Der türkische Premier Erdogan reist am Dienstag nach Berlin, die Exilcommunity und Linke protestieren. Eine Danksagung an den dümmsten Premier aller Zeiten.
Die Rote Armee Fraktion hatte in den 1970er und 1980er Jahren einen ausgefeilten Plan: Sie wollte den Staatsapparat so angreifen, dass der seine scheinbar demokratische Maske ablegt und darunter die blanke blutige Fratze des Faschismus zum Vorschein kommt. Hätte damals in Berlin Tayyip Erdogan die Regierung angeführt, wäre dieses Unternehmen unnötig gewesen.
Regierungen westlicher kapitalistischer Nationen haben das Spiel mit der Macht perfektioniert: Tritt Protest auf, findet man Formen, ihn zu integrieren, ihn zu spalten, die kompromissbereiten Teile von den Hardlinern zu isolieren – und erst dann, wenn nur noch der harte Kern der Demonstranten, die Unverbesserlichen übrig sind, erklärt man diese zu Extremisten, marginalen gewaltaffinen Chaoten und lässt den Repressionsapparat zugreifen. Das ist smart und funktioniert super.
Erdogan ist da anders. Als ich im Juni 2013 auf den Barrikaden im Gezi-Park schlief, sagten mir jeden Abend Genossen und Genossinnen: Früh ins Bett, schon im Morgengrauen könnten die Riot-Cops anrücken. Ich, gewohnt an den Zuckerbrot-und-Peitsche-Style deutscher Behörden, habe immer geantwortet: Nie und nimmer, so dumm kann er nicht sein, dass er frontal angreift, während die Bewegung noch geschlossen ist und Hunderttausende dahinterstehen. Ich hatte unrecht, Erdogan war so dumm.
Tayyip Erdogans Regierungsstil besteht in offenem ungeschminkten Autoritarismus. Seine Methode ist einfach: Wenn jemand aufmuckt, sperren wir ihn weg, schlagen ihn zusammen oder lassen ihn verschwinden. Er und seine Regierung sind nicht in der Lage, die stumpfe Brutalität, die kapitalistischen Staaten nun mal immer innewohnt, zu verschleiern. Obama schafft es als König der Drohnenmorde und Schrimherr der Folterfestspiele in Guantanamo einen Friedensnobelpreis zu bekommen, Merkel gilt, obwohl Deutschland die EU-Peripheriestaaten ausraubt, als gönnerhafte Finanziererin Europas und Francois Hollande zählt als „Linker“, obwohl er den französischen Neokolonialismus in Afrika neu erfunden hat. Erdogan ist ehrlicher, bodenständiger. Er kann nur draufhauen und macht auch keinen Hehl daraus. Das hat dazu geführt, dass eine Hälfte der Bevölkerung unglaublich rasch politisiert wurde. Dafür ist Tayyip unser Premier der Herzen.
Neoliberale Transformation
Abgesehen davon, dass er durch seinen Regierungsstil die Protestbewegung geeint hat, ist seine Bilanz allerdings katastrophal – zumindest für die Bevölkerung, fürs Kapital sieht sie rosig aus. Erdogan hat in seiner zwölf Jahre andauernden Regierungszeit die Türkei auf neoliberal getrimmt. Ein großer Teil der Bevölkerung arbeitet für ein Taschengeld, viele illegal und unter dem ohnehin schon geringen Mindestlohn, von dem in den prosperierenden Städten sowieso keiner angenehm leben kann. Bei „Arbeitsunfällen“ liegt die Türkei im internationalen Vergleich weit oben, die Arbeitsbedingungen beispielsweise im Textil- oder Bausektor kann man nur mit einem Wort beschreiben: Beschissen.
Das Kernstück des neoliberalen Projekts der AKP-Regierung ist die „urbane Transformation“ – ein schwurbeliger Titel für massenhafte, flächendeckende Gentrifizierung. Menschen werden aus ihren selbstgebauten Hütten, Gecekondus, vertrieben, man fährt einfach mit dem Bagger drüber und siedelt sie in seelenlosen Hochhausneubauten Stunden weit vom Stadtzentrum an. Die Kultur ganzer Viertel, etwa des Roma-Stadtteils Sulukule in Istanbul, wurde so zerstört. Es profitiert ein kleiner Kreis von Immobilienspekulanten und Baufirmen, meistens eng mit der Regierungspartei verwobene Businesscliquen.
