„Was zur Hölle macht also eine Hyundailadung österreichischer, türkischer und kurdischer GenossInnen in der Nacht beim alevitischen Dede im Bergdorf?“, nahmen wir uns als Arbeitsfrage vom zweiten Teil dieser Artikelserie mit. Die einfache Antwort: zuerst einmal Tee trinken.
Es ist kein Zufall, dass es RevolutionärInnen zum Übernachten in ein für AlevitInnen heiliges Haus verschlägt. Die Ausrichtung der AlevitInnen kann mit einer Spielart der Befreiungstheologie umrissen werden. Das AlevitInnentum (nicht zu verwechseln mit den AlawitInnen in Syrien) ist eine Glaubensrichtung, die ihren Ursprung im 13./14. Jahrhundert hat.
Zeit ihrer Existenz waren die Gläubigen Verfolgung, Ausgrenzung und Unterdrückung ausgesetzt. Über die Jahrhunderte kam es immer wieder zu blutigen Aufständen, die wiederum Massenmorde und Vertreibungen zur Folge hatten. Im heutigen Staatsgebiet der Türkei sind offiziell 15% der Bevölkerung alevitisch, behält man die Zwangssunnitisierungen, Vertreibungen und die permanente Repression im Hinterkopf, liegt der Prozentsatz weitaus höher. Nach dem was uns erzählt wird, sind es zwischen 20-25 Millionen, also ein gutes Viertel der Bevölkerung. Vom türkischen Staat werden die AlevitInnen nicht mal als religiöse Minderheit anerkannt.
AlevitInnentum und Revolution
Der Dede stammt aus einer heiligen Familie, die seit über 400 Jahren dieses religiöse Zentrum betreibt. Er ist das geistliche Oberhaupt, aber ebenso gewählter Bezirksrat von Hozat und erklärt uns, dass die AlevitInnen immer gegen Ungerechtigkeit gekämpft hätten. Bei den Geziprotesten 2013 standen sie gemeinsam mit revolutionären Kräften an der vordersten Front, verteidigten die Barrikaden gegen die Angriffe des türkischen Staats, warfen die Tränengasgranaten zurück und mussten als Folge der Auseinandersetzungen in Istanbul Todesopfer beklagen. Der Übergang zwischen RevolutionärInnen und Menschen alevitischen Glaubens ist fließend, die Schnittmenge groß. Wir hören Geschichten von der Unterstützung der Guerillaeinheiten in der Region, davon dass Verletzte in dem Haus, wo wir schlafen werden, versorgt wurden. Mit der Hand weist der Dede auf einen der umliegenden Berge und meint, ob wir wüssten, was das für Lichter sind, die uns von dort aus entgegen leuchten. Nach der Verneinung der rhetorischen Frage überrascht die Antwort nicht: eine türkische Militärbasis. Er erzählt davon, dass in einzelnen sunnitischen Moscheen mitunter davon gesprochen wird, dass alevitische Frauen und Männer nach dem Gebet zum Beischlaf übergehen. Wir werden uns am nächsten Tag aus erster Hand davon überzeugen, dass dem nicht so ist.
Essen wird an den Tisch gebracht, erstmals seit unserer Ankunft in der Türkei muss ich mir temperaturbedingt eine Weste überziehen. Wir mampfen selbstproduzierte Köstlichkeiten wie den verflucht nochmal besten Schafskäse, den ich jemals am Gaumen hatte, pikante Oliven und wunderbar zubereitete kleine Stückchen Leber, über die ich mich als deklarierter Saumagen unserer Reisegruppe als einziger gebürtiger Österreicher drüber traue. Die anderen Feiglinge verschmähten bereits in Istanbul Kokoreç, unsere vegan lebende Genossin gilt als entschuldigt. Im alten Ofen auf der Terrasse knackst das Holz, der kühle Bergwind treibt Rauchschwaden behäbig an den schiefen Laternen vorbei, Hunde streuen herum und heulen alle paar Minuten in die kurdische Nacht hinein.
