Interview mit Zafer von der Gruppe Başlangıç.
In der Türkei steht ein wichtiger Urnengang an, am 7. Juni 2015 werden die 550 Abgeordneten der Großen Nationalversammlung gewählt. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) erhoffen sich erneut eine satte Mehrheit, mit der Erdogan seinen autokratischen neoliberal-islamischen Kurs fortsetzen kann. Erreicht die AKP die nötigen Stimmen, plant Erdogan den Umbau der Türkei in ein autoritäres Präsidentialregime. Auf der linken Seite des Parteienspektrums kandidiert die aus kurdischen und linken türkischen Parteien bestehende Demokratische Partei der Völker (HDP). Für sie stellt sich die Frage, ob sie die extrem hoch angesetzte Zehn-Prozent-Hürde erreicht – wenn nicht, bleibt ihr der Einzug ins Parlament verwehrt. Jan Schwab und Alp Kayserilioglu haben sich in den vergangenen Wochen für lower class magazine in Istanbul herumgetrieben und einige linke Parteien und Gruppen interviewt. Im folgenden lest ihr das zweite dieser Gespräche mit Zafer von der Gruppe Başlangıç.
LCM: Hallo Zafer, stelle doch kurz dich und deine Organisation vor. Was sind die ideologischen Grundlagen deiner Organisation? In welchen gesellschaftlichen Feldern seid ihr aktiv und wo liegen eure Schwerpunkte? In welchen Arbeitsbereichen deiner Organisation bist du aktiv?
Mein Name ist Zafer Ülger. Ich bin 40 Jahre alt und arbeite gerade an meiner Dissertation im Fachbereich Entwicklungsökonomie. Ich bin im Grunde seit ich 16 bin politisch als Sozialist aktiv. Aktuell bin ich in der Stadtteilarbeit und selbstorganisierten Projekten, wie z.B. dem ersten sozialen Squat ,,Don Kişot“, aber auch in der unabhängigen Wahlinitiative 10’dan sonra (Nach 10) aktiv. Başlangıç (,,Der Anfang“) ist der Name der Organisation, deren Mitglied ich bin. Başlangıç wurde unmittelbar nach dem Gezi-Aufstand gegründet mit dem Ziel, die fragmentierte Linke in der Türkei zu vereinigen und zu einem wichtigen Zentrum dieser wiedervereinten Linken zu werden. Başlangıç ist eine Initiative aus mehrere unterschiedlichen Gruppen und Individuen. Ideologisch betrachtet nehmen wir die Arbeiterklasse zum Zentrum, wir verstehen uns ergo als Marxisten. Allerdings sind wir der Meinung, dass wir uns nicht mehr nur, wie der Marxismus des 19. und des 20. Jh., auf die Kämpfe in der Produktionssphäre beschränken sollten, sondern dass der Kampf auf viele Felder ausgeweitet werden muss, wie z.B. der ökologische Kampf und der Kampf um die Commons. Wir sind vor allem aktiv in der Stadtbewegung, haben aber auch die Gründung mehrerer autonomer Gewerkschaften initiiert (Umut-Sen, Giyim-Sen). Diese Gewerkschaften sind Basisgewerkschaften und horizontal organisiert – im Gegensatz zu klassischen Gewerkschaften, die von oben nach unten und vermittelt über Funktionäre funktionieren.
Zum Ziel setzen wir uns die sozialistische Revolution. Dabei begreifen wir die Türkei als ein kapitalistisches Land. Allerdings glauben wir nicht, dass die sozialistische Revolution die Eigenschaft oder das Eigentum einer Partei ist, sondern aus einem spontanen Massenaufstand heraus stattfindet, wie es auch historisch der Fall war. In diesem Massenaufstand und auch in den Kämpfen zuvor fällt es den revolutionären Organisationen zu, eingreifend die Richtung des Aufstandes zu bestimmen, also das heißt dafür zu sorgen, dass der Massenaufstand den Charakter einer sozialistischen Revolution annimmt. Ich würde sagen, dass uns das vom Anarchismus unterscheidet. Wir sind der Meinung, dass die Aufgaben der sozialistischen Revolution darin bestehen, den Staat abzuschaffen und durch direktdemokratische Formen der Politik, also z.B. die Sowjets im revolutionären Russland, zu ersetzen, wobei die revolutionären Organisationen nach wie vor bestehen bleiben.
