Im Libanon leben 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien. Ihnen mangelt es an fast allem.
Die Nacht endete zeitig durch das Weckerklingeln um fünf Uhr früh. Mit einer extra starken Tasse Kaffee und einer Kippe überbrückten wir die Zeit, bis der Fahrer uns kurz nach sechs abholte und mit uns Richtung Bekaa-Ebene aufbrach, wo wir mit einer humanitären Hilfsorganisation verabredet waren. Die Fahrt führte schnell in die wunderschönen Berge Libanons, vorbei an zahlreichen Militärcheckpoints und unzähligen Lastwagen voller Hilfsgüter auf ihrem Weg nach Syrien. Es ist kalt. Der Schnee ist hier in den Bergen knietief. Uns stellt sich, nicht zum ersten Mal, die Frage wie es Menschen möglich ist, unter diesen Umständen mit nichts als improvisierten Zelten zu überleben.
Der Gedanke war kaum zu Ende gedacht, da geht die Fahrt auch schon wieder bergab. Der Gipfel liegt hinter uns und vor uns erstreckt sich die Bekaa-Ebene. In ihr haben in vielen hundert kleineren und größeren Flüchtlingslagern etwa 400 000 syrische Flüchtlinge Zuflucht vor dem seit vier Jahren wütenden syirschen Bürgerkrieg gesucht. Offizielle Lager gibt es nicht, die Regierung spricht von „inoffiziellen Siedlungen“. Große Camps über 150 Zelten sind verboten, da die Erfahrungen aus der eigenen Geschichte, in der die palästinensischen Flüchtlinge massiv am libanesischen Bürgerkrieg beteiligt waren, nicht vergessen sind. Außerdem hat das Land mit seinen knapp 4 Millionen EinwohnerInnen bis jetzt schätzungsweise 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen.
Kurz vor 8:00 Uhr kommen wir beim Büro der Hilfsorganisation in Zahlé an. Wir werden hereingebeten, uns wird Tee angeboten, wir sitzen und erzählen. Einer der Helfer spricht deutsch. Er erzählt uns, wie schlecht, wie „katastrophal“ es um die Menschen in den Zeltlagern steht. Es fehlt an allem: Nahrung, Kleidung, Heizmitteln und nicht zuletzt Arbeit. Einige können im Sommer auf den Kartoffelfeldern der Gegend als Saisonarbeiter etwas Geld verdienen. Männer bekommen dort oder auf dem Bau pro Tag 20-25.000 libanesische Pfund, umgerechnet 12 Euro. Frauen verdienen deutlich weniger. Sie bekommen 6000 libanesische Pfund für einen acht Stunden Tag, umgerechnet etwa 3,50. Kinder arbeiten noch billiger, für 4000 libanesische Pfund. Von den Hilfsorganisationen gab es bis vor einiger Zeit pro Monat und Person noch 30 US-Dollar (26 Euro) auf eine E-Card, mit der man Nahrungsmittel kaufen kann. Da die Krise jedoch so lange anhält, die Spenden weniger werden und die UN-Hilfsgelder auch in andere Krisenregionen verteilt werden müssen, hat sich das Monatsgeld inzwischen auf 19 US-Dollar (16,70 Euro) reduziert.
Wir brechen auf in das erste Camp, die Fahrt dauert etwa 20 Minuten und alle 500 Meter sind Gruppen von Zelten aus Plastikplanen zu sehen, bis wir auf einen großen schlammigen Platz fahren. Vor uns liegt eines der größten Camps der Gegend, mit ca. 150 Zelten, in denen je eine Familie mit mindestens fünf Personen lebt. Meistens eine Mutter mit vier Kindern. Junge Männer sehen wir fast keine. Wo sie sind, wird uns so direkt nicht beantwortet, „sie sind wieder eingereist“, heißt es. Was das genau bedeutet bleibt unausgesprochen aber die Vermutung liegt nahe, dass viele sich einer der Fraktionen im Bürgerkrieg angeschlossen haben.
Die Kinder freuen sich, mal von ihrem Alltag abgelenkt zu werden und springen uns zwischen den Beinen herum, zeigen uns jeden Winkel des Camps und weisen uns auf jede Pfütze hin. Im Grunde genommen ist das gesamte Camp eine einzige Schlammpfütze, was auch momentan das Hauptproblem der BewohnerInnen darstellt. Das Schmelzwasser vermischt sich mit dem Grundwasser und drückt aus dem Boden, weshalb alles nass und matschig ist, selbstverständlich auch in den Zelten. Später wird klar, dass es keineswegs nur Wasser ist, da die Latrinen auch direkt im Grundwasser enden.
Wir bieten den Kindern unsere Kameras an, um Bilder zu machen, strahlen die Augen und sie ziehen zielstrebig los und knippsen was ihnen vor die Linse kommt – die Hölle auf Erden mit Kinderaugen gesehen.
Bald ist es auch schon wieder Zeit für den Abschied, wir wollen uns noch ein anderes, kleineres Camp ansehen. Weit fahren müssen wir dafür nicht. Im Grunde ist es zwei Straßenecken weiter, wieder Plastikzelte, wieder Matschpfützen, wieder barfüßige Kinder, die aus dem fotografiert-werden ein Spiel machen. Es macht Spaß die Kinder zu fotografieren und es ist schön, sie lachen zu sehen. Die menschenunwürdige Realität, in der sie leben müssen, ist für einen Moment nahezu verdrängt.
Einige von ihnen leben bereits seit drei Jahren in den Camps, einige Andere sind sogar in ihnen geboren. Sie haben in der Zeit, die eigentlich die unbeschwerteste ihres Lebens sein sollte, mehr ertragen müssen, als ich in meinem gesamten Leben. Bevor wir den Camps wieder den Rücken kehren müssen, sehen wir noch eine Verteilaktion einer Hilfsorganisation. Es werden Wintersachen für Kinder ausgegeben, an alle die die notwendige Karte und Registereintrag bei der Organisation haben. Alles ist sehr genau durchorganisiert. Niemand bekommt hier irgendetwas zuviel. Anschließend ging es, mit gedankenschwerem Kopf, wieder zurück nach Beirut. Zurück ins „Paris des nahen Ostens“, wo Luis Vuitton und Rolex ihren Luxusschrott auf den Schaufenstermeilen derInnenstadt verkaufen. Keine Autostunde von den Camps und den Kindern der Bekaa-Ebene entfernt.
– Fotos und Text von Willi Berg