Warum dein Wecker nur im Kommunismus die Fresse hält. Ein kleiner Essay zur Ökonomie der Zeit
Um 7:30 klingelt der Wecker. Aus rastlosem Schlaf erwachen wir, es ist noch dunkel. Wir drücken den „Schlummer“-Button, dämmern noch fünf Minuten vor uns hin, vor dem nächsten schrillen Ton, der uns gewaltsam aus dem Halbschlaf reißt. Kaum zu Bewusstsein gelangt, finden wir uns taumelnd in der Küche wieder, wo wir mit der einen Hand Kaffee kochen, mit der anderen Eier in Pfannen schleudern, nur um dann, während des eiligen Hinunterwürgens von etwas, das den Namen Frühstück kaum verdient, zu bemerken: Wir sind schon wieder spät dran.
Viele von uns werden zur Arbeit müssen, andere zum Amt, wieder andere zu einer Prüfung oder Vorlesung, die jüngeren unter uns in die Schule. Wir haben diesen unseren Morgen nicht zur freien Gestaltung. Und leider, so fällt uns auf, wenn wir darüber nachdenken, ist dieser Morgen auch kein Sonderfall, er ist die Regel. Mindestens fünf von sieben Tagen in der Woche beginnen so, und ihr Verlauf ist nicht angenehmer als ihr Beginn. Ein Termin jagt den nächsten, permanent haben wir zu planen, wofür wir „Zeit haben“ und wofür nicht. Acht oder mehr Stunden täglich verbringen wir bei unserer Lohnarbeit oder an Universitäten, in Schulklassen oder Umschulungsmaßnahmen. Der Rest, der übrig bleibt, wird gefüllt mit anderen vermeintlichen Notwendigkeiten: Wir füllen sinnlose Dokumente aus, suchen nach Wohnungen, müssen Geld auftreiben, Rechnungen und Strafen bezahlen, bei Vorstellungsgesprächen oder Weiterbildungsseminaren antanzen.
Die Regenerationsphasen, die uns bleiben, sind eben das: Regenerationsphasen. In ihnen haben wir genau die Zeit, um uns so wiederherzustellen, dass wir wieder funktionieren können. Wir kommen nach 8 Stunden Scheiße aus dem Büro, der Schule oder sonstewoher, fahren dann erst mal halbe Ewigkeiten in überfüllten Öffis unbezahlt eine Route, die wir uns nicht freiwillig ausgesucht haben, um dann die verbleibenden Stunden des Tages dafür nutzen zu dürfen und für den nächsten Tag zu „erholen“.
In den wenigen Stunden der Ruhe oder gar Muße stellt sich bei nicht wenigen der Gedanke ein: War´s das schon? Kommt da noch mehr, oder mache ich das jetzt so, bis eines Tages das Licht ausgeht? Viele betrügen sich dann selbst. In der Schule denken sie: Danach, in der Uni, wird alles besser. In der Ausbildung hoffen sie: Danach, im Arbeitsleben wird alles besser. Angekommen im Berufsalltag hofft man auf die Rente, in der man dann endlich selbstbestimmt seine Zeit verwalten und sich lange gehegte Träume erfüllen werde. Aber das aufgeschobene schöne Leben tritt nie ein und irgendwann stellt man fest: Die Möglichkeitsspielräume werden nicht größer. Fenster schließen sich, irgendwann stirbt man.
Diejnigen, die noch den Glauben dazu aufbringen, verschieben das geglückte Leben noch weiter, nämlich in ein Jenseits. Sie hoffen, ein gütiger Gott werde sie einst aus diesem Jammertal erlösen, und sie lassen sich – ganz konform der Logik warenförmiger Gesellschaften – zu einem Tauschgeschäft hinreißen: Ich verhalte mich „brav“ und ertrage den Durchmarsch durch die Prüfung Leben mit großer Leidensfähigkeit, dafür wird „später“, also nach meinem Tod, alles gut und ich kann auf Wolken chillen.
„… darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf“
Der permanente Stress, der Leistungsdruck, dazu noch der Kontostand, noch zu tätigende Zahlungen. Das Hamsterrad macht uns krank. Die einen versuchen am Wochenende in der Kneipe den Kopf leer zu trinken, aber nach dem Kater ist auch der Druck wieder da und abermals Zeit verloren, die man nun irgendwie einarbeiten muss. Die anderen werden depressiv, holen sich mit 25 ihr erstes Burn-Out-Attest ab oder versuchen, die Leere durch Konsum und Eskapismus zu füllen. Das Wettbüro, die Eckkneipe, der Club und der Playstation-Screen sind die Orte unserer Flucht, die nicht befriedigt und immer nur solange andauert, bis der Kontostand uns unerbittlich in den Alltag zurückruft.
„Ökonomie der Zeit, darin löst sich schließlich alle Ökonomie auf“, schrieb Karl Marx in seinen „Grundrissen“ und meinte das auf die Gesellschaft im Ganzen wie auf die Individuen bezogen. Bleiben wir einen Moment bei uns, bei den einzelnen Individuen. Wir erleben unseren Alltag, unsere Zeiteinteilung als im wesentlichen fremdbestimmt. Wann ich was mache, das kann ich mir in den meisten Fällen nicht selbst aussuchen, und ich kann die Bedingungen, unter denen ich entscheide, wann ich was machen will, nicht selbst bestimmen.
Morgens gehe ich arbeiten. Ich will nicht. Aber ich gehe. Ich will dort auch keine 8 Stunden verweilen. Aber ich muss – unter der Voraussetzung, dass ich den Job behalten will. Nun könnnte ich auch ohne diesen Job leben, sogar besser. Allerdings: Ich kann nicht ohne den Lohn leben, den ich für diesen (oder einen anderen) Job bekomme. Alles, was ich brauche oder mir anschaffen will, Wohnung, Computer, Nahrung, Kinokarten, Kippen, Kleidung, Tattoos – alles das, ist mir nur zugänglich, wenn ich einen Teil dieses Lohns dafür eintausche. Auch die Zeit, die ich in Ausbildung, in Uni und Schule investiere, die Zeit, die man auf dem Amt und in Umschulungsmaßnahmen verbringt, die Zeit, die man braucht, um seine Steuererklärung auszufüllen oder Sozialstunden für begangene Vergehen abzuarbeiten, ist über denselben Mechanismus vermittelt.
Der ist nicht allzu schwer zu verstehen. „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform“, eröffnet Karl Marx sein Hauptwerk „Das Kapital“. (Nahezu) alles, was ich brauche oder will, tritt mir als Ware gegenüber. Und Waren muss ich bezahlen, mit Geld. Und weil ich nicht in der glücklichen Position bin, Produktionsmittel zu besitzen, bleibt mir letztlich nur eins, was ich – über eine Reihe von Vermittlungsschritten – eintauschen kann: Meine Zeit in Gestalt meiner Arbeitskraft.
Ein hartnäckiger Traum
Weil kapitalistische Gesellschaften nur funktionieren, wenn Kapital akkumuliert wird, das aber wiederum nicht klappt, ohne dass in der Aneignung von Arbeitskraft Mehrwert geschaffen wird, läuft das Hamsterrad, in das uns unser Wecker täglich entlässt, weiter, und zwar schneller und schneller.
Wie bei der Gesellschaft insgesamt, so schreibt Marx an der oben schon zitierten Stelle, hängt auch beim Individuum „die Allseitigkeit ihrer Entwicklung, ihres Genusses und ihrer Tätigkeit von Zeitersparung ab“, also davon, dass wir die für unsere Reproduktion als Gattung notwendigen Tätigkeiten in weniger Zeit erledigen können, damit uns mehr disponible Zeit bleibt, um politische, spielende, kommunikative, sich frei bildende Wesen zu sein. In dem Maße, in dem sich unsere Produktivkräfte entwickeln, steht uns dafür die Möglichkeit zur Verfügung. Doch diese Möglichkeit muss realisiert werden, und zwar gegen die Produktionsweise, in der wir leben. Solange es die gibt laufen und laufen wir, denn wer vereinzelt und ohne etwas besseres parat zu haben, hinausfällt, landet anders als der Hamster nicht auf weichem Stroh und frisst fröhlich Karotten, sondern in der Gosse.
