Über die Belagerung der kurdischen Stadt Cizre durch den türkischen Staat. Interview mit Tamer Doğan
#Tamer Doğan arbeitet als linker Rechtsanwalt und ist Mitglied der Istanbuler Anwaltskammer und des Vereins zeitgenösisscher Juristen (ÇHD). Er betreibt die Anwaltskanzlei der Anderen (Ötekilerin Hukuk Bürosu).
Die Türkei befindet sich in einem eskalierenden Bürgerkrieg. In den letzten Wochen haben zusätzlich mehrere kurdische Städte die Autonomie ausgerufen und wurden prompt von staatlichen Sicherheitskräfte regelrecht unter Belagerung genommen. Warum war es in Cizre, über das 9 Tage lang die Ausgangssperre verhängt wurde, so heftig?
Ehrlich gesagt ging es schon vor Monaten um Cizre, das haben die Leute nur wieder vergessen. Erinnere Dich doch daran, als hier das Paket für Innere Sicherheit [eine Gesetzesreform vom 27. März 2015, die der Polizei weitgehende Befugnisse und Vollmachten einräumt, Anm d. Red.] verabschiedet werden sollte. Als Grund für die Einführung dieses Paketes wurden die gegen Panzerfahrzeuge ausgehobenen Gräben in Cizre und der Volksaufstand vom 6.-8. November 2014 im Zuge des Krieges um Kobane genannt.
Allgemeiner betrachtet können wir sagen, dass Cizre vom Standpunkt der kurdischen Befreiungsbewegung eine wichtige Rolle einnimmt. Schon Öcalan wies auf die Bedeutung von Cizre hin und die pro-kurdische, linke Demokratische Partei der Völker (HDP) hat hier ganze 92% der Stimmen bekommen bei den Parlamentswahlen im Juni. Dementsprechend ist die Rechnung des Staates: besiege ich Cizre, kann ich ganz Kurdistan befrieden.
Auch aus ökonomischer Perspektive ist Cizre zentral: über Cizre läuft der ganze Handel ab, der Verkehr nach Idil, Mardin und Midyat läuft über Cizre, Şırnak grenzt direkt an Cizre an. In dem Moment, wo Cizre belagert ist, wird die gesamte Wirtschaft der Region lahmgelegt. Wenn man sich anschaut, wie der Staat während der Belagerung vor sich ging, lässt sich sagen, dass der Staat hier explizit dazu einmarschiert ist, um alles plattzuwalzen.
Wurde die Autonomie der kurdischen Städte und auch von Cizre nicht aus Notwendigkeit ausgerufen, also weil der Staat auf die kurdische Befreiungsbewegung losgegangen ist und die Menschen das satt hatten?
Auch. Seit Rojava ist natürlich alles anders. Dort ist ein gewisses Level an Selbstverwaltung und Selbstverteidigung errichtet und eine demokratische und ökologische Gesellschaft anvisiert. Das greift natürlich auch auf Bakur, also Nordkurdistan, über. Die Kurden sind sehr selbstbewusst geworden.
Die Autonomieerklärung war hierbei nicht als Kriegserklärung gedacht. Sie ist einfach eine logische Konsequenz im Angesicht der Bomben, die kurz vor der Wahl am 7. Juni in Diyarbakir in die Luft ginge, angesicht der Provokation in Ağrı [dort fand am 12. April 2015 ein Gefecht statt, bei dem türkische Soldaten laut Kritikern bewusst dem Tod ausgeliefert wurden, Anm. d. Red.] und des Bombenanschlages in Suruç [am 20. Juli sprengte ein IS-Bombenattentäter 33 sozialistische Jugendliche, die aus Solidarität nach Kobane wollten, mit sich in die Luft, Anm. d. Red.] . Das waren doch schon alles Ankündigungen, wie der türkische Staat mit den Kurden weiterhin umzuspringen gedenkt. Schon seit geraumer Zeit wurde deshalb die autonome Organisation, eben im Stile von Kantonen, diskutiert, das ist ja Teil des Parteiprogramms der HDP. Die Logik dahinter ist die, dass die Leute ihre eigenen Angelegenheiten selbst erledigen. Stell Dir vor, in Cizre hat die HDP 92%, aber die wichtigsten Verwaltungsspitzen, die Gouverneure, und -beamten werden zentral von Ankara herbeigeordert. Die hat in Cizre niemand gewählt.
