Dönermesser und Wahlbetrug – Erdogan erklärt seine Partei zum Sieger der Kommunalwahlen in der Türkei.
Schon wenige Stunden nach Beginn der gestrigen Kommunalwahlen in der Türkei war klar, dass die Sache nicht ohne Probleme ablaufen würde. Der Urnengang war für die regierende AKP des Premierministers Tayyip Erdogan von überragender Bedeutung. Zum einen geht es um die Bürgermeister der Metropolen Ankara und Istanbul, äußerst einflussreiche und wichtige Posten, zum anderen wird die Kommunalwahl als Gradmesser für die bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen gesehen.
Dementsprechend kam es zu einer Reihe von Vorfällen, die daran zweifeln lassen, dass es sich um eine auch nur halbwegs ordentlich durchgeführte Wahl gehandelt hat. In den Dörfern Yuvacık und Gölbaşı gab es acht Tote bei Auseinandersetzungen verfeindeter Clans, die rivalisierende Kandidaten unterstützten. Immer wieder, etwa in der AKP-Hochburg Bursa, wurden Wahlbeobachter und Mitglieder der Oppositionsparteien CHP (stärkster Konkurrent der regierenden AKP Erdogans, nationalistisch-sozialdemokratisch) und BDP (linke kurdische Partei) von Anhängern der Regierungspartei angegriffen, es kam zu Messerstechereien und Verletzten. In Ankara griffen AKP-Anhänger eine Gruppe von Mitgliedern der extrem nationalistischen MHP mit Eisenstangen und Dönermessern an, es gab dutzende teils schwer Verwundete. In Van wurde Tränengas gegen Kurden eingesetzt, im Internet kursieren Fotos von Stimmzetteln aus den kurdischen Gebieten, die vernichtet wurden und Bilder von verwüsteten Wahllokalen. Soldaten sollen einige Wahlbüros besetzt haben, Beobachter wurden vertrieben und eingeschüchtert.
Bereits vor Beginn der Auszählung war der gesamte Taksim-Platz von Bullen abgeriegelt, damit ja niemand demonstriert. In Batman bedrängten AKP-Anhänger Frauen in Wahllokalen und erklärten ihnen, die Wahl sei nur für Männer. Berichte von gefälschten Stimmzetteln, vernichteten Stimmen, Wahlmanipulationen bei der elektronischen Übertragung der Ergebnisse (in dutzenden Städten durch herbeigeführte Stromausfälle) gab es den ganzen Tag, unterschiedlichen Quellen zufolge sind zwischen tausend und zwei tausende Fälle von Betrug bis dato dokumentiert.
Als die Wahl vorbei war und die Auszählung angefangen hatte, begannen diverse große Nachrichtensender unter Zuhilfenahme der Zahlen der AKP-nahen Nachrichtenagentur Anadolu völlig absurde vorläufige Ergebnisse auszustrahlen. CNN Türk berichtete teilweise von Ergebnissen, die bis zu 20 Prozent von anderen Nachrichtenagenturen abwichen. Gegen 22 Uhr erklärten dann zunächst die Kandidaten der oppositionellen CHP für Ankara und Istanbul, sie hätten gewonnen, wenig später taten es ihnen die AKPler gleich.
Angriff auf Gegner angekündigt
In der Nacht trat dann der Regierungschef vor Tausenden AKP-Anhängern auf und verkündete den Sieg. Etwa 44 Prozent soll die AKP insgesamt errungen haben, Istanbul und Ankara bleiben in der Hand der AKP-Kandidaten. Jetzt werde es Leute geben, die „aus der Türkei fliehen“, man werde sie zur Rechenschaft ziehen, weil sie „Chaos verbreitet haben“. „Sie werden bezahlen“, so Erdogan in Richtung seiner Gegner.
In 48 Städten oder Provinzen konnte sich die Regierungspartei durchsetzen, die CHP in 11, die kurdische BDP in 11, die rechte nationalistische MHP in 7. (Das ist die Zahl der kurdischen Nachrichtenagentur Firat News, andere Zahlen weichen leicht ab) Ob dieses Ergebnis irgendwie der Realität entspricht oder nicht, ist egal. Denn Erdogan verfügt über die Macht, es zu einem gültigen Ergebnis zu machen.
Erfreulich ist zwar das relativ gute Abschneiden der kurdischen BDP – vor allem in jenen Landesteilen, in denen Kurden die Bevölkerungsmehrheit stellen -, insgesamt überwiegt aber der Umstand, dass die AKP ihre Macht festigen konnte und diese nun auch noch offensivere gegen Opponenten einsetzen wird.
