom Terrorismus dazu gezwungen wurden zu fliehen. Die Hilfsleistungen, die derweil die Rojava Vereinigung in Idil denen anbietet, die sich in einer humanitären Krisensituation befinden, werden vom Staat behindert. Zwei LKW`s, die nach Silopi geschickt wurden, wurden aufgehalten; ein LKW nach Cizre wurde wieder zurückgeschickt.
Wie auch in anderen Städten hören wir hier dasselbe auf die Frage, warum sich die YPS gebildet hat und sich die Leute mit Gräben, Barrikaden und Waffen wehren: sie weisen darauf hin, dass der Staat nicht nur nicht die Bestrebungen der Kurden auf Autonomie und mehr demokratische Rechte untergraben hat, sondern ein Kriegskonzept umsetzte, um der AKP die Macht zu erhalten und die HDP aus dem Parlament zu drängen. Sie verstehen dies als legitime Selbstverteidigung ihres Autonomieprojekts, das vom Volk getragen und verteidigt wird.
Als wir auf einer Hauptstraße Militante der YPS sehen, wie sie Barrikaden bauen, können wir beobachten, wie sie einerseits von Zivilisten unterstützt werden. Andererseits häufen sich hier auch die Fälle, wo sich Menschen über die Barrikaden beschweren. Ein Händler von Baumaterialien murrt und knurrt und meint grimmig: “Immerhin haben die nicht herausgefunden, dass ich Baumaterial im Auto habe.” In den Vierteln, die komplett zubarrikardiert und mit Gräben ausgehoben sowie von der YPS kontrolliert sind, sieht die Sachlage eindeutig anders aus. Zwar müssen hier in der Tat einige Menschen emigriert sein. Einige Häuser stehen komplett leer. Aber beim Rest gibt es keine Differenzen mehr. Volk, PolitikerInnen, zivilgesellschaftliche AktivistInnen, Militante – alle gehen überall ein und aus, grüßen sich, arbeiten zusammen, hängen miteinander ab, essen und trinken miteinander. Die Barrikaden und Gräben sind Teil des Viertels. Es gibt keine wesentlichen Unterschiede mehr zwischen den unterschiedlichen Teilen dieser Viertels. Die Ansätze einer ganz anderen Form der Vergesellschaftung werden hier praktisch umsetzt.
Am Abend beim Nachhauseweg treffen wir eine YPS-Patroullie und unterhalten uns ein wenig mit ihnen. Kurz vor dem Abschied meint dann der Patrouillenführer, als er seine Zigarette ausdrückt: “Das ist hier unser letzter Krieg. Wir akzeptieren das Leben in Knechtschaft nicht mehr, das uns dieses System anbietet. Wir werden nicht aufhören zu kämpfen, bis wir ein ehrwürdiges Leben in Freiheit erlangt haben.”
Kurz darauf fällt es mir plötzlich ein und ich frage meinen Gastgeber: “Sag mal, wenn hier eine de facto Ausgangssperre herrscht, sind wir gerade nicht potenzielle Ziele?” “Jo, sind wir. Schau mal rüber”, und zeigt auf ein Hochhaus außerhalb des Viertels. “Nicht unwahrscheinlich, dass dort Sniper positioniert sind. Also halt den Kopf unten.” Eiligst ducke ich mich und husche mit ihm zurück zur Wohnung.
– Alp Kayserilioğlu, alle Fotos von Sinan Targay