Am vergangenen Freitag griff die türkische Polizei das linke Istanbuler Viertel Gazi Mahallesi an. Der zwölfte September – Kein Tag wie jeder andere in der türkischen Geschichte. Am 12. September 1980 putscht sich das türkische Militär an die Macht. Das Kriegsrecht wird verhängt, alle politischen Parteien werden verboten. Nach dem Putsch werden tausende politische Gefangene gefoltert und zum Tode verurteilt.
Am 34. Jahrestag will der türkische Staat wieder einmal seine Muskeln spielen lassen. Um 5:00 in der Morgendämmerung stürmt die Polizei insgesamt 150 Wohnungen im revolutionären Stadtteil Gazi. Dieser ist ein Dorn im Auge der Regierung, ihres Gewaltmonopols und ihrer ausführende Organe. Polizisten bewaffnet mit Maschinengewehren stürmen in unzählige Wohnungen, durchsuchen sie. Es gibt etliche Festnahmen.
Im Laufe des Tages zeigen die Bewohner des Viertel selbst was es von dieser Machtdemonstration des türkischen Staates hält. Es kommt zu heftigen Straßenschlachten die sich über etliche Stunden bis ca. 16:00 hinziehen. Dann zieht die Polizei sich zunächst zurück.
Während der morgendlichen Durchsuchungswelle bringt die Polizei zudem einen Kran in das Viertel mit dem ein nicht genehmigter Baucontainer, der als eine Art Bürgerbüro genutzt wird, aus dem Viertel entfernt wird. Zunächst versuchen Bewohner einen neuen Container herbei zu schaffen, werden an diesem Vorhaben aber von der Polizei gehindert.
Am späten Nachmittag beruhigt sich die Lage etwas. Die Bewohner begutachten die Schäden des Vormittags, versuchen notdürftig die Straßen von Steinen und Glassplittern zu befreien. Man bereitet sich auf den Abend vor. Für 20:00 ist eine Demonstration durch das Viertel geplant um die Bewohner über die Details des Vorgehens der Polizei an diesem Morgen zu informieren.
Um 19:00 wirkt das Viertel wie im Belagerungszustand. Die
Hauptzufahrtsstraße ist mit brennenden Tonnen blockiert worden um für die am Abend geplante Demonstration die Straße frei von Autos zu halten. Nach und nach fahren immer mehr gepanzerte Fahrzeuge der Polizei, insbesondere der Terörle Mücadele Dairesi Başkanlığ, des Dezernats für Terrorbekämpfung, in Gazi auf. Eine kleine Karawane bahnt sich ihren Weg in Richtung des Viertels, bleibt aber zunächst auf Abstand.
Die Bewohner Gazis scheint all dies nicht weiter zu beeindrucken. Die Menschen sitzen in den Restaurants und Cafés des Viertels. Nach dem turbulenten Tag nehmen einige erst jetzt ihr Frühstück zu sich. Die Läden sind geöffnet und die Straßen sind gut gefüllt. In Gazi hat man sich an diese Situation gewöhnt. Auch wenn viele der Bewohner der Gewalt, den dauernden Schäden an ihrem Eigentum und der so oft angespannten Lage in ihrem Viertel überdrüssig sind, so sind sich doch alle einig, wer die Verantwortung für diese Situation hat. Das sind nicht die verschiedenen politische Gruppen die das Viertel kontrollieren. Für die Bewohner steht fest: „Nicht Gazi ist das Problem- Der türkische Staat und seine ausführenden Organe sind das Problem!“
Gegen 19:30 sammeln sich die Teilnehmer der Demo hinter einem Lautsprecherwagen. Rund 150-200 Menschen sind gekommen. Menschen jeden Alters sind vor Ort. So sieht man Kinder die Seite an Seite mit Jugendlichen und älteren Leuten laufen. Die Stimmung wirkt sehr familiär.
Um 20:00 Uhr geht es los. Die Straße ist frei, von der Polizei ist nichts zu sehen. Begleitet werden Demonstrationen im Zentrum Gazis nicht. Man ist sich im Klaren wie die Reaktion auf einen solchen Eingriff durch die Polizei aussehen würde. Langsam bahnt sich der Demonstrationszug seinen Weg durch das Viertel. Immer wieder wird gestoppt um die Menschen durch den Lautsprecherwagen darüber zu informieren, was am Vormittag geschehen war. Aus der Demo heraus wird gelegentlich in die Luft gefeuert. Jeder dieser Schüsse wird mit Applaus beantwortet. Man zeigt das man bereit ist zu kämpfen und sein Viertel und das was dort über Jahrzehnte geschaffen wurde zu verteidigen. Kurzzeitig kommt Hektik auf. Ein gepanzertes Fahrzeug nähert sich der Demo, dreht aber sofort wieder ab. Nach rund einer Stunde ist die Veranstaltung vorbei.
Gegen 21:00 Uhr wird am oberen Teil des Viertels eine Straße blockiert. Dies dient als Signal, dass man dazu bereit ist zu kämpfen und sich der Polizei zu stellen, die sich weiterhin außer Sichtweite befindet. Rund 150 Leute stehen zu diesem Zeitpunkt unweit der blockierten Straße. Es wird gesungen und getanzt. In Gazi laufen Demonstrationen oft auf diese Weise ab. Die Polizei kommt nur selten direkt in das Viertel, noch begleitet sie die Demos. Doch will man, nachdem man die Bewohner des Viertels informiert hat, klar zeigen was man von den Aktionen des Vormittags und der starken Polizeipräsenz in und rund um das Viertel hält.
Nur eine halbe Stunde dauert es bis die Polizei reagiert. Gegen 21:30 fahren etliche gepanzerte Fahrzeuge und Wasserwerfer auf die Blockade zu. Nur Minuten später liegt eine sich immer weiter ausbreitende Gaswolke über dem Viertel. Die Menschen laufen mit tränenden Augen in die Restaurants und Geschäfte um sich zu schützen, während die Polizei ihre Macht demonstriert und durch die Straßen patrouilliert. So vergeht ein weiterer Tag in Gazi. Ein Viertel, dem ihre Bewohner nicht ohne Grund den Namen „Texas“ gegeben haben. Jedoch nicht ohne dabei auch eine gute Portion Stolz zu zeigen. Gazi stellt sich gegen das Gewaltmonopol des Staates, auch wenn dieser Widerstand riesige Entbehrungen und Verluste impliziert.
Am Morgen des 12. September transportierte man den Baucontainer aus dem Viertel. Am Abend liegen bereits genug Baumaterialen bereit, um den Container durch ein stabileres Objekt zu ersetzen. Gazi lässt sich nicht einreißen.
– Von C. Stahl
– Fotos mit freundlicher Genehmigung von Sinan Targay