Andererseits, genau wie du sagst: wenn die dort keine Barikaden gebaut und sich nicht verteidigt hätten, dann wäre das passiert, was in den 90ern passierte. Zahllose Massaker, Verschleppungen, Folterungen, Hunderte Vermisste, die nicht wieder auftauchen.
Dementsprechend bereitete sich die kurdische Jugend auf die Verteidigung vor. Die Viertel von Cizre eignen sich hervorragend für den Stadtkampf. Es gibt fast keine Boulevards und breite Straßen, es herrscht stattdessen ein dichtes Geflecht an kleinen, engen Gassen und Straßen vor. Gepanzerte Fahrzeuge können da kaum durch. Die kurdische Jugend gab mit der Belagerung von Cizre zu verstehen, dass sie auch militärisch in der Lage ist, ihre selbstverwalteten Gebiete zu verteidigen.
Ihr seid als revolutionäre Anwälte nach Cizre gereist, als die Stadt noch belagert wurde. Was waren dabei eure Ziele?
Wir waren auch in Kobane und zwar aus denselben Gründen und Zwecken, warum wir jetzt nach Cizre gegangen sind. Erstens geht es darum, Beobachtungen vor Ort anzustellen, alle Rechtsbrüche genau zu dokumentieren, zu dokumentieren, welchen Schaden die Menschen davontrugen und einen umfassenden Bericht zu allem anzufertigen. Natürlich hat das Ganze auch eine psychologische Dimension: Wir wollen den Menschen dort zeigen, dass sie nicht allein sind und gleichzeitig Öffentlichkeitsarbeit leisten. Wenn Parlamentarier, Anwälte und Künstler dorthin gehen, dann wächst der Druck und das hat auch in diesem Fall dazu beigetragen, dass die Ausgangssperre aufgehoben wurde. Zuerst machten sich die Parlamentarier auf den Weg nach Cizre, dann wurde Cizre sogar in Europa, insbesondere in Deutschland, Thema und letztlich gingen noch wir nach Cizre, woraufhin die Augangssperre aufgehoben wurde. Wir waren ca. 300 Anwälte, organisiert wurde das alles vom Verein der freien Juristen (ÖHD) und dem Mesopotamischen Anwaltsverein (MHD).
Ihr habt euch am 11. September auf den Weg nach Cizre gemacht. Wie seid ihr denn nach Cizre gekommen? Der Provinzgouverneur hat doch alle Straßen absperren lassen und nicht einmal die Parlamentarier, die vor euch dorthin gingen, durchgelassen.
Das war eine Odyssee. Wir sind am Morgen des 11. Septembers nach Mardin geflogen, von dort aus dann als Konvoi nach Midyat gefahren. 56Km von Idil und 80km von Cizre entfernt wurden wir dann von Sondereinsatzkommandos und der Gendarmerie an der Weiterfahrt, zwecks „unserer eigenen Sicherheit“, gehindert. Unter uns waren Vorsitzende mehrerer Anwaltskammern und auch der Co-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtaş, kam extra aus Idil, aber alle Gespräche mit den Sicherheitskräften brachten nichts. Nach 2 Stunden Verhandlungen versuchten wir es ein letztes Mal und gingen dann für 20 Minuten in den Sitzstreik. Danach entschieden wir uns dazu, von der Hauptstraße wegzugehen und es mit den Landstraßen zu versuchen. So irrten wir dann ein wenig durch die Landschaft und die Berge und sammelten uns dann die Strecke etwas weiter runter wieder auf der Hauptstraße. Die Sondereinsatzkommandos und die Jendarmie fuhren dann natürlich direkt hinter uns her und sperrten die Hauptstraße wieder ab. Dieses Spiel haben wir so knapp fünf bis sechsmal gespielt und sind derweil so knapp 15km gelaufen. Irgendwann hatten wir dann kein Wasser mehr. In den Bergen fanden wir Trauben und unreife Melonen, die wir dann aufgemacht haben, um irgendwie an Wasser zu kommen. Ich habe noch nie soviel Wasser getrunken wie am Abend dieses Tages, als wir endlich in der Stadt ankamen.
Naja, irgendwann gaben die Sicherheitskräfte auf. Kurz vor Idil – da konnten wir dann von Karalar aus mit den Autos fahren – gab es nochmal eine Sicherheitsabsperrung aber die konnten wir dann überqueren und gegen 21 Uhr abends waren wir dann endlich in Idil.
