Ein Interview mit dem FAZ-Redakteur und Schriftsteller Dietmar Dath am Rande des UZ-Pressefests 2014 in Dortmund-Wischlingen, über Literatur, Kultur und die ganze Bäckerei
Als 2008 dein Roman „Die Abschaffung der Arten“ auf die Short List des Deutschen Buchpreises kam und im gleichen Jahr Uwe Tellkamp mit seinem „Turm“ den Pott abstaubte, war das ein Ausdruck der Klassenverhältnisse im Kulturbereich?
Klassenkampf einerseits und Kultur-Rangordnungen andererseits werden nicht durch Befehle oder Verschwörungen miteinander vermittelt, sondern durch Gewohnheiten, Seilschaften, auch durch Vorlieben und Abneigungen von Leuten, die nicht wissen (wollen), inwieweit diese Vorlieben und Abneigungen Ideologie sind.
Mein Buch hatte insofern allein schon deshalb keine Chance, weil es klar einem Genre zugeordnet ist, das in Deutschland im mittleren Kleinbürgertum, bei den Realschulkindern etc. mehr Kenntnis voraussetzen kann als beim akademischen Völkchen – Science Fiction. Also: Nicht das einzelne Buch oder die einzelnen Kunstschaffenden werden sortiert, sondern es gibt breite, allerdings klassenabhängige Geschmacksströmungen und Sortierkriterien. Steht alles bei Gramsci.
Die von Florian Kessler angestoßene Debatte („Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!“, Die Zeit, 23.01.2014) hat gerade in den Kreisen große Wellen geschlagen, die im Verhältnis von Basis und Überbau meist lediglich Stuttgart 21 verstehen und die Mehrwertrate wohl für ein Eigenheimfinanzierungskonzept halten. Historisch steht dem Ganzen der Versuch „Bitterfelder Weg“ gegenüber. Wie könnte sich die radikale Linke dazu positionieren bzw. welche Chancen für progressive Kulturhegemonien birgt unser gegenwärtiges Gefüge überhaupt noch?
Auf dem Kulturfeld allein das Ruder herumreißen zu wollen, wäre übler Idealismus. Aber einerseits gibt es ein Absinken früher durchaus bürgerlicher Tätigkeiten („geistige Arbeit“) in proletarische Arbeitsverhältnisse, andererseits expandiert die Kulturindustrie, inzwischen zur Kommunikationsindustrie aufgebläht, nach allen Seiten und produziert damit populäre Beschäftigungsmöglichkeiten für „organische Intellektuelle“, also etwa die Tochter des LKW-Fahrers als You-Tube-Star – wenn es Ex-Bürgerliche oder absteigende Bürgerliche gibt, die ihre gemeinsamen Interessen mit den Ausgebeuteten, Abhängigen, Abgehängten erkennen und mit diesen gemeinsam artikulieren, ist schon viel gewonnen.
Auf Maxim Billers „Letzte Ausfahrt Uckermark“ (Die Zeit, 20.02.2014) hast du ja geantwortet („Wenn Weißbrote wie wir erzählen“, FAZ, 21.02.2014). Kann die bürgerliche Demokratie, die zwar Repräsentanzen, aber keine Delegierten kennt, überhaupt mittels solcher Debatten noch Grundlegendes, Allgemeingesellschaftliches in Gang bringen?
Man muss, ganz nach Gramsci, die machtpolitisch-staatliche („Demokratie“) und die zivile („Debatte“) Ebene unterscheiden. Auf der machtpolitischen ist der Sozialismus derzeit abgeschrieben, in der Debatte dagegen geht im Moment alles, weil Geschwätz wegen der obenerwähnten Ausdehnung der Kulturindustrie zur Kommunikationsindustrie momentan boomt. Was man nun tun müsste, ist: Jede Chance, auf der Debattenebene Anschlüsse für die machtpolitische Ebene zu schaffen, eiskalt nutzen – also: niemals über ein kulturpolitisches Thema mitdebattieren, ohne zugleich von der sozialistischen Programmatik zu reden und sozialistische Strategie zu treiben, und sei es codiert oder in Andeutungen, oder wie Lenin sagt, in „äsopischer Redeweise“. Wie man das machen soll, steht bei Gramsci nicht so genau, bei Lenin dagegen sehr ausführlich (z.B. in „Parteiorganisation und Parteiliteratur“). Auch empfehle ich sehr das alte edition-suhrkamp-Bändchen „Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller“, herausgegeben von H.-J. Schmitt und G. Schramm, darin auch gerade Beiträge von Nichtparteileuten wie Klaus und Heinrich Mann, denn das damalige Niveau ist seither nicht wieder erreicht worden; auch wenn man sich einiges erst übersetzen muss.
