„Der 1. Mai gehört der Arbeiterklasse“

20. Mai 2015

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admin

2Kivanç Eliaçik ist Direktor des Departements für internationale Beziehungen der „Konföderation revolutionärer Gewerkschaften der Türkei“ (DISK). Wir haben mit ihm  über den 1. Mai, Arbeitsbedingungen in der Türkei und das Massaker an Minenarbeitern in Soma gesprochen, das sich am 13. Mai zum ersten Mal jährt.

Vor dem 1. Mai gab es Verhandlungen zwischen Ihnen und der Stadtverwaltung von Istanbul über den Ablauf des Tages. Dass der zentrale Taksimplatz nicht für die Mai-Demonstration zur Verfügung stehen würde, war schnell klar. Worum ging es in den Verhandlungen?

Haben wir denn eine Stadtverwaltung? Nein ich mache Spaß. Jeder mit dem wir verhandeln wollten, hat die Verantwortung von sich gewiesen. Es hieß immer „Taksim geht nicht, Anweisung von ganz oben“, was schon merkwürdig ist, da jedes Großevent, vom Fußballspiel zu Nationalfeiertagen, auf dem Taksimplatz gefeiert wird. Der Platz hat für dabei eine historische Bedeutung wegen des bis heute nicht aufgeklärten Massakers von 1977, bei dem mindestens 37 Arbeiter ermordet wurden. Wir wollen also am 1. Mai nicht nur den Kampftag der Arbeiterklasse begehen, sondern auch unseren ermordeten Brüdern und Schwestern gedenken. Von 2010 bis 2012 gab die AKP-Regierung den Platz auch frei, worauf sich hunderttausende versammelten und eine friedliche Kundgebung abhielten. In den letzten drei Jahren hat Erodgan jedoch den Platz komplett für Demonstrationen sperren lassen. Seit drei Jahren verhandeln wir also wieder. Sie verbieten es jedoch mit abstrusen Begründungen, es würde Straßenschlachten geben oder bewaffnete Aktionen bis hin zu Bombenanschlägen gegen die Demo. Wenn jedoch irgend ein Verrückter auf die Demo schießen will, kann er das überall machen.
Desweiteren zeigen unsere Erfahrungen auch, dass die Demonstrationen umso friedlicher sind, je weniger Einmischung es durch die Politik gibt und je mehr sich die Polizei zurückhält. Sogar die Rechtsprechung, von türkischen Gerichten bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, gibt uns Recht: der 1. Mai darf nicht vom Taksimplatz verbannt werden. Aber es ist nun mal Erdoğans ganz persönlicher Wille, uns von dort fernzuhalten. Dieser eine Typ, der sich für einen Imperator oder den Sultan der Türkei hält, setzt sich über jedes bestehende Recht hinweg.
Die Begründung für das diesjährige Verbot könnte auch ironischer nicht sein. Sie waren der Auffassung, dass eine Demonstration in Taksim die Stadtmitte lahmlegen würde, und um das zu vermeiden, haben sie einfach die komplette Stadt lahmgelegt. Kein öffentlicher Nahverkehr, keine Fähren, sogar die Brücken über den Bosporus waren hochgeklappt.
Es gab also keine wirklichen Verhandlungen, sie boten uns lediglich eine symbolische Kranzniederlegung durch Gewerkschaftsvertreter an. Das lehnten wir ab, der 1. Mai gehört der Arbeiterklasse, es ist keine Zeremonie von Gewerkschaftsvertretern.

Am 1. Mai haben sich dann einige tausend Menschen in Beşiktaşş versammelt und über viele Stunden eine friedliche Kundgebung abgehalten, bis die Polizei diese mit viel Tränengas zerstreut hat. Warum gab es keinerlei Gegenwehr?