Am nächsten Tag, dem 12. September, gingen wir früh morgens Richtung Cizre. Auf dem Weg gab es nur zwei Sicherheitsabsperrungen. Am selben Tag ab 7:00 Uhr morgens wurde ja die Sicherheitsabsperrung aufgehoben. Gegen 9 Uhr waren wir in der Stadt, aber es fuhren immer noch überall Panzerfahrzeuge in der Gegend rum.
Was waren Deine Eindrücke aus der Stadt?
Es gab eine Aufgabenteilung bei uns. Die unterschiedlichen Viertel der Stadt wurden unterschiedlichen Anwaltskammern zugewiesen. Wir wurden in das Viertel Nur geschickt. Dort gab es die heftigsten Gefechte. Ins Viertel Cudi konnten dieSicherheitskräfte anscheinend nicht wirklich rein, das haben sie nur von außen beschossen und bombardiert.
Alle Wände und Gebäude waren durchsiebt mit Einschusslöchern und zwar nicht nur mit Einschusslöchern von Kugeln, sondern auch vom Granaten und Raketen. Dabei haben die Sondereinsatzkommandos insbesondere auf Strommasten, Transformatoren, Wasserdepots und Klimaanlagen gezielt. Mit besonders für diesen Zweck gebauten Panzerfahrzeugen haben sie z.B. die Mauern von Gärten oder andere Mauern zertrümmert.
In den Wohnungen sah es nicht wesentlich anders aus. Überall, von Schlafzimmern bis zu Küchen, gab es Einschusslöcher, Spuren von explodierten Granaten aus Mörsern und Granatenwerfern sowie Minen. Wir fanden auch zahlreiche Granaten in den Wohnungen, die nicht hochgegangen sind. Wir haben sehr viele Blindgänger gesehen. Zum Beispiel sahen wir in einem Fall eine Mine auf der Straße, die nicht hochgegangen war. Die Kinder von nebenan meinten, sie sei in die Wohnung geschossen worden und sie hätten sie schnell aus der Wohnung rausgeworfen. Ein Glück, dass sie dabei nicht hochging.
Wir sahen viele tote Tiere. In der Varolstraße wurde eine Kuh erschossen, in der Göçmenstraße lagen viele tote Tauben; auch an anderen Orten sahen wir viele tote Ratten, Hühner und andere Tiere. Natürlich haben die nicht extra auf Ratten gezielt. Die müssen sowas von wahllos um sich geschossen haben, dass sie nebenher auch Dutzende Tiere mitgenommen haben.
In den Seitenstraßen finden sich überall Tausende von leeren Patronenhülsen, das lässt sich gar nicht mehr zählen. Überall sind ausgebrannte oder schrottschreif geschossene Autos. Sogar das unterirdische Wasserleitungssystem haben sie zum Platzen gebracht, überall quillte auf den Straßen das Wasser aus der Erde. In fast allen Straßen waren die Stromleitungen gekappt.
Nach unseren bisherigen Informationen gibt es 23 Tote, davon erlagen 15 ihren Schussverletzungen, die meisten davon von Scharfschützen verursacht. Der Großteil der Menschen starb an Blutverlust, weil sie nicht ins Krankenhaus konnten oder nicht eingelassen wurden. Es gibt mehr als 100 Verletzte zu beklagen. Zum Beispiel Kinder, denen Schrapnellsplitter im Rücken stecken oder die bei einer Explosion ihre Beine verloren haben.
Moment. Warum konnten die Menschen nicht in die Krankenhäuser gebracht werden?
Na weil du sofort zum Ziel von Scharfschützen wurdest, wenn du auch nur den Kopf aus dem Fenster gesteckt hast. Das Viertel war regelrecht belagert. Zum Beispiel ein Mensch hatte nur eine Schusswunde im Fuß. Er musste stundenlang vor dem Krankenhaus warten und starb dann an Blutverlust. Ich gebe dir noch ein Beispiel aus unserem Bericht. Eşref Eldin, 60 Jahre alt, wird am 10. September um 23 Uhr nachts angeschossen, während er auf seinem Dacht schläft. Er kann nicht ins Krankenhaus und stirbt an Blutverlust. Solche Beispiele gibt es viele.
