Wir hatten eben das Glück, einen längeren Text abzubekommen, der eigentlich für ein anderes Magazin (das hier: http://p.blogsport.de/ ) gedacht war. Die AutorInnen hatten den Text lange rumliegen und wollten ihn nicht vergammeln lassen, wir haben ihn jetzt gelesen und meinen, ein paar Dinge da drin sind schon diskussionswürdig. Es geht um Arbeiter*innenklasse und was das eigentlich ist, und ob es das überhaupt noch gibt. Ein pdf findet ihr hier: PDF-Version.
In ganzer Länge auf dem Blog ist das Ding hier:
My Class, my Pride –
Zur Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland
Die Krise hat weltweit einiges an Leid verursacht: Massenarbeitslosigkeit, Hungerkrisen, Lohnkürzungen, den Aufstieg faschistischer Bewegungen in einigen Peripheristaaten. Aber: Sie hat auch einen neuen Kampfzyklus eingeleutet, von der Peripherie Europas über die Metropolen der Türkei bis in die Slums von Brasilien. Man könnte meinen, die Arbeiter*innenklasse – klar: die transformierte und nicht die der 30er Jahre – beginnt, zwar noch vorsichtig und scheu, aber doch, wieder zu kämpfen. Grund genug für uns, uns auch hierzulande anzusehen, ob es soetwas wie Arbeiter*innenklasse überhaupt noch gibt, und wenn ja, was das denn eigentlich ist …
Klassengesellschaft? „Das gibt´s doch!“
„Klasse“ im „altmarxistischen Sinn“ sei eine „Zombie-Kategorie“, schwurbelte der Soziologe Ulrich Beck vor einigen Jahren im Gespräch mit der Zeit. Wie große Teile der Soziolog*innenzunft in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit – der ehemalige Naziideologe Helmut Schelsky mit seiner Theorie der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“, Theodor Geiger oder Ralf Dahrendorf – kann Beck mit einem marxistischen Klassenbegriff wenig anfangen. Lange Zeit galt man in der Bundesrepublik, wenn man von Proletariat und Bourgeoisie redete, nicht nur im Elfenbeinturm akademischer Debatten, sondern auch in Politik und Feuilleton als verrückt oder zumindest schrullig. Der Marxismus habe sich als falsch erwiesen, Krisen, Klassenkampf, Ausbeutung, all das sei im Wirtschaftswunderland BRD nicht mehr vorgekommen, so der Tenor. Selbst in der radikalen Linken war Klassentheorie passé, man machte sich kaum Gedanken über Lohnabhängige, unter „Proll“ verstand man höchstens jemanden mit Goldkettchen und Adidas-Hose, von dem man soviel Abstand wie nur irgendwie möglich zu wahren habe.
Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise seit 2007 hat auch hier vieles in Bewegung gebracht. Man spricht wieder vom „Kapitalismus“, und wenn man hier konsequent ist, wird man auch von Klassen und Klassenkampf reden müssen. Nate57, Gangsterrapper aus Hamburg, hat gegenüber Ulrich Beck und den Seinen recht behalten: „Es gibt Leute, die sagen, es gibt keine Klassengesellschaft mehr. Ich sage: Das gibt´s noch.“
Wenn wir nun aber immer noch in einer Klassengesellschaft leben, dann hat das weitreichende Konsequenzen für radikale linke Politik. Es bedeutet unter anderem, dass eine Befreiung vom Joch des Kapitalismus nur möglich sein wird, wenn es gelingt, breite Teile derjenigen Klasse zu gewinnen, die die gesellschaftliche Produktion trägt und die allein „nichts zu verlieren hat als ihre Ketten“ (Marx). Davon allerdings sind wir weit entfernt. Ein erster Schritt kann allerdings sein, das Interesse für Klassenanalyse innerhalb der radikalen Linken wiederzubeleben. Das bedeutet von neuem Fragen danach zu stellen, wie diese Gesellschaft aufgebaut ist, wie Ausbeutung in ihr funktioniert, welche Schichten der Lohnabhängigen und der Kapitalist*innen es gibt, welches deren Interessen sind und wo radikale linke Politik intervenieren kann. „Natürlich kann Klassenanalyse nicht den Mangel an Klassenpolitik von unten ersetzen. Aber sie kann deren Bedingungen und Aufgaben deutlicher machen“, schrieb der marxistische Rechtswissenschaftler Ekkehard Lieberam 2006 in der jungen Welt. Uns diese Bedingungen und Aufgaben etwas klarer zu machen, dazu soll dieser Text einen Beitrag leisten. Es ist grob in zwei Teile gegliedert: Einen, der sich der grundsätzlichen Frage annähert, was der Begriff „Klasse“ im Marxismus eigentlich bedeutet; und einen empirischen, der untersuchen soll, wie es denn mit der Arbeiter*innenklasse und der Bourgeoisie in der BRD heute steht. Alles ein bisschen trocken, aber was muss, das muss.
1. „Klasse“ – Was ist das?
