Da wir sowieso grade in Istanbul sind, waren wir letzten Sonntag in Kücük Armutlu, wo die „halk bahceleri“ , die Volksgärten, eröffnet wurden. Kücük Armutlu gilt als ein Pilotprojekt der selbstorganisierten Umbau des Kiezes, als ein Gegenentwurf zur von den neoliberalen Eliten betriebenen „urbanen Transformation“.
Die Volksgärten sind eine Initiative der Halkin Mühendisleri (Ingenieure und Architekten des Volkes), einer Untergruppe der Halk Chepesi (Volksfront), einer militanten linken Gruppierung in der Türkei. Über Kücük Armutlu alleine könnten ganze Bücher geschrieben werden in denen die wunderschöne Aussicht auf den Bosporus und die Freundlichkeit der überwiegend alevitischen, Bevölkerung. Der Bezirk ist seit der Zeit der „Devrimci Sol“ (Revolutionäre Linke) der 1980er Jahre fest in linker Hand und ist seit dem eine Keimzelle revolutionärer Politik. Die Häuser dort sind überwiegend sogenannte „Gecekondus“, was wörtlich übersetzt „über Nacht gebaut“ bedeutet. Diese können vom Mehrfamilienhaus bis zur kleinen Blechhütte alles sein und wurden von den Bewohnern meist selbst, eben über Nacht, und ohne jede Genehmigung gebaut.
Unter anderem wegen der unbeschreiblich schönen Aussicht sind die Anwohner jedoch nicht die einzigen, die das Bauland dort für sich beanspruchen. Die AKP Regierung zielt auf die profitable Umstrukturierung des Kiezes und lässt nichts unversucht, das Gebiet ihren Kapitalinteressen zu unterwerfen, wobei sie es unter anderem kurzerhand zum Erdbebengebiet erklärt, um die Menschen von dort zu vertreiben.
Ein neuer Keim des Widerstands sollen die neu eröffneten Volksgärten sein. An ihrer Stelle war noch bis vor wenigen Wochen eine überwucherte Ruine aus Stahl und Beton, welche in Handarbeit abgetragen und abtransportiert wurde. Jetzt sollen dort Tomaten, Kartoffeln und anderen Nahrungsmitteln wachsen, sogar einige Olivenbäume sollen gepflanzt werden.
Die Samen für neue Pflanzen konnten vor Ort gegen Spende erworben werden. Mit den Gärten soll ein weiteres Stück Unabhängigkeit vom Markt erreicht werden. Es werden wohl noch weitere folgen, da Grundnahrungsmittel sehr teuer sind. Gefeiert wurde die Eröffnung mit einem kleinen Kiezfest samt Grup Yorum Konzert und Theatereinalge der Architekten für die anwesenden Kinder. Ganz am Rande wurde eine weitere Innovation aus dem Hause der Halkin Mühendisleri vorgestellt. Selbstgebaute Windkraftgeneratoren aus alten Autoteilen. Einer der Ingenieure stellte mir den ersten Prototyp vor und erklärte, dieser liefere mit 3 kWh einen drittel des Bedarfs eines Haushalts und sei mit Produktionskosten von umgerechnet etwa 300 Euro weitaus billiger als die herkömmliche Energieversorgung aus dem Stromnetz.
– Von Willi Berg