LCM: In Europa und insbesondere in Deutschland herrscht die Wahrnehmung vor, dass der Gezi-Aufstand mit der Räumung der Besetzung im gleichnamigen Park endete. Ist Gezi tatsächlich tot oder lebt Gezi weiter? Wie bewertest du die gesellschaftliche Entwicklung nach Gezi, insbesondere in Bezug zur türkischen Linken und zur AKP-Regierung?
Der Gezi-Aufstand hat dazu geführt, dass die Aktivitäten in allen Kampffeldern stark zugenommen haben und stärker wahrgenommen werden. Zum Beispiel ist die LGBTQ-Bewegung erstarkt. Die Stadtteilkämpfe, aber vor allem auch die Kämpfe der Arbeiterklasse haben zugenommen. Zugleich sind diese ganzen Kämpfe und ihre AktivistInnen mit Gezi näher aneinander gerückt, konnten sich gewissermaßen kennenlernen und vernetzen, viele Vorurteile sind gefallen. Aber auch die sozialistische Bewegung wird stärker wahrgenommen. Vor allem hat Gezi neue Methoden und Formen des Kampfes hervorgebracht. Wichtig ist, zwei bedeutende Veränderungen hervorzuheben: wir können sagen, dass mit Gezi die 90er-Generation, die man gerne als verlorene und perspektivlose Generation beschrieben hat, politisiert wurde und zunehmend eine auch politische Perspektive entwickelt. Zugleich – und das ist die zweite bedeutende Veränderung – hat sich mit Gezi die Sehnsucht nach horizontaler, direktdemokratischer Organisation Bahn gebrochen. Um also in Kürze auf eure Frage zu antworten: Gezi lebt selbstverständlich noch!
Was die Effekte von Gezi auf die Linke angeht lässt sich sagen, dass bei eher traditionell ausgerichteten Gruppen und Parteien der sozialistischen Linken, die nicht in der Lage gewesen sind, Gezi zu verstehen oder die Konsequenzen aus Gezi zu ziehen, sich große Risse aufgetan haben. Die Kommunistische Partei der Türkei (TKP) z.B. ist deswegen auseinandergebrochen. Andererseits sind auch wir, Başlangıç, ein Produkt von Gezi: wir haben mit dem Aufstand die Konsequenz daraus gezogen, dass die traditionelle sozialistische Linke der 70er in der Türkei für uns nicht mehr tragfähig war und haben, selbst Teil der 90er Generation, unsere eigene Organisation gegründet. Das Durchschnittsalter von 30-40 Jahren in Başlangıç spiegelt das wider.
Die AKP betreffend kann man sagen, dass Gezi bei der AKP für einen ordentlichen Rechtsruck gesorgt hat. Der gesamte liberale Flügel innerhalb der Partei hat sich getrennt, der Support der Liberalen von außen ist eingebrochen. Die AKP hat angefangen, sich von der Überzeugung und Einbindung großer Teile der Bevölkerung zwecks Machterhaltung zu verabschieden und stattdessen auf Polarisierung als Mittel des Machterhalts zu setzen. Deshalb greift sie seit Gezi immer mehr auf polizeistaatliche Mittel und auf Terror und Angst zurück, um ihre Unterstützer bei sich und sich selbst an der Macht zu halten. Damit einher geht, dass die AKP immer mehr auf die sunnitisch-islamische Karte setzt.
LCM: Entgegen der Behauptung Erdogans Kobane würde in Kürze fallen, konnte Kobane sich trotz allen Widrigkeiten gegen den durch die Türkei unterstützten IS (Islamischen Staat) und den Al-Qaida Ableger Al-Nusra behaupten. Welche Auswirkungen hatten die Ereignisse um Kobane deiner Meinung nach auf die türkische Linke, aber auch auf die im Juni anstehenden Parlamentswahlen?