1.1. „Was ich auf der Straße fand“
Wer den Kapitalismus überwinden will, tut gut daran, auch zu verstehen, wie er entstanden ist, welchen Platz er in der Entwicklung menschlicher Gesellschaft im Ganzen einnimmt, und was die ihn bewegenden Triebkräfte sind. Kurz: Will man Revolution machen, kann es nicht schaden, darüber nachzudenken, was eigentlich menschliche Geschichte ist und wie sie sich vollzieht. Denn offensichtlich ändert sich in ihrem Verlauf nicht nur oberflächlich etwas, sondern die Art und Weise, wie Menschen ihre Gesellschaftlichkeit, ihr Zusammenleben und die (Re-)Produtkion ihres Lebens organisieren, ist selbst fundamentalem Wandel unterworfen: Ur- und Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus und Kapitalismus – sie alle unterscheiden sich nicht nur durch Kleinigkeiten, sondern qualitativ.
Das haben natürlich nicht nur wir bemerkt, sondern das Nachdenken über Geschichte und ihren Verlauf hat eine lange Tradition, die verschiedenste Deutungsmöglichkeiten hervorgebracht hat: Verstanden einige sie als permanenten Verfallsprozess, in dem von einem „goldenen Zeitalter“ beginnend alles immer schlechter wird, wollten andere in ihr die Verwirklung eines von Gott ersonnenen Heilsplans sehen; wiederum andere begriffen sie als eine zyklisch vor sich gehende Wiederkehr des immer Gleichen. Auch was das Verständnis der Triebkräfte von Geschichte angeht, existierten und existieren die unterschiedlichsten Ansätze: Manche schreiben der Entwicklung der Kultur und des menschlichen Denkens zu, das bewegende Moment des Fort- oder Rückschritts zu sein, andere meinen, es seien die Taten „großer Männer“ – Feldherren, Könige, Diktatoren –, die ausschlaggebend sind für das historische Geschehen.
Karl Marx und Friedrich Engels – ausgehend von der Geschichtsphilosophie G.W.F. Hegels, aber nicht bei dieser stehenbleibend – schlugen eine andere Sicht der Dinge vor. Sie begriffen menschliche Geschichte als Fortschritt, gleichwohl aber nicht als linearen von vornherein feststehenden und auf ein festgesetztes Ziel gerichteten deterministischen Prozess, sondern als eine Höherentwicklung, die sich in Widersprüchen vollzieht, und bei der keineswegs von vornherein klar ist, was geschehen wird und was nicht.
Wie sieht, in groben Zügen, diese Auffassung von Geschichte aus, der die marxistische Tradition den Namen „historischer Materialismus“ gegeben hat? Marx und Engels haben sich im Verlauf der 1840er und 1850er Jahre über die damals gängige fortschrittliche Philosophie (Hegel, den sogenannten Junghegelianismus und dann auch Feuerbach) hinausentwickelt, und das philosophische Wissen ihrer Zeit gleichsam vom Himmel der reinen Ideen auf die Straßen der Wirklichkeit zurückgeholt. In einem frühen Gedicht notiert Marx: „Kant und Fichte gern zum Äther schweifen,/ Suchten dort ein fernes Land,/ Doch ich such´ nur zu begreifen,/ was ich – auf der Straße fand!“
Die von Hegel auf höchstem Niveau entwickelte, gleichwohl noch idealistische Dialektik wurde so materialistisch, eine politische Philosophie des Umsturzes. Zeigte Hegel für jede endliche kategoriale Form, dass sie an ihr selbst den Widerspruch und damit das Übergehen in ihr Anderes trägt, war dies für Marx und Engels nunmehr der Ausgangspunkt Geschichte und Gesellschaft nicht mehr als fertig Gegebenes, sondern als dynamische, in ständiger Bewegung befindliche Entitäten aufzufassen. Alles was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht, war nun auch im Bereich des Sozialen die Devise. Den Ursprung dieser Bewegung sahen sie, anders als die immer noch idealistischen Jungehegelianer, in den wirklichen, materiellen Vorgängen in der Gesellschaft, in der ökonomischen Basis, mittels derer die Menschen ihren „Stoffwechsel mit der Natur“ organisieren und so die Mittel für ihr eigenes Leben herstellen.
In einer berühmten Passage aus Marx´ Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie beschreibt er das „allgemeine Resultat“, das sich ihm bei seinem Weg über Hegel und seine Zeitgenossen hinaus ergab, so: „In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt.“
Der Mensch muss jederzeit – abhängig vom jeweiligen Entwicklungsstand der Gesellschaft – seinen Stoffwechsel mit der Natur unter gegebenen natürlichen und gesellschaftlichen Bedingungen organisieren. Die Verhältnisse, die er dabei einzugehen genötigt ist, nennt Marx „Produktionsverhältnisse“. Das bestimmende Moment der Produktionsverhältnisse stellen die „Eigentumsverhältnisse“ dar. Was „Produktivkräfte“ sind, erklärt Marx (im ersten Band des Kapitals) so: „Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände bestimmt, unter anderem durch den Durchschnittsgrad des Geschicks der Arbeiter, die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit, die gesellschaftliche Kombination des Produtkionsprozesses, den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsmittel, und durch Naturverhältnisse.“ (MEW 23, 54)
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung“, schreibt Marx weiter im Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“, „geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten.“ Die Verhältnisse, die die Menschen eingegangen waren, und die zunächst förderlich auf die Entwicklung der Produktivkräfte gewirkt hatten, sind nun zum Hindernis der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte geworden. „Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“
Der Widerspruch zwischen Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnis findet – wenn auch über komplizierte Vermittlungsprozesse – seinen Ausdruck im Überbau, „den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz, ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewußt werden und ihn ausfechten“.