Erdoğan stellt jede Opposition gegen ihn als Krawallmacher, Plünderer und Terroristen dar. Am Vorabend der Wahlen wollten wir ihm dieses Bild einfach nicht bestätigen. Wir haben deshalb eine sehr seichte Kampagne gefahren. Außerdem gab es vorher Gerüchte über ein Massaker durch die Polizei, was zum Glück nicht
passiert ist. Wir sind jedoch immer noch besorgt, dass so etwas vor 3dem 7. Juni, dem Tag der Wahlen, noch passieren könnte. Der 1. Mai ist nicht nur ein Tag, es ist eine Bewegung. Außerdem sind über 340 Demonstranten festgenommen worden, von denen jetzt mindestens 30 im Knast sind. Die Sache ist also noch nicht vorbei. Das neue Anti-Terror-Gesetz spielt natürlich auch eine Rolle. Nach diesem wird das tragen einer Gasmaske auf einer Demo gleichgesetzt mit dem tragen eines Gewehrs und man kann für viele Jahre ins Gefängnis kommen, nur weil man sich schützen wollte.

Sie hatten gesagt, dass in anderen Jahren Hunderttausende am 1. Mai auf die Straßen gegangen sind. Wie hoch ist der Organisationsgrad der Arbeiterklasse in der Türkei?

Es sind wohl weniger als 10 Prozent der Arbeiter in Gewerkschaften organisiert. Das liegt unter anderem daran, dass Gewerkschaftsarbeit bei uns mehr oder weniger verboten ist. Wenn man einer Gewerkschaft beitritt, wird man wahrscheinlich gefeuert, es ist extrem schwer Tarifverträge abzuschließen, das Streikrecht ist stark eingeschränkt. Bei den Hunderttausenden am Taksimplatz waren also höchstens einige tausend gewerkschaftlich organisiert.

Welche Rolle spielen dabei die sogenannten „gelben Gewerkschaften“, die unter direkter Kontrolle der Arbeitgeber stehen?

Traditionell sind türkische Gewerkschaften „gelbe Gesellschaften“. Da die Industrialisierung der Türkei noch recht jung ist, sind auch die Gewerkschaften ein recht neues Phänomen. Es gab zwar schon im späten 19. Jahrhundert die ersten Streiks und Arbeiteraufstände, aber die erste Gewerkschaft wurde erst in den 1940ern gegründet, damals mit US-amerikanischer Hilfe.
Es waren also keine echten Gewerkschaften, sondern Institutionen, die die Arbeiter im Zaum halten sollten. Erst in den 1960er Jahren haben sich unabhängige Gewerkschaften gegründet.
Wir versuchen die demokratische und unabhängige Gewerkschaftslandschaft zu repräsentieren. Ob wir damit Erfolg haben, kann ich nicht sagen. Wir machen auch manchmal Fehler, aber wir bemühen uns, eine demokratische und unabhängige Gewerkschaftsbewegung zu schaffen.

Vor fast genau einem Jahr starben bei einem Minenunglück in Soma über 300 Arbeiter – ein Vorfall, der zeigt, wie dringend notwendig der Kampf um Arbeiterrechte in der Türkei ist. Haben sich die Arbeitsbedingungen seit Soma verbessert?

Es war ein Massaker, ein Mord am Arbeitsplatz. Es war kein Unfall, sondern ein organisiertes Verbrechen der Firma, die sich nur um ihre Profite schert, und der ihre Arbeiter egal sind. Sie sind die Mörder, sie haben das Verbrechen begangen. Ihr Komplize ist die Regierung, welche die Firmen bis heute gewähren lässt. Auch die Gewerkschaften, die sich nicht um die Sicherheit ihrer Arbeiter gekümmert haben, tragen Mitschuld; wenn man Arbeiter organisiert, ist man auch für ihre Sicherheit am Arbeitsplatz verantwortlich.
Die Arbeitsbedingungen sind im vergangenen Jahr eher schlechter geworden. Die Arbeiter von Soma leiden unter einem kollektiven Trauma, werden jedoch gefeuert, wenn sie sich Medikamente wie Antidepressiva verschreiben lassen. Tausende wurde, übrigens via SMS, gekündigt, weil zwei Minen geschlossen werden mussten. Soma war allerdings kein Einzelfall. In der ganzen Türkei sind die Arbeitsbedingungen so grausam, dass jeden Tag durchschnittlich vier Arbeiter sterben. Im Grunde ist es ein Bürgerkrieg gegen die Arbeiterklasse.

– Interview: Willi Effenberger

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