Aber die ganze Geschichte hatte auch noch eine andere Seite. Wir sprachen auch mit den Ärzten aus dem staatlichen Krankenhaus. Sie erzählten uns, dass sie von den Sondereinsatzkommandos bedroht wurden: „Wenn ihr diese Leute verarztet, dann bringen wir euch auch um!“
Das betrifft ja nicht nur die Verletzten. Es gab z.B. 70 Dialyse-Patienten in diesem Krankenhaus. Die konnten ihre Behandlung nicht ordentlich fortführen; Menschen mit Herzbeschwerden, Frauen mit Geburtstwehen… kaum einer wurde im Krankenhaus aufgenommen.
Übrigens, bevor ich das vergesse, ein wichtiges Detail: Die Bewohner hier erzählen, dass ein großer Teil der hier eingesetzten Konterguerilla arabisch gesprochen hat, älter war und manche von ihnen Bärte trugen.
Woher haben die Bewohner das denn gehört und gesehen?
Na weil die wie eine Besatzerarmee mit 5000 Mann hier aufmarschiert und bis tief in die Viertel rein sind. Die sind auch in zahlreiche Häuser rein, haben Scharfschützen auf den Dächern postiert oder die Gebäude vermint.
Die Ansagen sollen auch teils auf Arabisch gewesen sein und oft nach dem Format: „Wir werden euch alle umbringen, ihr seid alle Armenier“.
Wenn ich einmal kurz zusammenfasse, was du berichtest: hier sind 8-9 Tage lang 5000 Gendarmen …
Keine Gendarmen! Auch kein Militär. Alles Sondereinsatzkommandos der Polizei.
… 5000 Sondereinsatzkommandos der Polizei, die aber mit schweren Waffen wie eine Besatzerarmee hier rein sind, das ganze Viertel terrorisiert haben, die gesamte zivile Infrastruktur lahmgelegt haben und fast auf alles geschossen haben, was sich bewegt oder auch nicht bewegt. Es war also ein Massaker in großem Format geplant.
Exakt. Normalerweise hätte es hier 1000 Tote geben müssen.
Und warum gab es die nicht?
Die Erfahrung der Bevölkerung. Die machen das nicht zum ersten Mal durch, sind sehr ruhig und zeigen überhaupt keine Panik, zum Beispiel, wenn geschossen wird. Andererseits waren die Menschen auch vorsichtig. Wie in Kobane wurde Löcher zwischen Häusern und Zimmern geschlagen, so dass sich Menschen, die sich in einem beschossenen Haus befanden, schnell in Sicherheit bringen konnten. Und da gab es natürlich den sehr erfolgreich organisierten Widerstand der YDG-H.
Aber wie gesagt, tagelang kein Internet, kein Strom, kein Wasser…
Und zu essen?
Was eben gerade in der Wohnung vorhanden war. Es muss zwischenzeitlich auch Feuerpausen gegeben haben. Jedenfalls erzählten uns einige Kinder, dass sie Wasser, das sich in Straßen sammelte, tranken, oder auch gleich direkt Wasser aus der Kanalisation. Der kleine Junge Bünyamin Ircı, über den in den letzten Tagen so viel berichtet wird, war zum Beispiel auf dem Weg, Wasser zu bringen. Daraufhin wird er mitten auf der Straße von einem Scharfschützen auf den Brustkorb getroffen. Um zu verstehen zu geben, dass er noch lebt, streckt er die Hand aus, woraufhin die Scharfschützen in seine Hand schießen. Später schießen sie ihm in den Kopf.
Wieviele Tage seid ihr in Cizre geblieben?
3 Tage, und an zweien davon, am 12. und 13. September, haben wir unsere Beobachtungen angestellt. Am 13. September gab es ein kollektives Begräbnis. Wir haben 7 Anwälte dort zurückgelassen, sie werden jede Woche ausgewechselt. Wir wollen so unsere Berichte noch ausweiten und noch umfassender gestalten. Während der Großteil von uns sich wieder auf den Weg zum Flughafen machte, wurde wieder eine Ausgangssperre verhängt. Die Frage ist natürlich, warum der Staat für 1,5 Tage eine „Pause“ einlegte. Das hat natürlich etwas mit den Begräbnissen zu tun. Die Toten konnten in all den Tagen ja nicht begraben werden, sie wurden in den Wohnungen aufbewahrt. Auch das war einer der Gründe, warum Europa so heftig reagierte. Zweitens wollte der Staat die Stadt leeren nach dem Motto: „Nehmt eure Sachen und verzieht euch schleunigst.“
Ist diese Logik aufgegangen?
Nicht wirklich. Einige wenige sind gegangen, die meisten geblieben. Sie konnten nicht das erreichen, was sie wollten. Am 14. September wurde die Ausgangssperre wieder aufgehoben. Jetzt werden die Verletzte gepflegt und die Schäden repariert.