Damit ist ein grundlegender Perspektivwechsel in der philosophischen Betrachtung von Geschichte vollzogen. Nicht mehr Gott, die „absolute Idee“ oder welthistorische Persönlichkeiten wie Kaiser, Feldherrn oder Führer sind diejenigen, die Geschichte „machen“. Geschichte vollzieht sich auf Basis des wirklichen Stoffwechsels des Menschen mit der Natur. Dabei entwickelt die jeweilige Produktionsweise die Produktivkräfte soweit, bis sie selbst zur Schranke für die weitere Entwicklung wird. Im Schoß der alten Gesellschaft bilden sich die Keimformen der neuen heraus, deren Durchsetzung durch die jeweils aufstrebenden Klassen erkämpft werden muss. In dem schon zitierten Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie nennt Marx „asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen“ dieser Entwicklung. Die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise gilt ihm dabei als die letzte in der Reihe der Klassengesellschaften, nach deren Überwindung die Menschheit ihre „Vorgeschichte“ beende und eintrete in die Phase ihrer wirklichen Geschichte.
Der ökonomischen Verfasstheit der Gesellschaften entsprechen jeweils bestimmte Klassenverhältnisse. In der Antike der Gegensatz von freien Sklavenhaltern und Sklaven, im Feudalismus der von Grundbesitzern, Adligen und leibeigenen oder abhängigen Bauern, im Kapitalismus der von Bourgeoisie und Proletariat.
1.2 Bourgeoisie und Proletariat
Marx hat selbst darauf hingewiesen, dass nicht er den Klassenbegriff in die wissenschaftliche Debatte seiner Zeit eingeführt hat. Er habe „weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft, noch ihren Kampf unter sich entdeckt“, schreibt er 1852 in einem Brief an Wilhelm Weydemeyer. Und er verweist auf bürgerliche Historiker, die die geschichtliche Entwicklung des Kampfes der Klassen, und auf bürgerliche Ökonomen – gemeint ist vor allem Davd Ricardo -, die deren „Anatomie“ bereits vor ihm dargestellt haben. Der Umstand, dass es in der modernen, kapitalistischen Gesellschaft Klassen gibt, muss zu Marxens Zeit schon so sehr common sense gewesen sein, dass er sich im selben Brief an Weydemeyer berechtigt sieht, Theoretiker, die das bestreiten, „ungebildete Lümmel“ zu nennen. Marx beansprucht aber auf diesem Gebiet dennoch etwas Neues geleistet zu haben: Erstens sei es sein Verdienst, gezeigt „zu haben, dass die Existenz der Klassen bloß an bestimmte Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist“. Es ist nicht „natürlich“ und ein für allemal feststehend, dass es Klassen in der Gesellschaft gibt. Klassen sind Produkte der Entwicklung der Produktionsweisen und werden an einem bestimmten Punkt überflüssig. Zweitens beansprucht Marx, entdeckt zu haben, dass der Klassenkampf zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie zur „Diktatur des Proletariats“ (was nur ein anderer Titel für den Sozialismus ist, also kein Grund zu erschrecken) führt, welche – drittens – wiederum selbst nur den „Übergang zur Aufhebung aller Klassen“ und zur Entstehung einer „klassenlosen Gesellschaft“ bildet.
Was sind aber nun aber eigentlich Klassen? Der russische Revolutionär W. I. Lenin fasste den Inhalt der Marxschen Klassenanalyse so zusammen: Durch sie würden die Handlungen der Menschen im Rahmen jeder „sozialökonomischen Formation (…) verallgemeinert und auf die Handlungen von Personengruppen zurückgeführt, die sich nach ihrer Rolle im System der Produktionsverhältnisse, nach den Produktionsbedingungen und folglich nach ihren jeweiligen Lebensbedingungen sowie nach den durch diese Verhältnisse bestimmten Interessen voneinander unterscheiden.“ Klassen sind also Gruppen von Menschen, die unterschiedliche Stellungen im System gesellschaftlicher Produtkion einnehmen und daher unterschiedliche (oder einander entgegengesetzte) Interessen verfolgen.
Welche Klassen gibt es nun im Kapitalismus? Bei Marx, Engels und Lenin finden sich dazu unterschiedliche Formulierungen. Zählt Marx etwa im dritten Band des Kapitals „drei große Klassen der modernen Gesellschaft“ – Lohnarbeiter, Kapitalisten, Grundeigentümer -, so spricht Lenin zwar ebenso manchmal von „drei Hauptgruppen, Klassen“, meint mit der dritten aber anstelle der Grundeigentümer das „Kleinbürgertum“. Zudem erörtert Lenin auch die Frage, inwieweit das Bauerntum als eigenständige Klasse anzusehen ist.