Der Kampf um Kobane hatte erst einmal den Effekt, dass große Teile der Linken, die bis dahin der kurdischen Befreiungsbewegung nicht nahe standen, nun näher an diese heranrückten. Hervorzuheben ist allerdings, dass z.B. die Halkevleri ‚Volkshäuser‘ (HE), die traditionell eher distanziert zur kurdischen Befreiungsbewegung waren, nun öffentlich dazu aufrufen, die HDP zu wählen. Diejenigen Teile der sozialistischen Linken, die sowieso schon mit der kurdischen Befreiungsbewegung sympathisierten, haben ihre Solidarität vertieft. Ansonsten hat Kobane natürlich eine große Einwirkung bei den Aleviten und Kurden gehabt, insbesondere was die anstehenden Wahlen angeht. Zuerst lässt sich hervorheben, dass Aleviten traditionellerweise die Republikanische Volkspartei (CHP) wählen. Hier hat ein Ruck bei den Wählern stattgefunden, viele Aleviten fangen nun an die HDP zu wählen. Aber auch bei vielen sonstigen CHP-Wählern, die zwar immer noch die CHP wählen, lässt sich eine Sympathie für die HDP ausmachen. Andererseits hatte die AKP immer eine auch recht solide kurdische Wählerbasis, die sie vor allem über den Diskurs der gemeinsam geteilten Religion einband, namentlich der sunnitische Islam. Auch bei diesen Wählern hat ein starker Ruck zur HDP eingesetzt.
Das alles hat einerseits damit zu tun, dass die CHP ihre Glaubwürdigkeit als effektive Opposition einbüßte. Vor allem aber hat das damit zu tun, dass die kurdische Bewegung nun, seit dem Sieg in Kobane, als Sinnbild des Widerstandes gegen die Daesh (IS), d.h. gegen den politischen Islam steht. Insbesondere auf die Aleviten, die unmittelbar vom Daesh bedroht sind, weil sie seitens des Daesh als Ungläubige und Ketzer bezeichnet werden, hatte dies massive Auswirkungen; aber auch auf die kurdische Wählerbasis der AKP, die mit Erdoğans offen feindlicher Haltung gegenüber dem Widerstand von Kobane von der AKP abgebrochen sind.
LCM: Wie bereits gesagt finden am 7.Juni in der Türkei die Parlamentswahlen statt. Welche Bedeutung haben die Wahlen aus deiner Sicht für die türkische Linke und die Gesellschaft in der Türkei? In welcher Atmosphäre finden die kommenden Wahlen statt?
Die anstehenden Wahlen sind von großer Bedeutung. Die Türkei befindet sich gerade in einer ökonomischen Krisensituation, die zeigt, dass sich der Kapitalismus in der Türkei nicht mehr mit dem alten politischen System verträgt und eine autoritärere Form erzwingt. Zur Wahl steht mit der AKP und mit Erdoğan passend hierzu die Einführung eines Präsidialsystems. Nun ist es zwar der Fall, dass das Monopolkapital und die Unternehmerverbände Erdoğan nicht als Präsidenten wollen. Aber sie sind nicht einem Präsidialsystem im Allgemeinen, ohne die Person Erdoğans, abgeneigt, im Gegenteil. Für Erdoğan selbst wird das eine Wahl zwischen Leben und Tod. Wenn er und seine Partei das Präsidialsystem nicht durchdrücken können, wird dies eine sehr große Niederlage für ihn und die AKP bedeuten. Ich glaube auch nicht, dass sich eine AKP ohne Erdoğan weiterhin konsolidieren kann. Allerdings falls Erdoğan und die AKP siegen sollten in den Wahlen, dann wird es ganz schön problematisch werden für uns Linke aber auch für die Bevölkerung. Denn mit dem Präsidialsystem mit Erdoğan als Präsidenten und den erst kürzlich verabschiedeten Paket für Innere Sicherheit wird der Autoritarismus des Staates nochmal massiv zunehmen.
Auf Grund dessen also, was hier mit den Wahlen auf dem Spiel steht, ist die Atmosphäre sehr angespannt, die Situation ist sehr provokativ und es haben schon zahlreiche Angriffe auf HDP-Büros, zuletzt 2 Bombenangriffe stattgefunden. Das größte Hindernis vor der Durchsetzung des Präsidialsystems ist die HDP. Denn wenn es die HDP schafft, die 10%-Hürde zu überwinden, wird das Präsidialsystem aufgrund der Sitzverteilung im Parlament verunmöglicht werden.
LCM: Mit der HDP (Halkların Demokratik Partisi – „Demokratische Partei der Völker“) tritt eine linke Partei mit guten Einzugschancen ins türkische Parlament zu den Wahlen im Juni an. Wie bewertest du die HDP, sowie die Chancen und Risiken, die mit ihr verbunden sind? Unterstützt deine Organisation die HDP? Es gibt Stimmen in der türkischen Linken, die die HDP als nächste SYRIZA bezeichnen. Was hältst du von dem Vergleich der beiden Parteien?