Das Leben am Berg ist kein einfaches: wer sich dem Erdogan-Wahnsinn nicht beugt, hat mit keinerlei Unterstützung zu rechnen. Staatliche Leistungen gibt es in vielen Fällen nur für SunnitInnen, die aber in der Region so gut wie nicht vorhanden sind. Trotzdem werden sunnitische Moscheen gebaut. Das Dorf bezieht sein von einem Gebirgsfluss abgezweigtes Wasser rund 500 Meter bergab von den Häusern bei einem kleinen Steinverbau. Dort plätschert es aus zwei Rohren. Abwasch, Trinkwasser, Körperhygiene und Wasser fürs Plumpsklo müssen so herbei geschafft werden. Im Winter liegen hier auf fast 2000 Höhenmeter über drei Meter Schnee, die das Dorf monatelang vom Zentrum in Hozat abschneiden. An ein Wegkommen ist nicht zu denken und eine Schneeräumung ist schon allein aus logistischen Gründen nicht möglich. Straßen im engeren Sinn des Wortes sind nicht vorhanden. An selbstgebastelten Skiern und behelfsmäßig gefertigten Schlitten werden die Wege durch die Schneemassen zurück gelegt. Strom gibt es im Schnitt alle zwei Tage, die auf jedem Dach zu findenden Solaranlagen schaffen Abhilfe.
Himmel, Hölle, Kommunistenmord
Wir sitzen lange beisammen und dank unseres großartigen Übersetzers können wir uns bis tief in Nacht unterhalten. Der Dede erzählt, dass AlevitInnen und KommunistInnen von der Reaktion in der Türkei mit Hass überzogen und als Ticket ins Paradies gehandelt werden. Um nach dem irdischen Leben per Express ins Paradies zu gelangen, hast du nämlich neben dem Djihad noch eine zusätzliche Option: töte entweder sieben AlevitInnen oder sieben KommunistInnen. Dann gibt’s Paradies inklusive Jungfrauen und Co. Aufgrund der Geschichte und der nicht enden wollenden Unterdrückung des alevitischen Glaubens kommt er im Gegensatz zum handelsüblichen theistischen Opium ohne Antikommunismus aus. Kopftücher gibt’s hier maximal als normales Kleidungsstück bei älteren Frauen, ähnlich wie in kleinen österreichischen Dörfern.
Der Dede fragt uns nach unseren Betätigungsfeldern und als er erfährt, dass ich mich hauptberuflich um Betriebs- und Gewerkschaftarbeit kümmere, ernte ich ein thumbs-up und die Bemerkung, dass das wichtig für die Revolution sei. Er will wissen, ob wir an Paradies und Hölle glauben. Als wir lachend den Kopf schütteln, zündet er sich die gefühlte dreißigste Camel an und spricht langsam mit sonorer Stimme. Seine von harter Landarbeit geprägten Hände holen zu weiten Gesten aus und er redet darüber, dass die Frage nach Himmel und Hölle keine religiöse ist. Für viele ist das Leben in der vom Kapitalismus verheerten Welt bereits jetzt die Hölle und einige wenige würden auf Erden das Paradies erfahren. Daher muss der Kampf im Hier und Jetzt passieren. Wir stimmen zu.
Bergbauern, Fekter und EU-Beitritt
Die ehemalige Innen- und spätere Finanzministerin Österreichs, Maria Fekter, sagte vor ein paar Jahren zum Thema Einwanderung sinngemäß, dass „wir“ keine Bergbauern aus Ostanatolien bräuchten. Abseits des diesen Aussagen zugrundeliegenden Rassismus und Chauvinismus, können wir mittlerweile getrost sagen, dass die „ostanatolischen Bergbauern“, die wir kennenlernen durften, Weltoffenheit, Intelligenz, Menschenliebe und Solidarität in einem Ausmaß in sich vereinen, das für Maria Fekter selbst nach eingehender „Überzeugungsarbeit“ unerreichbar wäre. Wir diskutieren noch lange mit dem Dede. Obwohl es so scheint, als wäre das Dorf von dem was zuhause unter dem Begriff „Zivilisation“ läuft, völlig abgeschnitten, ist er über weltpolitische Fragen bestens im Bilde. Zwar gibt es im Moment kein fließendes Wasser im Haus, aber er deutet auf sein Smartphone und meint, dass sich die Menschen hier neben Zeitungen und Fernsehen eben über das Internet auf dem Laufenden halten.