Bei allen Differenzen ist eines allerdings klar: Die beiden Hauptklassen, die entscheidend sind für Entwicklung wie Niedergang des Kapitalismus sind Proletariat und Bourgeoisie. So heißt es etwa im Kommunistischen Manifest: „Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“
Was hat es nun mit den zwei Hauptklassen auf sich, und wie sieht ihre ökonomische „Anatomie“ aus? Die Ausbeutung der einen Klasse, der Arbeiter, durch die andere, die Kapitalisten, funktioniert im Kapitalismus subtiler als etwa in der Sklavenhaltergesellschaft oder im Feudalismus. Es sind im Normalfall nicht Peitsche und Schwert, sondern die stillen, aber umso wirksameren Mechanismen des ökonomischen Zwangs, die hier regieren. Der Arbeiter ist, wie Marx im Kapital anmerkt, anders als der Sklave „frei in dem Doppelsinn, dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als Ware verfügt, dass er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.“ Der Arbeiter hat keine andere Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen, als seine Arbeitskraft an den zu verkaufen, der im Besitz von Produktionsmitteln ist. Denn etwas anderes als seine Arbeitskraft hat er nicht – eine „Freiheit“, die aufzuheben, kein Schaden sein kann.
Der Kapitalist dagegen ist – woher er sie hat, tut nichts zur Sache – im Besitz der Produktionsmittel, er ist Eigner der Fabriken, der Maschinen usw. Als Kapitalist ist er dabei der Sachwalter der Vermehrung von Kapital, er represäntiert nichts als den Drang des Kapitals zur Selbstverwertung. Es ist unerheblich, ob er ein „guter“ oder „schlechter“ Mensch ist; solange er Kapitalist ist, hat er eben zu tun, was ein Kapitalist zu tun hat: Dafür sorgen, dass aus dem eingesetzten Kapital mehr Kapital wird. Das wiederum ist nicht anders möglich als durch die Ausbeutung der Arbeitskraft. Denn diese ist die einzige Ware, die er auf dem Markt findet, die in der Lage ist, mehr Wert zu schaffen, als er für sie ausgeben muss.
1.3. Definition von Arbeiterklasse und Bourgeoisie
Viele der Irrtümer im Zusammenhang mit dem vermeintlichen „Abschied vom Proletariat“, auch innerhalb der Linken, hängen damit zusammen, dass mißverstanden wurde, was die Arbeiterklasse eigentlich ist. Man meinte, unter Arbeiter sei vor allem der weiße, männliche, unmittelbar körperliche Tätigkeiten vollziehende, klassenbewußte Proletarier des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Da man dieses Erscheinungsbild des schwitzenden, mit muskulösem Arm den Hammer auf den Amboß dreschenden Arbeiters in den entwickelten Industriegesellschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts dann seltener vorfand, glaubte man, die Arbeiterklasse sei „verschwunden“. Demgegenüber gilt es zu betonen, dass der Begriff „Proletariat“ weder bei Marx, noch in der auf ihm aufbauenden Tradition, irgendetwas über die Erscheinungsform der Klasse aussagt, sondern über die Stellung einer Klasse von Menschen in einem System der gesellschaftlichen Produktion. Und dafür ist es völlig unerheblich, ob moderne Arbeiter weiß oder schwarz sind, ob sie schwitzen oder nicht und ob sie mit einem Laptop, einem Wischmob oder einem Hammer ihrer Tätigkeit nachgehen. Diese Feststellung ist trivial, und nur gutbezahlte Soziologieidioten sind in der Lage an ihr vorbeizudenken.
Dennoch ist die Definition dessen, was Arbeiterklasse ist, und wer zu ihr gehört, alles andere als einfach. In der neueren Debatte zu dieser Frage haben sich im wesentlichen drei Ansätze – ein „weiter“, ein „enger“ und ein „mittlerer“ – herausgebildet, die hier kurz zu diskutieren sind. Im Kommunistischen Manifest schreibt Marx: „Unter Bourgeoisie wird die Klasse der modernen Kapitalisten verstanden, die Besitzer der gesellschaftlichen Produktionsmittel sind und Lohnarbeit ausnutzen. Unter Proletariat die Klasse der modernen Lohnarbeiter, die, da sie keine eigenen Produktionsmittel besitzen, darauf angewiesen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können.“ Dieses Kriterium alleine – Nichteigentum an Produktionsmitteln – reicht aber nicht aus: Manager oder Offiziere imperialistischer Armeen sind ebensowenig Eigentümer von Produktionsmitteln wie Bauarbeiter oder Krankenschwestern. Dennoch würden wir wohl kaum den Oberkommandierenden der US-Armee oder Spitzenmanager von Hedgefonds zum Proletariat zählen. Ein zu „weiter“ Ansatz der Definition der Arbeiterklasser gerät an diesem Punkt in Probleme. Wer die Zugehörigkeit zum Proletariat ausschließlich an das Nichteigentum an Produktionsmitteln oder an den formalen Lohnabhängigenstatus bindet – etwa die Sozialdemokratie mit ihrem Begriff des „Arbeitnehmers“ -, der wird beinahe jeden zur Arbeiterklasse rechnen müssen: Hochofenarbeiter ebenso wie ihren Betriebsingenieur, Krankenschwestern ebenso wie deren Chefarzt, Reinigungspersonal ebenso wie den Personalchef usw. Aus der zu weiten Fassung des Klassenbegriffs folgt offenkundig seine Auflösung.