Klar ist, dass damit eine neue Verfolgungswelle gegen politische Gegner eingeleitet wird. Klar ist auch, dass Erdogan nicht durch Wahlen zu beseitigen sein wird. Denn zum einen bleibt ihm ein Kern ungebildeter Anhänger, die seine permanente Mär von der „ausländischen Verschwörung“ gegen die Türkei schlucken und die Wahl von AKP-Kandidaten als Verteidigung der Türkei gegen Juden, Freimaurer, Aliens oder sonstige Invasoren begreifen. Zum anderen aber ist er bereit da, wo entscheidende Positionen vom politischen Gegner besetzt werden könnten, massiv nachzuhelfen.
Unabhängig von Betrug und Wahl bleibt die Frage: Wer zur Hölle wählt diese Partei noch? Ein Zehntel der eindeutig bewiesenen Verbrechen hätte in jeder Bananenrepublik dazu gereicht, die Regierungspartei zur Auflösung zu zwingen. Das Spektrum reicht von Betrug, Korruption, Diebstahl, Mord bis zur Vorbereitung eines Angriffskriegs. Eine Auswahl gefällig?
Mit Gottes Hilfe Geld verschwinden lassen
Da war Gezi. Ein Aufbruch wie seit dem Militärputsch 1980 nicht mehr. Millionen Türkinnen und Türken gingen gegen die „urbanen Transformation“ – das Gentrifizierungsgroßprojekt der AKP-Regierung -, gegen die erzwungene Islamisierung der Lebensweise durch den obersten Sittenwächter Erdogan, gegen die Diskriminierung ethnischer und religiöser Gruppen wie der Aleviten und Kurden, gegen den neoliberalen Kurs der Regierung, gegen Polizeigewalt und Repression und noch vieles mehr auf die Straße. Erdogan regierte mit brutaler Polizeigewalt, 8 Menschen starben, darunter ein 14-jähriger Junge, Berkin Elvan, der von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen wurde. Zehntausende wurden verletzt und verhaftet, von der Regierung beschimpft und verleumdet.
Dann kam der Streit mit Fethullah Gülen. Der nationalistisch-islamistische Prediger, der seit Jahren im US-amerikanischen Exil lebt, verfügt über einen straff organisierten Anhang, seine Gemeinde (Cemaat), die im Verbund mit Erdogan in die entscheidenden Stellen in Justiz und Polizei drängte. Zusammen mit Gülen entledigte sich Erdogan der früheren kemalistischen Eliten und stellte das Militär ruhig. Doch das Bündnis zerbrach im Kampf um Einfluss und Pfründe. Erdogan wollte die Gülen-Schulen, die wesentlichste Infrastruktur des Cemaat, schließen, der Konflikt eskalierte. Gülens Leute in der Justiz leiteten Korruptionsermittlungen gegen große Player aus dem inneren Kreis der AKP ein, Söhne von Ministern, Geschäftsmänner, ein großer Teil des Kabinetts musste abdanken. Der Sultan von Ankara schlug zurück entließ Staatsanwälte und hunderte Bullen. Seitdem erscheinen regelmäßig Tonaufnahmen von Erdogan selbst, seiner Familie oder anderen Regierungsangehörigen im Internet, die von den Machenschaften zeugen, die Erdogan lieber im Dunkeln wüsste. Der Premier versuchte Twitter zu sperren, dann Youtube, versuchte zu klagen, zu leugnen, zu diffamieren – doch es half alles nichts.
Ein Best of der Dutzenden Leaks würde Artikel füllen. Das bislang wohl bekannteste Band dürfte jenes sein, in dem Erdogan seinen Sohn Bilal anweist ob der drohenden Ermittlungen Unmengen an Bargeld aus verschiedenen Depots wegzuschaffen. „Es wäre sinnvoll alles Geld verschwinden zu lassen“ – „Ja, wir werden es mit Gottes Hilfe verschwinden lassen.“
Ein Krieg wäre jetzt ganz gut
Andere Tapes enthüllen wie der Premier bei Chefs von Medienkonzernen anruft, Zensur einfordert und die Kündigung unliebsamer Mitarbeiter gleich dazu. Wem das noch nicht reicht, der sollte einen Blick auf die Außenpolitik der Türkei werfen. Schon vor Monaten hatte die kommunistische Hackergruppe Red Hack Dokumente veröffentlicht, die nahelegen, dass das für Dutzende (anderen Angaben zufolge sogar hunderte oder tausende) Menschen tödliche Bombenattentat von Reyhanly im Mai 2013, das die Regierung linksradikalen Gruppen mit Verbindungen zum syrischen Präsidenten Baschar Al Assad in die Schuhe schieben wollte, von islamistischen Gruppen mit Beziehungen zu türkischen Behörden durchgeführt wurde.
