Interview mit Zafer Cömert, dem Bruder des während der Gezi-Proteste ermordeten
Kurz nach dem Beginn des Gezi-Aufstandes, der im Mai und Juni 2013 die Türkei erschütterte, wurde Abdullah Cömert bei Protesten in der südtürkischen Stadt Antakya von einer Gasgranate aus einer Polizeiwaffe am Kopf getroffen. Er starb an den Verletzungen. Die Familie Abdocans, wie ihn seine Freunde und Verwandten nennen, kämpft seitdem um die Bestrafung der Mörder. Mittlerweile hat zwar ein Prozess gegen einen Polizeibeamten, Ahmet Kus, begonnen. Der ist sich aber keiner Schuld bewusst und die Behörden sind – logischer Weise – auch nicht gewillt, die Befehlshaber der brutalen und mit äußerster Gewalt durchgeführten Polizeieinsätze gegen die Gezi-Bewegung zu verurteilen.
Im Gegenteil überziehen sie die Angehörigen mit Beschimpfungen und Repression. Die Familie Cömerts befindet sich deshalb, nachdem die beiden Brüder Abdocans ihre Arbeit verloren haben und der Prozess auch finanziell an ihren Ressourcen zährt, in einer überaus prekären Situation. Solidaritätsgruppen rufen zu einer Spendenkampagne auf. (Wer von unseren Lesern was übrig hat, dem sei stärksten empfohlen, hier mitzuhelfen, die Kontonummern stehen auf der verlinkten Seite unten).
Mibbi Mibbilante hat für lower class magazine kurz mit Zafer Cömert, dem Bruder Abdocans, gesprochen.
Die Gezi-Proteste und der Massenaufstand vom Taksim sind nun zwei Jahre her. Kannst du uns erzählen, was da geschehen ist?
Am dritten Tag des Geziaufstandes wurde Abdocan erschossen. Durch den Tod meines Brudes waren wir schon am Anfang des Geziaufstandes mitten drin im Widerstand. Auf der einen Seite versuchten wir, mit diesem Schmerz, den Mörder ausfindig zu machen. Auf der anderen Seite konnten wir jedoch nicht von der Straße weg.
Wie hat dieser Prozess eure Familie beeinflusst? Wir haben mitbekommen, dass Tayyip Erdogan eure Mutter verklagt hat. Kannst du uns schildern, mit welchen Mitteln der türkische Staat euch zum Schweigen bringen will?
Die Hin- und Rückfahrt zum Prozessort beträgt 2600 Kilometer. Der Ort wurde nach Balikesir verlegt, so dass eine Hin- und Rückreise für uns drei Tage in Anspruch nimmt. Meine Mutter hat Kreislaufprobleme und ist zugleich Diabetikerin. Mein Vater hat Herzprobleme. Nichtsdestotrotz fahren sie zu allen Verhandlungen. Der Mörder ist immer noch auf freiem Fuß und im Dienst. Wenn wir nicht resolut wären, wenn unser Kampf nicht existieren würde, hätten wir den Täter meines Bruders nicht finden können, ebenso wie bei Ahmet Atakans, Medeni Yildirims und Berkin Elvans Mördern.
Ich weiß nicht, wie ich das, was unsere Familie in dieser Periode durchgemacht hat, in Worte fassen soll. Während wir damit beschäftig waren, uns mit dem Mörder meines Bruders zu befassen, haben die Befehlshaber dieser Mörder neue Befehle erteilt, um uns das Leben schwer zu machen. Meine Mutter verfluchte die Mörder ihre Sohnes und all unserer Kinder. Daraufhin wollte man gegen meine Mutter ein Verfahren wegen Bedrohung des Präsidenten aufsetzen. Ich wurde ständig in Untersuchungshaft gesteckt und habe aufgrund dessen meinen Arbeitsstelle verloren. Der Staat hat uns überall mit all seinen Mitteln angegriffen. Letztendlich wurde ich als Terrorist deklariert und musste daraufhin außer Landes, nach Russland ins Exil, fliehen. Die Mörder die einen Sohn von meiner Mutter ermordet haben, versuchen den anderen mit allen Mitteln ins Gefängnis zu stecken. Gegen meinen Vater wurde, durch geheime Zeugen, ein Verfahren eröffnet. Wir wissen weder, wer sich beschwert hat, noch wer die geheimen Zeugen sind.
Du schreibst Texte, die von vielen gelesen und verteidigt werden. Gibt es Gruppen um euch herum, die euch unterstützen? Wie finanziert ihr euer Leben im Moment?
Ich schreibe für das Internetmagazin Gezite. Sie wollten meine Stimme werden und haben aufgrund dessen meine Texte veröffentlicht. Ich danke Ihnen sehr. Die größte Unterstützung erhalten wir vom Volk. Revolutionäre Organisationen waren und sind immer bei den Prozessen und Plattformen bei uns. Ich habe Informatik studiert. Ich habe zehn Jahre lang in der Mobilfunktbranche gearbeitet. Wir haben Mobilfunkmasten aufgestellt. Ich war Gruppenleiter.
Aufgrund der Ereignisse, dem Widerstand, der Suche nach dem Mörder und den damit einhergehenden psychologischen Problemen konnte ich nicht mehr arbeiten. Daraufhin mussten wir das Haus, das uns die Mutter meiner Frau vererbt hat, verkaufen. Danach habe ich eine Arbeitsstelle gefunden und fünf Monate gearbeitet, genau bis zu dem Tag an dem die Polizei das Büro mit gezogenen Waffen gestürmt hat. Während dieser Zeit hat mein Bruder, der CHP´ler ist bei der Stadt angefangen zu arbeiten, 6 Monate lang. Er wurde letztendlich gekündigt. Ich bin seit 2 und mein Bruder seit 6 Monaten arbeitslos.
Wir sind drei Familien mit elf Personen, davon sind vier Kinder. Eine von ihnen, Esmihan, ist vor 2 Wochen geboren worden. Sie trägt den Namen meiner Schwester, die aufgrund von gesundheitlichen Problem 1997 gestorben ist. Komme, was wolle, wir werden den Kampf nicht aufgeben. Bis wir die Mörder meines Bruders zur Rechenschaft gezogen haben, werden wir kämpfen. Wir erwarten von den Menschen unseres Landes, dass sie dafür sorgen, dass die Mörder unserer Kinder zur Rechenschaft gezogen werden, so dass der Tod von anderen Kindern verhindert werden kann. Sie nicht zu bestrafen, bedeutet jemanden zu einer Straftat zu ermutigen. Nur gemeinsam können wir diese Ermutigungen beenden.
Die Wahlen kommen näher. Was denkst du was passieren wird? Was sind deine Erwartungen?
Emma Goldmann hat es auf den Punkt gebracht: „ Würden Wahlen etwas ändern, so wären sie verboten“. Natürlich ist eine linke Regierung der Traum der Menschen, aber die Lage der bestehenden Ordnung und Parteien ist kein Geheimnis. Letztendlich ist unser größter Wunsch der Fall der Erdogan-Diktatur.
Interview: Mibbi Mibbilante