Täglich brennende bundesweit Flüchtlingsunterkünfte, Verschärfungen des Asylrechts werden im Quartalsabstand beschlossen , Kriegseinsätze der Bundeswehr im Mittelmeer und anderswo gehören zur Normalität, die unmenschlichen Praktiken des LaGeso sind täglich in der Presse undRassisten marschieren im Wochentakt. All das wird seit Monaten erduldet und hingenommen. Aber jetzt wurde in Berlin eine „rote Linie“ überschritten?
Nehmen wir uns eigentlich selber noch ernst?
Also erst einmal, Rigaer Straße, ick liebe dir! Ick mag deinen rebellischen Geist, dein Straßenbild und den dörflichen Charakter im Kiez. Das rumlungern am Dorfplatz habe ich zelebriert, egal ob morgens um 8 oder Nachts um 3, den Versuch kollektives Leben zu wagen immer wieder verflucht und auf’s neue bestaunt, die legendären Partys in der Kadterschmiede haben zu manch einer Entschuldigung meinerseits geführt und das Gefühl von „wat wollt ihr denn – dat is unsere Spielwiese“ ist einfach nur unbeschreiblich. Der unbeugsamen Geist der 94, und die Vielfalt der anderen Projekte in der Straße strahlen weit über den Nordkiez hinaus. Das unverträgliche penetrante Nerven, sei es gegen das Ordnungsamt, gegen die Cops, die Wohnungseigentümer oder den ganzen frisch zugezogenen Prenzelbergfamilien wird auch von mir immer wieder beklatscht und bejubelt. Kurz gesagt ich bin ein wirklicher Fan und wäre ich nicht mittlerweile in einem Alter, wo mich oft jungen RebellInnen sofort abchecken und das Gemurmel um mich herum meist irgendwie das Wort „Zivi“ mit sich bringt, würde ich wahrscheinlich noch häufiger dort meine Abende verbringen. Na gut, ehrlich gesagt, ich bin auch älter geworden und damit kamen andere Bedürfnisse und Vorlieben zum Vorschein, an die ich in meiner Dorfplatzzeit nie gedacht hatte.
Seit kurzem ist es aber mit der Beschaulichkeit im Nordkiez vorbei, nach einem „drastischen Anstieg“ von Angriffen auf Cops und weiteren Spielverderbern poltert Henkel mal wieder ordentlich los. Erst die mediale Vorbereitung, am Anfang ganz leise, hier mal ein längerer Artikel im VS-Bericht, da mal eine Presseerklärung, dann das Gefahrengebiet mit ersten Platzhirschallüren und letztendlich will die Staatsmacht zeigen wer hier der „Herr“ in der Straße ist. Dazu brauchte es letzten Mittwoch dann 500 Bereitschaftsbullen, eine Hundestaffel, das SEK, Tom Schreiber und einen Helikopter. Alles nur um nach einem Sturz eines Polizisten am Mittag den Pflasterstein ausfindig zu machen, über den er stolperte. Da die Hundertschaften unsicher waren, nahmen sie einfach ganz viele Pflastersteine mit und entwendeten ansonsten noch Feuerlöscher und jede Menge Kram, den ein Haushalt in einer Altbauwohnung so braucht, Gasflaschen, Zäune, Nägel.
Nun geht es aber erst los, die ganze Szene ist in heller Aufruhr, die Twitteraccounts posten im Sekundentakt, Solierklärungen kommen stündlich und Mensch hat den Eindruck, es gibt in Berlins Szenekneipen kein anderes Thema mehr als den Konflikt rund um die geliebte Rigaer Straße. Wenn wir ehrlich sind, ist dieses Kräftemessen mehr als absehbar gewesen. Es polterte doch schon seit längerem, und mit der langen Woche der Rigaer Straße wurde im letzten Jahr versucht dem etwas entgegenzusetzen. Dies gelang aber eher mäßig.
Viel Lärm um ein paar Freeboxen, abends das Rumgeschupse mit den Cops, alle in Erwartung, dass doch noch irgendwas gehen muss, und schon war der Sonntag da und die Woche war vorbei. Hmm, war noch was? Ach ja, das hätte ich fast vergessen, der persönliche Besuch bei dem Imobilienhai war super, dafür habe ich sie dann wieder geliebt, die rebellische Insel. Aber auch das war nur noch ein Zucken
Als 2007 das lange Wochenende der Rigaer Straße ausgerufen wurde, gab es mehrere Stunden brennende Barrikaden, Hundertschaften wurden angegriffen und der neue Eigentümer der Rigaer 78 beschloss nach dem Wochenende die Finger von dem Haus zu lassen und den BewohnerInnen die Möglichkeit zu geben das Haus selber zu kaufen. Wochenlang wurde der Dorfplatz von Hunderten AktivistInnen, Hippies und Punks belagert und es gab einen ständigen Wettbewerb wie lange das Lagerfeuer auf der Kreuzung wohl diese Nacht brennen würde. Die darauf inspirierte „Wir bleiben Alle“-Kampagne brachte die Wut auf die Gentrifizierung wochenlang auf die Titelseiten der Lokalpresse und die Räumung der Liebig 14 2011 hinterließ einen Millonenschaden. Tatsächlich glaube ich, dass auch ein Gefahrengebiet zu dieser Zeit ein Alptraum für die Verantwortlichen gewesen wäre. Nicht weil die Szene damals besser aufgestellt war um eine ‚militärische‘ Auseinandersetzung mit den Cops zu gewinnen, NEIN, aber sie war unberechenbarer und kreativer.