Das diesem „weiten“ Begriff gegenüberstehende Extrem bildet ein zu „enger“ Begriff des Proletariats, der die Zugehörigkeit zu selbigem an bestimmte Erscheinungsformen bindet. Dem Arbeiter sieht man gleichsam an, dass er einer ist: Blaumann, rußverschmiertes Gesicht, von der anstrengenden Tätigkeit gestählter Leib. Als Arbeiter gilt nur, wer unmittelbar körperlich tätig und zudem direkt mehrwertschaffend ist. Alle, die keinen Zutritt zu diesem in den westlichen Industrienationen doch recht exklusiven Club bekommen, werden dann in eine sogenannte „Mittelklasse“ gepackt oder zum Kleinbürgertum gezählt. Der Begriff der Arbeiterklasse wird hier mit dem des Industrieproletariats gleichgesetzt. Es ist offensichtlich, dass dieser „enge“ Begriff der Klasse ebenso wie der „weite“ wenig sinnvoll ist und an der Arbeitswirklichkeit entwickelter kapitalistischer Länder vorbeigeht.
Gegen die beiden Extreme ist ein „mittlerer“ Begriff der Klasse zu erarbeiten, der an die reife Klassendefinition Lenins aus „Die große Initiative“ anschließt: „Als Klassen bezeichnet man große Menschengruppen, die sich voneinander unterscheiden nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen. Klassen sind Gruppen von Menschen, von denen die eine sich die Arbeit der anderen aneignen kann infolge der Verschiedenheit ihres Platzes in einem bestimmten System der gesellschaftlichen Wirtschaft.“
Wir haben hier mehrere Kriterien: 1.) Es muss sich um „große Menschengruppen“ handeln. 2.) Diese unterscheiden sich voneinander durch ihr – sich in den Rechtsverhältnissen ausdrückenden – Verhältnis zu den Produktionsmitteln – hier ist das für Marx entscheidende Kriterium des Eigentums/Nichteigentums an den Produktionsmitteln enthalten. 3.) Sie unterscheiden sich aber auch „nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit“ sowie nach „Art der Erlangung“ und „Größe“ des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum. 4.) Infolge der unterschiedlichen Stellung in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion kann sich eine (oder mehrere) Klasse(n) die Arbeit der anderen aneignen.
Diese Definition bietet größere Möglichkeiten zur Differenzierung als die beiden oben dargestellten. Weder bezieht sie sich allein auf das Industrieproletariat, noch schließt sie Manager, leitende Angestellte oder Angehörige des Repressionsapparats ein. Mit der Leninschen Klassendefinition haben wir also einige Richtlinien, mittels derer wir die Arbeiterklasse genauer bestimmen können: Ihre Angehörigen sind nicht im Besitz von Produktionsmitteln, müssen also ihre Arbeitskraft verkaufen; sie sind zudem nicht in leitenden Funktionen, die die Überwachung und Kontrolle des Produktionsprozesses steuern; ebenso sind sie nicht Teil des Repressionsapparates. Die so ausgeschlossenen Tätigkeiten sind zum Teil Tätigkeiten der „lohnabhängigen Mittelschichten“, des Kleinbürgertums, der Bourgeoisie oder ihrer „aggregierten Gruppen“.
1.4. Vom Abstrakten zum Konkreten
Ist mit der Leninschen Klassendefinition zwar ein tragfähiger Ausgangspunkt gegeben, so ist der Klassenbegriff hier noch sehr allgemein gefasst. Neben den beiden Hauptklassen unterscheiden Marx, Engels und Lenin in ihren konkreten historischen und politischen Analysen eine Vielzahl von Nebenklassen und -schichten, sowie verschiedene Fraktionen innerhalb der jeweiligen Klassen: Einen Handwerksmeister etwa, der zwar andere Arbeiter beschäftigt (und sich bis zu einem gewissen Grad ihren Mehrwert aneignet), gleichzeitig aber dennoch noch für den eigenen Lebensunterhalt arbeiten muss, nennt Marx „ein Mittelding zwischen Kapitalist und Arbeiter“. Er unterscheidet innerhalb der Arbeiterklasse zwischen qualifizierten und unqualifizierten Tätigkeiten, zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit, rechnet Bedienstete des Beamtenapparats nicht zur Lohnarbeiterklasse usw. Auch Lenins Überlegungen zur Klassentheorie bleiben nicht bei den beiden Hauptklassen stehen. Er widmet sich – der Situation Rußlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsprechend – ausführlich der Frage des Klassenstatus der Bauern; in bezug auf die imperialistischen Hauptnationen prägt er – anknüpfend an Bemerkungen von Marx und Engels – den Begriff der „Arbeiteraristokratie“, einer „in ihrer Lebensweise, nach ihrem Einkommen, durch ihre Weltanschauung völlig verspießerten“ Schicht der Arbeiterklasse im Westen, die zur Stütze der Bourgeoisie wird.
Kurz: Klassenanalyse muss konkret sein. Das Festhalten allgemeiner Bestimmungen des Begriffs einer jeweiligen Klasse ist wichtig, um den Begriff überhaupt bestimmen zu können; dennoch kann es sich niemals ohne die konkrete Analyse der jeweiligen Situation vollziehen. Der Kapitalismus selbst ist ständigen Wandlungen unterworfen, und diese sind selbstverständlich nicht ohne Auswirkung auf die Zusammensetzung und Ausdifferenzierung der Klassen. So ging etwa das ungeheure Anwachsen der Lohnabhängigen insgesamt einher mit einer Ausdifferenzierung der sozialen Struktur innerhalb der Arbeiterklasse und der lohnabhängigen Mittelschichten. Neue Technologien haben zu ganz neuen Arbeitsverhältnissen geführt und die Internationalisierung der Produktion hat ein globales System der Arbeitsteilung geschaffen. All das muss berücksichtigt werden, will man sich die derzeitige Situation der arbeitenden Klasse in der BRD genauer ansehen.