Ergänzt wurde diese Enthüllung dann durch Tonaufnahmen eines Gesprächs des türkischen Außenministers Ahmet Davutoglu mit Geheimdienstvertretern, in dem diese einen Krieg mit Syrien planen und die Organisierung eines False-Flag-Attentats erwägen: Davutoglu: „Der Premier sagt, dass in der gegenwärtigen Situation ein Angriff eine Gelegenheit für uns wäre.“ Geheimdienstchef Hakan Fidan: „Ich schicke vier Männer aus Syrien, wenn es sein muss. Ich ordne einen Raketenangriff auf die Türkei an und schaffe so einen Kriegsgrund. Wir können auch einen Angriff auf das Suleiman-Shah-Grab vorbereiten, wenn es nötig ist.“
Erdogan hatte seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien eine extrem aggressive Rolle gespielt. Immer wieder wurden und werden islamistische und Al-Qaida nahe Milizen aus der Türkei unterstützt und in den Krieg nicht nur gegen Assad, sondern auch gegen die kurdische Autonomiebewegung in Rojava, dem kurdischen Teil Syriens geschickt.
Kurden über den Tisch gezogen
Womit wir gleich bei der nächsten Glanzleistung der Mickey Mouse aus Ankara wären: Die Kurdenpolitik. Nach einem eindringlichen Appell des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, der auf Imrali in Isolationshaft sitzt, hatten die kurdische Arbeiterpartei (PKK), die seit Jahrzehnten einen bewaffneten Kampf für die Rechte der kurdischen Beevölkerung in der Türkei führt, auf Friedensgespräche gedrängt und extrem weit gehende Zugeständnisse gemacht. Ein Ende des Konflikts schien so nah wie nie zuvor, die Guerilla verkündete einen Waffenstillstand und zog sich aus einigen ihrer hart erkämpften Positionen zurück.
Klarerweise hatte sie auch Forderungen, allerdings entschloss sich die AKP-Regierung keine einzige davon – entgegen aller Zusicherungen bei den Friedensgesprächen – zu erfüllen. Im Gegenteil: Weiterhin wurden tausende kurdische Aktivisten aus allen möglichen zivilen Bereichen verhaftet und in den sogenannten KCK-Prozessen – lächerliche Inszenierungen, bei denen eigentlich auch Mickey Mouse selber Recht sprechen könnte – abgeurteilt.
Tausende Gefangene
Das ist ohnehin eine der Lieblingsbeschäftigung der türkischen Behörden: Leute wegsperren. Ungefähr 10 000 politische Gefangene zählt das Land, die meisten aus der kurdischen Bewegung und von militanten linken Gruppierungen wie der DHKP-C oder MLKP.
Allerdings muss es nicht immer Mitglieder treffen. Das türkische Antiterrorrecht ist so ausgelegt, dass man im Grunde jeden lange Jahre einsperren kann, der die Ziele einer jener Oppositionsgruppen teilt – und das sind im Falle der kurdischen Bewegung Millionen Menschen und bei der türkischen Linken immer noch viele Zehntausende.
Der türkische Staat ist in einem Ausmaß repressiv, das etwa der Ukraine des Klepto-Autokraten Janukowitsch um nichts nachsteht. Nur während man dort Faschisten unterstützt, um den Präsidenten wegzuputschen, schickt man in die Türkei noch deutsche Waffen und Polizeiausbildner, um den NATO-Partner bestmöglich im Kampf gegen seine eigene Bevölkerung zu unterstützen.
Schluss mit den parlamentaristischen Illusionen
Was kann die Lehre aus diesen Wahlen für die türkische Linke sein? Sie muss bedenken, dass selbst die Oppositionskandidaten nicht das Gelbe vom Ei waren. Die CHP ist eine nationalistische Partei der Bourgeoisie, weder steht sie für ein Ende der repressiven Politik gegen Kurden und Linke, noch für einen Austritt aus der NATO. Sicher wäre es taktisch von Belang gewesen, hätte sie Erdogan geschwächt. Aber eine bessere Türkei wäre dadurch nicht entstanden.
Das Wahlspektakel ist – unabhängig vom sicher massiven Betrug – nicht das Terrain, auf dem Erdogan herauszufordern ist. Gezi war das schon eher. Sicherlich wird ein großer Teil der Bewegung nun erkennen, dass nicht Stimmzettel, sondern Massenbewegungen, Molotov-Cocktails und – wo es sein muss – Gewehre die richtigen Mittel sind, um sich Gehör zu verschaffen. Die außerparlamentarische Linke von MLKP bis DHKP-C vertritt seit langem diese Linie, die Kurden sollten zu ihr zurückkehren, denn vom Friedensprozess haben sie nichts zu erwarten als ihre Schwächung. Murat Karayılan, der derzeitige Oberkommandierende der PKK, hat bereits vor der Kommunalwahl angekündigt: Wenn es nach dieser Wahl keine Zugeständnisse gibt, ist Schluss mit Waffenstillstand. Man kann nur hoffen, dass diese richtige Einsicht auch bleibt.
– von Peter Schaber