Die „urbane Transformation“ ist aber nicht nur für die Menschen für´n Arsch, sondern auch für die Reste an Natur, die beispielsweise in Istanbul noch vorhanden sind. Wer je im Winter in der Millionenmetropole am Bosporus war, weiß, dass durch mangelnden öffentlichen Verkehr, jede Menge Fehlplanung und Überbebauung die Luft dort so stinkt, dass man sich über die ersten Tränengaskartuschen, die bei Demos einschlagen freut. Erdogans Regierung holzt munter weiter rein, wer braucht schon Bäume …
In der sogenannten „Kurdenfrage“ geht Erdogan – aller Propaganda vom „Friedensprozess“ zum Trotz – ähnlich brachial vor. Die Guerilla der PKK hat alle Zusagen, die sie gemacht hat, eingehalten. Erdogan keine einzige. Im Gegenteil. Er verhaftet munter weiter jeden, der auch nur in die Nähe der kurdischen Bewegung kommt, baut Polizei- und Militärstationen da, wo die Guerilla gerade abzog und redet immer noch von der „einen Nation“ mit „einer Fahne“ und „einem Volk“, die er sich so gerne wünscht. Den Aleviten geht’s ähnlich. Die dritte Bosporus-Brücke sollte kurzerhand nach Sultan Selim, einem Alevitenschlächter benannt werden.
Größtes Freiluftgefängnis der Welt
Die Türkei ist zudem das größte Freiluftgefängnis der Welt. Bis zu 10 000 politische Gefangene sind in den Knästen, die meisten davon Kurden, die mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK gekämpft haben, viele auch aus revolutionären linken Gruppen wie der DHKP-C oder der MLKP. Türkische Knäste sind kein Ponyhof. Folter und Prügel gehören zum Alltag, manchmal wird auch jemand totgeschlagen, wie z.B. vor einigen Jahren Engin Ceber.
Hunderte, ja Tausende Journalisten, Studenten, Architekten, Anwälte, Professoren, Frauenaktivistinnen, LGTB-Menschen, linke Aktivisten – eigentlich fast jeder dort, der nicht gerade ein Tayyip-Bildchen im Wohnzimmer hängen hat, hatte schonmal mit dem Repressionsapparat zu tun. Man kann wegen Kleinigkeiten eine Terroranklage bekommen: Rufst du die falsche Parole – Terrorist. Verkaufst du die falsche Zeitung – Terrorist. Schreibst du was Unangenehmes – Terrorist. Verteidigst du die falschen Personen vor Gericht – Terrorist.
Aber auch draußen soll man, geht es nach Basbakan Knüppel, strengen Regeln gehorchen. Erdogan würde am liebsten alles kontrollieren. Wie viele Kinder du bekommst, ob und wie du betest, ob du Alkohol trinkst, mit wem du fickst, was du dir im Internet ansiehst.
Ich war auf sehr vielen Demonstrationen in der Türkei, ich kann mich kaum an welche erinnern, bei denen die Bullen nicht angegriffen oder zumindest die Demo gestoppt hätten. Lungern in der Istiklal fünf Leute mit einem Transparent herum, kann es gut passieren, dass daneben zwei Polizeibusse und ein Wasserwerfer stehen.
Gezi will never be over
Aber: Seit dem Militärputsch im September 1980, nach dem die Linke blutig verfolgt wurde und Zehntausende vertrieben, ermordet oder eingekerkert wurden, hat die Türkei keinen vergleichbaren politischen Aufbruch wie in den vergangenen Monaten erlebt. Und Erdogan hat seinen Anteil daran. Denn wäre er nicht so offenkundig Scheisse, wäre es den Protestierenden, die aus sehr unterschiedlichen Lagern kommen, wesentlich schwerer gefallen, ihre Gemeinsamkeiten zu entdecken. Er hat, weil er wohl zu den stursten und dümmsten Regierungschefs aller Zeiten gehört, der Linken eine neue Chance eröffnet. Erdogan, das ist ungeschminkter, ehrlicher, unverschleierter neoliberaler Autoritarismus. Danke dafür.
– Von Peter Schaber-Nack
PS: Und weil ihr ja so auf Bilder steht, hier noch eins von Lower-Class-Redakteuren in einem ausgebrannten BVG-Bus auf dem Taksim. Yo!