2. Anmerkungen zur Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland
2.1. Klassenkampf von oben – Arbeitslosigkeit, Armut, sinkende Löhne
Im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte ist in der BRD eine Sonderphase eines „sozialstaatlichen“ Kapitalismus, wie er sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine Reihe von Faktoren herausgebildet hatte, zu Ende gegangen. Klar war auch diese Phase des Kapitalismus in Deutschland nicht ohne Ausbeutung und Armut; allerdings erweiterten sich in den 1950er und 60er Jahren auch die Konsummöglichkeiten breiter Teile der Arbeitenden; es war die Zeit der „sozialpartnerschaftlichen“ Vereinbarungen zwischen Unternehmern und Gewerkschaftsbürokratie, ein gewisses Maß an sozialstaatlicher Absicherung entstand, die Massenarbeitslosigkeit wurde zurückgedrängt, Frauen nahmen häufiger am Erwerbsleben teil, was auch die Familieneinkommen anhob. Man kann diese Phase mit dem Soziologen Werner Seppman so kennzeichnen: „Um es auch sinnbildlich zu formulieren: Auch wenn es nur kleine Stücke vom Kuchen waren, die den arbeitenden Männern und Frauen zugestanden wurden, so waren es immerhin Kuchenstücke und nicht nur die dünnen Scheiben des harten Brots früherer Jahre.“
Die kleinen Kuchenstücke wichen in den vergangenen Jahrzehnten wieder den trockenen Brotscheiben. Was zu beobachten ist, ist ein mittlerweile mindestens drei Jahrzehnte dauernder Angriff auf Löhne, Sozialleistungen, Pensionen, gesellschaftliches Eigentum und erkämpfte Rechte der Arbeiterklasse. Das Resultat kann sich aus der Perspektive der herrschenden Klasse sehen lassen: Die BRD ist auf Kosten der Werktätigen zur ökonomischen Führungsmacht innerhalb der Europäischen Union aufgestiegen, etabliert sich zunehmend als „Global Player“, ist an militärischen Operationen vom Hindukusch bis ans Horn von Afrika beteiligt.
Wie aber sieht es für den Großteil der Bevölkerung, die Lohnabhängigen aus? Auch sie sollten zufrieden sein, ginge es nach der Bundesregierung. „Die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie seit 1991 nicht mehr“, lautete die Jubelmeldung Angela Merkels zur Jahreswende 2011/2012. Offiziell waren 2011 durchschnittlich weniger als 3 Millionen Menschen arbeitslos. Diese Zahlen sind allerdings so stark geschönt, dass selbst bürgerliche Medien der Bundesagentur für Arbeit, die diese Statistik erstellt, vorwerfen, hier massiv zu lügen. Erwerbslose, die erkrankt sind, die sich in „Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen“ befinden, Ein-Euro-Jobber, Menschen über 58 Jahren, die als „nicht vermittelbar gelten, werden nicht mitgezählt. Zählt man nur diese Personengruppen mit, so kommt man beispielsweise für den April 2012 statt der offiziell angeführten 2 963 325 auf 3 769 659 Erwerbslose. Rechnet man die Bezieher von ALG I und ALG II – die ja nicht alle ohne Arbeit, nur alle ohne Arbeit, die ihr Auskommen sichert, sind – zusammen, kommt man etwa für Januar 2012 auf 5 394 064. Dazu kommen Hunderttausende, die sich nicht als Arbeitslose registrieren lassen, und deshalb in keiner der Statistiken auftauchen.
Ebenso nicht erwähnt wird in den staatlichen Erfolgsmeldungen die erhöhte Armutsgefährdung von Erwerbslosen. Am 9. Januar 2012 berichtete die Berliner Zeitung, die BRD habe mit 70 Prozent Armutsgefährdung bei Erwerbslosen einen Spitzenwert innerhalb der Europäischen Union inne, der EU-Durchschnitt liege bei 45 Prozent. Nach Berichten der Nationalen Armutskonferenz (NAK) habe sich im Gefolge der Hartz-IV-„Reformen“ die Kinderarmut verdoppelt. Zudem bedeutet das Hartz-IV-Regime mit seinen Zwangsmaßnahmen und seiner institutionalisierten Demütigung zusätzlichen Druck auf diejenigen, die sich im Arbeitsprozess befinden. Die Angst vor dem Abstieg in die Hartz-Hölle wird selbst zum Lohndumpingfaktor.
Rund 13 Millionen Menschen in der Bundesrepublik sind offziellen Angaben zufolge arm (die offiziellen Statistiken sprechen blödsinnigerweise von „armutsgefährdet“; die „Armutsgefährdungsschwelle“ für einen Single-Haushalt liegt bei etwas über 800 Euro, unserer Ansicht kann man da – bezogen auf die gesellschaftliche Situation in Deutschland – durchaus von „arm“ sprechen). Klarerweise ist „Armut“ hier etwas anderes als in Ländern Südamerikas, Afrikas oder Asiens wo mehr als die Hälfte der Bevölkerung in absoluter Armut dahinvegetieren. Dennoch bedeutet sie auch in einem „reichen“ Land wie der BRD ständigen Mangel, Ausgeschlossensein von zentralen gesellschaftlichen Bedürfnissen, körperliche wie psychische Belastungen und Entrechtung.