Auf die Frage wie die HDP zu charakterisieren ist, antworte ich am besten über den SYRIZA-Vergleich: programmatisch und inhaltlich betrachtet ähneln sich die HDP und SYRIZA zwar, dennoch handelt es sich um unterschiedliche Formationen. SYRIZA ist eine Koalition aus mehreren kleinen sozialistischen Gruppierungen (gewesen), die mit den Protesten in Griechenland ab 2008 erst so richtig populär wurde und die ich als zentristisch einschätzen würde, d.h. als schwankend zwischen Sozialdemokratie und revolutionär. Die HDP hingegen nimmt ihre Hauptkraft aus den kurdischen Befreiungsbewegung und ihren Kämpfen und Erfahrungen aus einen bestimmte Teil der Türkei. Diese Bewegung versucht sich nun zu verallgemeinern und türkeiweit zu agieren. Dies ist eine neue Entwicklung und Qualität, die meines Ermessens bisher ohne Vergleich dasteht. Die anstehenden Wahlen werden zeigen, ob die Verallgemeinerung und Ausweitung auf die gesamte Türkei anstatt dem ausschließlichen Fokus auf Kurdistan funktioniert.
Diese Entwicklung der HDP und die Erfahrungen der kurdischen Befreiungsbewegung, vor allem diejenigen in Rojava, treffen im Westen der Türkei auf die Vorstellungen und die Sehnsucht nach Formen demokratischer Selbstverwaltung seit dem Gezi-Aufstand. In Teilen der Gezi-Bewegung entstand eine große Sympathie für die HDP auf Grund der Erfahrung von Rojava. Und der Vereinigungspunkt ist eben genau die Forderung nach einer dezentrierten demokratischen Autonomie statt einer autoritären Zentralgewalt. Was die Unterstützung für die HDP angeht: wir unterstützen die HDP aktiv im Rahmen der unabhängigen Wahlinitiative 10’dan sonra, die sich zusammensetzt aus Überresten der Stadtteilinitiativen nach Gezi, aus Gruppen wie Müşterekler, die aktiv sind in Stadtteilkämpfen, aus Mitgliedern von Başlangıç sowie aus unabhängigen Individuen. Der Grund dafür, warum wir die HDP von außen unterstützen und nicht aus der HDP selbst heraus, ist der, dass die HDP zwar ein fortschrittliches Programm besitzt, aber nicht unbedingt eine Organisationsform, die den fortschrittlichen Inhalten des Programmes entsprechen würde. Weswegen wir uns für die Formierung einer unabhängigen Wahlinitiative entschieden haben, um also in antihierarchischer Art und Weise Wahlarbeit betreiben zu können.
Es hat sich zuerst eine Initiative in Istanbul gegründet, dann hat sich 10’dan sonra aber schnell auf viele andere Großstädte wie Ankara, Izmir, Eskişehir und Mersin ausgeweitet. Im Grunde funktioniert 10’dan sonra nach dem Maßstab der lokalen Selbstverwaltung, die jeweiligen Abteilungen in den Städten oder in den Vierteln organisieren selbständig die Wahlarbeit. Wir haben gemeinsame Sticker, Plakate, Poster. Die einzige wichtige Voraussetzung als Teil von 10’dan sonra mitzumachen oder eine eigene Abteilung von 10’dan sonra in einer Stadt zu gründen ist das Einverständnis mit einer Reihe von Prinzipien, wie z.B. die Ablehnung des Präsidialsystems und die Unterstützung von LGBTQ-Rechten. Was die Wahlarbeit angeht sind wir vor allem an Wahlständen und Hausbesuchen aktiv mit dabei, organisieren aber auch eine Reihe an Veranstaltungen wie z.B. eine ökologische Radtour in Istanbul am 24. Mai, die in einer Versammlung mündete, in der der Zusammenhang von Stadt, Ökologie, körperliche Behinderung und Kapitalismus thematisiert und ein eigenständiger Akzent gesetzt wurde.
Was die Risiken der HDP angeht: ich möchte mich hier einmal darauf beschränken zu bemerken, dass die HDP natürlich eine Reihe von Problemen mit sich bringt; dass diese uns aber, als Başlangıç wie auch als 10’dan sonra, erst einmal nicht unmittelbar tangieren, weil wir weder in der HDP, noch in der HDK sind.