Die kapitalistische Krise und die geschwisterlich einhergehenden Umbrüche im Printmedienbetrieb haben dem Journalismus Existenzängste, Sparmaßnahmen und prekäre Lohnsituationen beschert. Der Trend geht hin zu unbezahlter Arbeit oder zu der der Arbeitsteiligkeit zuwiderlaufenden Erscheinung des Zusammenfassens von Berufen (wie z.B. Schreiber*innen, die layouten und/oder fotografieren sollen). Die bürgerliche Intelligenz fuchtelt mit zeigefingerschweren Händen in alle Richtungen und badet im Selbstmitleid. Wo könnte dort aber eine progressive und marxistische Kapitalismuskritik greifen?
Man sollte denen, die absteigen, marxistisches Wissen nicht als eine Art Trost anbieten, so nach der Art: „aufsteigen kannst du nicht mehr, aber dich am System rächen schon.“ Sie müssen stattdessen eher umlernen, von Selbstdarstellung, Konkurrenz und Profilierung auf Solidarität, Aufstand und Umsturz. Das wird ein langer und steiniger Weg.
Fortschritt im Kapitalismus ist stets widersprüchlich und zweischneidig. Was zerschießt der soziale Abbau im journalistischen Bereich qualitativ, wenn der Nebenjob an der Tanke ansteht und für einen Hungerlohn, im gesellschaftlichen Durchschnitt – objektiv gesehen – sowieso kein fundierter Artikel bei rumkommt? Dem aber entgegen: Was bietet uns die technische Innovation für Möglichkeiten, etwa in Zukunft die Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) mittels E-Reader mit auf Soli-Brigade nehmen zu können?
Technischer Fortschritt ist nie neutral. Wenn man sich die Werkzeuge vom Kapitalismus entwickeln lässt, werden sie für Kapitalismus besser geeignet sein als für Sozialismus. Man muss daher vor allem Gegenmacht aufbauen, d.h. etwa: So, wie es früher Stadtteil- und Betriebszellen gab, muss es jetzt Netzzellen geben, die sich um elektronische Propaganda, um das Zugänglichmachen und –halten der Klassiker und anderes kümmern. Dass bestimmte Arbeiten vom Kapital nicht mehr bezahlt werden, zwingt dessen Feindinnen und Feinde einfach, in Zukunft besser gefüllte Kriegskassen anzulegen, damit sie diese Arbeiten selber bezahlen können.
Noch etwas Literaturtheoretisches, wenn du schonmal da bist: Wenn man sich die ganze Reihe an Science-Fiction-Dystopien ansieht, wie z.B. Cormac McCarthys Klerikalsinfonie „The Road“, kommt mir zumindest immer der LP-Titel des ersten Bad-Religion-Albums „How Could Hell Be Any Worse?“ in den Sinn. Bedient diese Schiene einfach nur eine Unterhaltungsnische aus Todessehnsucht und Zerstörungstrieb, oder entspringt sie Interessengruppen, die stets vorgaukeln, es gäbe immer noch ein Ende der Welt, über das wir stürzen können?
Die Dystopie ist, wie die Tragödie, eine Gattung der Verzweiflung. Der Rest ist Dialektik, das soll man nicht gleichmachen: Verzweifelte Kapitalistinnen und Kapitalisten sind gut, verzweifelte Kommunistinnen und Kommunisten sind schlecht.
Merci, Dietmar!
Interview: Pat Batemensch