Wie reagieren die Menschen? Welche Auswirkungen hatte diese Belagerung auf sie?
Mit Wut reagierten die meisten von ihnen. Klar, es wurde auch viel
um die Toten geweint, es gab weinende Mütter und Väter. Das gab es natürlich. Aber in den Gesprächen überwog die Wut. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Person, die wütend den Perso herausholte und sagte: „Mit diesem Ding habe ich nichts mehr zu tun!“. Die Leute hier konnten eh nicht so viel mit dem Staat anfangen. Jetzt hat sich eine endgültige Entfremdung zum Staat eingestellt. Der Staat bedeutet den meisten dieser Menschen nichts mehr.
Um noch einmal zu den Gefechten zurückzukommen. Wie hat die YDG-H das gemeistert? Wie konnte sie 5000 Sondereinsatzkommandos mit schweren Waffen und Dutzenden Snipern so gut widerstehen?
Die haben das sehr geschickt angestellt. Überall waren Barrikaden aus Sandsäcken angelegt, zwischen Häusern wurden Wege in die Wände eingeschlagen, die Kanalisation wurde ausgiebig genutzt. Die YDG-H hat ein sehr gründlich ausgedachtes System der Fortbewegung im Kampf angelegt.
Wieviele Gefallene hat die YDG-H zu beklagen, wieviel die Polizei? Weißt Du etwas darüber?
Dazu konnte uns niemand Zahlen nennen. Bei der YDG-H jedenfalls glaube ich, dass die Zahl sehr niedrig ist, denn die haben eine außerordentlich ausgetüfftelte Verteidigung gehabt. Bei der Polizei haben wir keine Ahnung.
Was machen eigentlich die Sondereinsatzkommandos derzeit in der Stadt?
Die fahren immer noch mit ihren Panzerfahrzeugen durch die Gegend, sind aber nicht mehr zu Fuß unterwegs. Sie sind einquartiert in Krankenhäusern, Schulen, Kasernen und vielen anderen Orten. Auf dem Weg nach Cizre siehst du überall Panzerfahrzeuge rumstehen. Die sind also jederzeit wieder einsatzbereit.
Erzähl uns doch noch ein wenig was zum Verteidigungssystem und zur Organisation der YDG-H.
Die YDG-H hat die Viertel blockweise in Teams abgesichert. Da gab es überhaupt keinen Zufall und kein Chaos. Jedes Team hat einen eigenen Namen und den sprayen sie dann zum Beispiel an die Wand. Durchschnittlich gibt es 7 Militante pro Team. Und ihren Graffitis kann man entnehmen, dass sie sehr gut politisiert sind: da wurde gesprayt gegen Agententum und Drogen einerseits, für die Verteidigung der Umwelt und die ökologische Gesellschaft andererseits.
Wir wissen nicht, wieviele Militante der YDG-H es in Cizre gab und gibt. Das liegt daran, dass diese Militanten keine professionelle Guerillas sind, sondern wirklich die Jugendlichen aus dem Viertel. Wer von den Jugendlichen im Viertel nun bei der YGD-H ist und wer nicht, das kann man nicht sagen.
Sprich die YDG-H in Cizre besteht aus den Jugendlichen vor Ort, die dort aufgewachsen sind?
Exakt, sonst könnten die hier auch gar nicht kämpfen. Die Jugendlichen hier müssen nicht auf die Kandil-Berge. Du weißt schon, das war ja früher so: die kurdischen Jugendlichen sind aus den Städten in die Berge. Das brauchen sie jetzt nicht mehr zu tun. Jetzt bleiben sie in den Städten und bilden die Stadtguerilla.
Wie ist das jeweils Verhältnis von YDG-H und der Bevölkerung gegenüber der PKK, der HPG und der HDP?
Die YDG-H selbst haben wir so nicht getroffen, wir haben Menschen und Jugendliche vor Ort getroffen. Uns haben 10-15 Jugendliche durch die Stadt geführt. Gegenüber der PKK und der HPG gibt es bei der Bevölkerung überhaupt keinen Zweifel. Es gibt ja einen Diskurs, wonach die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) das Volk mit Terror zu irgendwelchen Sachen zwinge, dass das Volk unter der PKK leide und sie eigentlich nicht möchte. Was ich persönlich in Cizre gesehen habe ist, dass die PKK gar nicht mehr wirklich eine Partei ist: sie ist wirklich das Volk geworden und das Volk ist die PKK geworden.