Hamburg hat eigentlich vorgemacht, wie wir uns erfolgreich gegen so ein Schwachsinn wehren könnten. Grüne Kräuter in kleinen Beuteln, ständige Spontis, Klobürsten und eine Nachbarschaft die dazu freundlich klatschte. Dem Wahnsinn einfach mal den Mittelfinger zeigen. Wie viel Zeit die Labore wohl brauchten um zwischen Petersilie und Majoran zu unterscheiden, wie viele Kleinigkeiten sich ansammelten und wie lächerlich sich eine hochgerüstete Staatsmacht zeigte, all das konnten wir aus der Ferne beobachten. In Berlin gibt es allerdings einen Reflex, welcher verhindert, sich mit den Widrigkeiten des Lebens auch mal erfolgreich auseinander zu setzen. Er heißt „Demonstration“ – die seit Jahren einzige Antwort auf alles. Dazu das ewig gleiche Abgefeiere von Streifenwagen, die ihre Fenster verloren haben. Nun der Gegenschlag und sofort melden sich zahlreiche Hausprojekte, es hat ja eines unserer Häuser getroffen, da muss Mensch Stellung beziehen. Dazu passt dann ganz gut, dass Henkel mal seinen Gentrifizierungsplan vorstellt, von der Räumung des M99 träumt und hofft, dass durch teure Mieten sich auch das ‚Autonomenproblem‘ von alleine erledigt. Das treibt das Blut zum kochen und die Empörung ist tatsächlich real und ernst gemeint. Die Szene hat ein Stück Identifikation wieder und kann sich daran abarbeiten. Die Abschiebungen, die bundesdeutschen Soldaten und die Nazihorden die außerhalb des Innenstadtrings ihr Unwesen treiben sind beiseite geschoben. Hier wird wieder die Hassi gebraucht. Wir gegen die Staatsmacht, und wenn es schon nicht mehr um die Bäckerei geht, dann wenigstens um das Krümelchen „Dorfplatz“.
Was bleibt ist die alte Frage: „Was tun“.
Wie weiter oben schon erwähnt, könnte hierauf ein ebenso altes Erfolgsrezept die Antwort geben:
„Von den Hansemenschen lernen, heißt Siegen lernen!“
Die Cops haben uns am Wochenende dafür sogar eine Steilvorlage geliefert.
Einen Durchsuchungsbeschluss wegen eines blauen Müllbeutels und einem verhinderten Kuchenbasar. Da haben wir unsere Klobürsten!
So massenhaft und willkürlich, wie in dem Gebiet um die Rigaer Straße „szenetypische“ Personen kontrolliert werden, lassen sich bestimmt viele Anwendungsmöglichkeiten finden. Es ist eben nur mal wieder etwas Kreativität jenseits der typischen Beißreflexe gefragt. Nun sind wir mit Sicherheit keine Freunde der Waffenruhe oder gar der sozialen Befriedung, wir sind aber sehr wohl Freunde von einer taktischen Wahl der Mittel (Wer dazu einen ausführlichen Beitrag von uns lesen möchte: Gewalt!).
Von diesem Punkt ausgehend stellen wir fest: taktisch ist die klassische Gleichung „nehmt ihr uns die Häuser ab (oder stresst halt viel drum rum) haun wir euch die City platt“ hier unangebracht.
Was in der Rigaer Straße passiert, ist offensichtlich Wahlkampfpolitik und Machtgebaren von Henkel und seiner Gurkentruppe und in ihr wird jede Mücke zu einer ganzen Horde Elefanten
(und Heizmaterial, Feuerlöscher und Satelitenschüsseln werden zu gefährlichen Gegenständen).
Offensichtlich wollen sie Bilder produzieren, um ihr Gefahrengebiet und die „harte Hand“ zu rechtfertigen. Geben wir sie ihnen nicht!
Führen wir statt dessen ihre Maßnahmen ad absurdum und gewinnen so nicht nur den Kampf gegen das Gefahrengebiet, sondern auch den um die „hearts and minds“ der Nachbarschaft. Lasst uns eine Auseinandersetzung mit den Cops suchen, wo wir sie mit Hunderten Kleinigkeiten und schwachsinnigen Kontrollen in ihrer eigenen Bürokratie untergehen sehen. Wo es nicht mehr heißt Überstunden, sondern Übernächte und wo wir breit grinsen, während die Gesichter unter den Helmen von grimmig auf verzweifelt wechseln.
Unser Lachen und unseren Witz – gegen bald schon übermüdete Staatsbüttel, die mit einem Grinsen begonnen haben, was ihnen hoffentlich bald im Halse stecken bleibt.
„Die Autonomen wissen, dass sie ob unserer Personalsituation den längeren Atem haben.“ (Polizeisprecher; 2008 zu den „Wir bleiben Alle“ Aktionstagen – daraufhin wurden 2009 Aktionswochen organisiert)
Abschließend lasst uns nicht vergessen, dass es außerhalb unserer „Freiräume“ und unserer Wohlfühlzonen noch andere Kämpfe zu kämpfen gibt. Der Weg nach Europa ist immer noch lebensgefährlich, die deutsche Abschottungs – und Abschiebepraxis immer noch menschenverachtend, montags treffen sich immer noch überall im Land tausende Rassisten und der NATO-Partner Türkei zeigt momentan in Kurdistan, was „Gefahrengebiet“ auch bedeuten kann.
– Florian Flachmann