Diese Zahlen zeigen, dass in der BRD Armut kein Phänomen ist, das nur bei nicht in den Arbeitsprozess eingegliederten Menschen vorkommt. Die „working poor“ – Menschen, die trotz Lohnarbeit unter die Armutsgrenze fallen – sind längst in Deutschland angekommen. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) stellte in einer arbeitsmarktpolitischen Studie vom Mai 2012 fest, dass sich in den vergangenen Jahren „das Gewicht erwerbstätiger Hartz-IV-Empfänger absolut wie relativ erhöht hat“. Die Zahl sogenannter „Aufstocker“ – also von Menschen, deren Einkommen so niedrig ist, dass es durch ALG II angehoben werden muss – sei von 1 221 000 im Jahr 2007 bis 2011 auf 1 355 000 angewachsen.
Auch bei jenen, die nicht unter die offizielle Armutsgrenze fallen, sinken die Löhne stetig. „Deutschland ist neben Japan das einzige Industrieland, bei dem im vergangenen Jahrzehnt die Reallöhne sanken“, schrieb das Münchner Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw) in seiner Bilanz für das Jahr 2010. Selbst eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, dem sicherlich keinerlei Sympathie für die arbeitende Bevölkerung unterstellt werden kann, kommt zu dem Schluss: „Die Netto-Reallöhne sind in Deutschland seit Anfang der 90er Jahre kaum gestiegen.“ Maßgeblich hierfür sei „die – auch im internationalen Vergleich – außerordentlich schwache Steigerung der Entgelte“, was „umso bemerkenswerter“ sei, da sich im selben Zeitraum „die Qualifikation der beschäftigten Arbeitnehmer im Durchschnitt erhöht hat, was für sich genommen einen deutlichen Anstieg der Verdienste hätte erwarten lassen“. Und: „Im Gegensatz zur Lohnentwicklung sind die Einkommen aus selbständiger Tätigkeit sowie aus Kapitalvermögen in den vergangenen Jahren kräftig gestiegen, sodass die Arbeitnehmerentgelte einen immer geringeren Teil des Volkseinkommens ausmachen.“ Also: Immer mehr Lohnabhängige arbeiten immer produktiver, ihr Anteil am gesamtgesellschaftlichen Reichtum sinkt allerdings stetig.
Dass diese Lohndrückerei nicht nur die Ausbeutung von Werktätigen hierzulande verstärkt, sondern auch als Vehikel für die Durchsetzung der deutschen Marktführerschaft in der Europäischen Union dient, hat die International Labour Organisation (ILO) mehrfach betont. In der Studie „Global Employment Trends 2012“ heißt es: „Die steigende Wettbewerbsfähigkeit deutscher Exporteure hat sich zunehmend als strukturelle Ursache der Probleme im Euro-Raum herausgestellt. Das Fallen der Lohnstückkosten in Deutschland im Vergleich zu den Konkurrenten im letzten Jahrzehnt erhöhte den Druck auf deren Ökonomie, was ungünstige Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit von deren Staatsfinanzen hatte.“
Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) stellt in seinem Verteilungsbericht für 2011 ebenfalls fest, dass die „gesellschaftliche Spaltung verfestigt wird“. Die für die Werktätigen ungünstige Lohnentwicklung bringt der Bericht in einen Zusammenhang mit der Zunahme atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Teilzeit, Werkverträge, Leiharbeit, prekäre Beschäftigung nehmen in der BRD immer weiter zu. Mit Rekurs auf Daten des Statistischen Bundesamts wird festgestellt, dass „neben geringfügiger Beschäftigung die Arbeitsverhältnisse Leiharbeit, Teilzeit und Befristung (…) rund drei Viertel des gesamten Beschäftigungszuwachses im Jahr 2010 ausmachen. Fortgesetzt wird damit eine Entwicklung seit 2000, die man in Anlehnung an das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) als ‚Jobwunder durch Teilzeit‘ betiteln kann.“ Seit 2000 sei ein Rückgang von Vollzeitarbeit zugunsten von Teilzeitbeschäftigung zu beobachten. Fazit: „Teilzeit an sich und prekäre Beschäftigungsverhältnisse in Vollzeit wie Teilzeit, die häufig mit besonders niedrigen Löhnen verbunden sind, erklären also neben der allgemein zurückhaltenden Lohnentwicklung einen Großteil des Lohnquotenrückgangs.“
Prekäre Arbeitsverhältnisse – Leih-/Zeitarbeit, Scheinselbständigkeit, Minijobs – sind also auf dem Vormarsch. Beschäftigte in diesem Sektor haben besonders mit Unsicherheit, schlechter Entlohnung, erhöhtem Arbeitsdruck und den daraus resultierenden körperlichen und psychischen Belastungen zu kämpfen. Der französische Soziologe Robert Castel stellte schon in den 1990er Jahren fest, dass die Spähre „normaler“, relativ gesicherter Arbeitsverhältnisse schrumpfe und sich zwischen diese und die „Zone der Entkoppelung“, in der sich die dauerhaft aus dem gesellschaftlichen Arbeitsprozess ausgeschlossenen befinden, eine „Zone der Prekarität“ schiebe, die zunehmend wachse. Letztere sei gekennzeichnet durch „flexibilisierte“ Beschäftigungsverhältnisse, also solche, in denen die Werktätigen in noch größerem Maße den Bedürfnissen des Kapitals untergeordnet und den Bewegungen des Marktes ausgeliefert sind.