Die HDP allerdings wurde von einigen Menschen, mit denen ich sprach, als liberal eingestuft. Auch gab es mehrere Menschen, die meinten: „Wir haben gewählt und sind mit 80 Parlamentariern im Parlament vertreten. Wozu? Das ist doch alles eine Farce“. Andererseits sehen sie die HDP immer noch als ihre Partei an. Also es gibt jetzt nicht diese Vorstellung, dass die HDP Müll sei oder sowas.
Als letztes möchte ich dich noch etwas Allgemeines fragen. Einige Analysten vergleichen die Belagerung von Cizre mit der Belagerung vom Gaza-Streifen seitens Israel. Andere meinen, Cizre sei das Kobane der Türkei. Wie siehst Du die Lage? Welche Auswirkungen wird diese letztlich gescheiterte Belagerung auf die Kräfteverhältnisse in der Türkei haben?
Ja genau; in dem Artikel, den ich gerade schreibe, sage ich, dass Cizre ein bisschen Gaza und ein bisschen Kobane ist. Wie Gaza und Kobane sind es hier primär Jugendliche, die ihre Viertel, Familien und ihr Leben verteidigen. Auf der andere Seite steht ein Feind, der offen auf Massaker aus ist und kein Kriegsrecht kennt. Auch hier sehe ich Parallelen. Aus der Perspektive des Stadtkampfes gibt es auch Ähnlichkeiten: es werden Tunnel und Durchgangswege zwischen Häusern genutzt, um sich fortzubewegen. Und, ohne das herabzuwürdigen, auch in der amateurhaften Art und Weise gibt es Ähnlichkeiten. Mit amateurhaft meine ich, dass die Jugendlichen, die kämpfen, keine professionelle Guerilla oder Armee sind, sondern eben die Jugendlichen vor Ort.
Von einer soziologischen Perspektive heißt es mancherorts: „die sind alle apolitisch und wie ein Vulkan, der nur darauf wartet, zu explodieren; eine unkontrollierbare Masse“. Ich finde, das entspricht überhaupt nicht der Realität. Diese Jugendlichen wissen sehr gut, was sie warum machen. Das ist kein wütender Mob oder so. Um ehrlich zu sein ist das ein Teil der aktuellen Strategie der PKK. Seit langem schreiben Öcalan und der KCK, dass Vorbereitungen auf den revolutionären Volkskrieg getroffen werden müssen, dass das Volk die Selbstverteidigung organisieren solle. Dort herrschte also ein organisierter Widerstand vor, der sehr politisch ist.
Von einer Klassenperspektive aus können wir sagen, dass hier vorallem die arme Proletarierjugend kämpft. Und dieser Kampf steigert ihren Revolutionierungsprozess, weil sie in der Tat wenig zu verlieren haben
Selbstverständlich wird Cizre Auswirkungen haben auf die Türkei. Weil es der Staat nicht geschafft hat, Cizre dem Erdboden gleichzumachen, wird das auch die Moral an anderen Orten steigern. Auch im Viertel Sur in Diyarbakır musste die Ausgangssperre wieder aufgehoben werden, genauso in Silvan und auch in Gever. Überall versucht es der Staat auf dieselbe Art und Weise, schafft es aber nicht. Die kurdische Befreiungsbewegung vertieft derweil ihre Prinzipien der Autonomie und Selbstverwaltung.
Was die Wahlem am 1. November angeht. Da fragen sich ja alle derzeit, wie die eigentlich stattfinden sollen und zwar vor allem in Kurdistan. Wir haben die Leute vor Ort gefragt, die waren optimistisch. Sie meinten, keine Sorge, wir arrangieren schon alles und sorgen auch für sichere Wahlen. Andererseits werden die Sondereinsatzkommandos bis zum 1. November dort vor Ort bleiben. Die Frage ist also nicht nur die, ob die Wahlen stattfinden, sondern unter welchen Bedingungen sie dort stattfinden.
Die HDP hat in Cizre 92% bekommen. Meinst Du, wenn sie in den Wahlen jetzt 60% bekommen, dass sie wirklich 30% verloren haben wird? So ein riesiger Unterschied wird nur möglich sein durch Wahlbetrug oder durch Intervention der Sondereinsatzkommandos.
# Eine Kurzfassung des Interviews erschien in der Tageszeitung junge Welt.