Er fragt uns, was wir zum EU-Beitritt der Türkei sagen. Wir antworten, dass die EU ausschließlich den Interessen der Banken und Konzerne dient, sich in ihrer Wirkung immer gegen die Bevölkerung richtet und mit dem Beitritt den Völkern, die im türkischen Staat leben, ein Bärendienst erwiesen wäre. Er nickt bei der Übersetzung viel, ergänzt dass die Situation der AlevitInnen für die EU nie eine Rolle gespielt hat und meint, dass sie Armut und Kriege schafft, nur dem Kapital dient. Außerdem sollten wir an die Geschehnisse dieses Jahr in der Ukraine erinnern. Amen, Dede!
Profane Problemchen unterm Sternenhimmel
Auch wenn wir bestens umsorgt werden, kann der proletarische Internationalismus nicht überall zur Stelle sein. Die Befriedigung unserer menschlichen Bedürfnisse stellen insbesondere einen Grazer Genossen und mich vor logistische Herausforderungen. Beim besten Willen können wir uns nicht ausmalen, wie wir uns auf der Rückseite des heiligen Hauses über das kleine Loch, das sich hinter der mit wenigen Bretter zusammengenagelten Tür befindet, hinhocken könnten, ohne uns wortwörtlich in die Hose zu scheißen. First world problems. Und auch als wir die beiden österreichischen Genossinnen um Rat fragen, wird die Situation nicht klarer. Unserer Meinung nach ist die Hose wie man es auch dreht und wendet immer im Weg. Das ist eines der ungelösten Rätsel, die ich wieder zurück nach Österreich nehmen werde. (Sachdienliche Hinweise dazu bitte an: lowerclassmagazine@riseup.net.) Mangels Flipchart und Youtube-Tutorials entschließen wir uns dazu, beim Klogang die Hosen ganz abzustreifen und an einen der Nägel zu hängen, mit denen die Tür am Aufgehen gehindert wird. Klappt alles ausgezeichnet und erweist sich bei den nächsten Tagen in den Bergen als gangbare Strategie.
Vor dem Schlafengehen helfen wir noch beim Abwasch, was eine kleine Wanderung zum Wasser bedeutet. Wir tragen das Geschirr in großen Plastikschüsseln die stockfinstere Straße runter. Eine Taschenlampe vermeidet gröbere Stürze und spendet Licht für den Abwasch. An der Wasserstelle angekommen blicken wir in den Sternenhimmel, der sich über uns ausbreitet. Ich traue meinen Augen kaum, als ich zum ersten Mal in meinem Leben die Milchstraße klar und deutlich über mir leuchten sehe. Während im nahegelegenen Stall offenbar eine Ziege aus dem Traum gerissen wird und wie wahnsinnig herumbrüllt, bestaunen wir mit sperrangelweit offenem Mund die unzähligen Sterne, bevor wir das saubere Geschirr wieder bergauf tragen.
Nach diesem langen Tag, der ungeplant zwei Artikel eingenommen hat, schleppen wir uns in unser Schlafzimmer, in dem bereits Betten vorbereitet wurden. Wir schlafen schnell und tief ein. Wie wenn wir schon wüssten, dass der nächste Tag blutig beginnen wird. Außerdem erwarten uns kurdische Bergbauern, die verwundert reagieren, wenn du sie mit Frauennamen ansprichst, der erste Tag des Munzur-Festivals, Gebirgsquellen und ein meet-and-greet mit dem kommunistischen Bürgermeister von Ovacik, der vom Kampf gegen die Regierung und rätedemokratischen Strukturen zu erzählen weiß.
Von Hermin Šnops