Und dennoch haben wir nie aufgehört, uns vorzustellen, dass es auch ein Leben jenseits der zyklischen Wiederkehr des immer selben (Arbeits-)Tages geben könnte. Wir alle träumen, auch diejenigen, die sich dessen nicht bewusst sein, von einem Leben, in der weniger (oder vielleicht gar nichts?) von unserer Zeit in fremdbestimmten Tätigkeiten, in entfremdeter Arbeit, untergeht. Wie widrig die Zeiten sein mögen und wie verkehrt sich dieser Traum uns auch präsentiert, sind wir davon nicht abzubringen. „Die Hartnäckigkeit der Vorstellung von einer anderen Welt, in der alles besser wäre, geträumt von Sklaven auf antiken Großbaustellen wie von Erwerbslosen im Internetcafé, ist das dem Leben der Leute Allgemeine, sofern sie überhaupt sprechen, denken, sich etwas vorstellen können“, schreiben Dietmar Dath und Barbara Kirchner im „Implex“.
Utopischer Überschuss
Aus diesem Traum, diesem utopischen Überschuss, ein politisches Konzept zu machen, das ist Aufgabe der radikalen Linken. Die Bedürfnisse, Wünsche und Träume, die über den Kapitalismus hinausweisen, zu einer Strategie zu formen, muss unsere Kernaufgabe sein. Der Ansatz bei der Ökonomie der Zeit ist dabei kein schlechter. Die traditionelle ArbeiterInnenbewegung formulierte ihn als Kampf um Arbeitszeitverkürzung, aber er ist nicht auf die Kernschichten der ArbeiterInnenklasse beschränkt.
Gerade heute, da die ArbeiterInnenklasse zwar keineswegs, wie das bürgerliche SoziologInnen gerne hätten, verschwindet, sich aber sehr wohl die Lebenswirklichkeiten der verschiedenen Teile der Klasse immer mehr unterscheiden, ist es wichtig, Forderungen und Themen zu entwickeln, die für die gesamte Klasse, vom Fließbandarbeiter bis zum Erwerbslosen im Internetcafé, von der Studentin bis zur Reinigungskraft, relevant sind.
Die Entschleunigung unseres Alltags, der Kampf gegen den Druck, der uns durch die – je unterschiedliche – Fremdbestimmung über unseren Zeithaushalt auferlegt wird, ist so ein Themenbereich. Jeder und jede kennt das aus der eigenen Erfahrung, und das Thema führt wie von selbst in den Umkreis jener Begriffe, deren Erläuterung uns aufschließt, warum Kapitalismus dann auch mal weg muss: Ware, Aneignung fremder Arbeitskraft, Kapital, Mehrwert, Ausbeutung.
Der allgemein vorhande Wunsch nach Entschleunigung des eigenen Alltags lässt sich auch leicht in Kämpfen finden, die ohnehin existieren. Von ganz alltäglichen unbewussten Widerstandsformen wie dem von der befreundeten Ärztin ausgestellten Krankenschein, der in Abwesenheit des Chefs eingelegte Arbeitspause über den beim Amt nicht angemeldeten Urlaubsausflug bis hin zu bewussten Kämpfen um Arbeitszeitverkürzung oder gegen die den Studienalltag unerträglich machende Verschulung der Universitäten.
All diese Kämpfe kann man unterstützen, selber führen – und in ihnen deutlich machen, dass ihr Erfolg innerhalb dieser Gesellschaftsordnung und an ihr seine Grenzen hat. Deutlich machen, dass eine andere Gesellschaftsordnung möglich ist, die wir mangels besserer Worte immer noch Kommunismus nennen wollen, in der sowohl die gesellschaftlich zur Verfügung stehende (Arbeits-)Zeit anderen Gesetzen folgt als den heutigen, als auch die uns individuell gegebene nicht mehr zu einem Marathonlauf in Richtung Sarg werden muss.
– Von Peter Schaber
PS: Wenn die ultrahässliche Springer-Postille „Die Welt“ Künstlerausgaben für zigtausende Euro gestalten kann, können wir das schon lange. Wir bedanken uns für die Illustrierung des Textes bei Jean La Fleur, den könnt ihr auf Facebook besuchen: https://www.facebook.com/itsjeanwitch?fref=ts