Das „Schwarzbuch Leiharbeit“ der IG Metall gibt einen Einblick, was solche Erwerbsverhältnisse für die Arbeiter bedeuten. Ein Leiharbeiter berichtet: „Ich habe zwei Berufe gelernt. Am meisten ärgert es mich, dass ich für die gleiche Arbeit deutlich weniger Lohn bekomme als meine Kollegen. Außerdem werden Zuschläge nicht gleich gehandhabt. Die bekommen zum Beispiel ab 20 Uhr Nachtzuschlag, ich erst ab 23 Uhr. Wir müssen deutlich flexibler sein und immer damit rechnen, dass wir wieder arbeitslos werden oder woanders hinmüssen.“ Ein anderer Zeitarbeiter erzählt: „Volles Entgelt gibt es nur bei voller Arbeitsleistung. Bei Krankheit, Urlaub, Feiertag, und Überstundenabbau durch Freischicht fällt die Zulage weg. Soll heißen, dass mich eine vierwöchige Krankheit in ein finanzielles Desaster schickt!“
Die Ersetzung von regulären Stellen durch prekäre hat dabei durchaus System. Michael, gelerneter Schreiner aus Thüringen, berichtet in der IG-Metall-Broschüre, dass er, nachdem alle Bewerbungen, die er an Betriebe geschrieben hatte, von der Bundesagentur für Arbeit aufgefordert wurde, sich bei Leiharbeitsfirmen vorzustellen. „Diese Firmen wollten mich dann genau da arbeiten lassen, wo ich vorher auf meine Bewerbungen nur Absagen bekommen habe. Die Stundenlöhne waren der Hohn: ab 6,15 bis 7 Euro.“
In einem Papier zur Leiharbeit in Deutschland hält die Bundesagentur für Arbeit fest, dass „die Zeitarbeitsbranche seit längerem mit hoher Dynamik“ wachse. Gab es im Dezember 1980 noch 33 000 Leiharbeiter, so hatte sich deren Zahl bis 2000 auf 338 000 rund verzehnfacht. Im Dezember 2011 lag sie dann schon bei 872 000. Die auf diesen Beschäftigten lastende permanente Unischerheit beschreibt die Bundesagentur blumig: „Die Arbeitnehmerüberlassung ist von hoher Dynamik geprägt. Im zweiten Halbjahr 2011 wurden 561 000 Zeitarbeitsverhältnisse neu abgeschlossen und 702 000 Beschäftigungsverhältnisse beendet.“ Kündigung und Neuanstellung gehört hier also zum Alltag, das Humankapital soll möglichst einfach und billig dort zur Stelle sein, wo es vom Kapital gebraucht wird. Dies sei, so auch die Arbeitsagentur, längst kein Übergangsphänomen mehr, sondern „eine feste Größe am deutschen Arbeitsmarkt“.
Gerade auch jüngere Beschäftigte geraten dabei zunehmend unter Druck. Eine Studie des DGB hält im Mai 2012 fest, dass fast die Hälfte der Befragten unter 35jährigen mit ihrer Einkommenssituation unzufrieden sind. Jeder Vierte habe ein geringes Einkommen unter 1500 Euro monatlich, jeder sechste unter 800. Dazu komme, dass etwa 21 Prozent befristet beschäftigt seien, jeder zehnte arbeite als Leiharbeiter oder Minijobber. Unsicherheit, erhöhter Arbeitsdruck und Überstunden gehören zur Erfahrungswelt vieler junger Beschäftigter: 56 Prozent geben an, den Eindruck zu haben, dass die Arbeitsanforderungen in den letzten Jahren gestiegen seien, 70 Prozent leisten regelmäßig Überstunden und ebenfalls 70 Prozent sagen, dass sie in den vergangenen 12 Monaten mindestens einmal krank zur Arbeit gegangen sind.
Im Verlauf der Krise konnte auch eine Ausweitung der sogenannten „Kurzarbeit“ beobachtet werden. 1 433 000 Lohnabhängige befanden sich laut Angaben der „Bundesagentur für Arbeit“ Mitte 2009 in Kurzarbeit. Nach dem konjunkturschwachen Jahr 2009 ging die Zahl der in Kurzarbeit befindlichen Werktätigen zwar wieder zurück, blieb allerdings auch 2011 über dem Vorkrisenniveau (durchschnittlich laut Bundesamt für Statistik bei 147 607).
Ganz neue Methoden der Unterordnung des Humankapitals ergeben sich auch auf dem Gebiet der Nutzung von Internettechnologien. Wie der Journalist Tomasz Konicz in der Tageszeitung junge Welt vom 10. Juli 2012 herausarbeitete, könnten „Crowdsourcing“ und „Clowdworking“ – internetbasierter Arbeitskraftverkauf völlig isolierter Arbeitsmonaden – zumindest in einigen Produktionssparten eine ganz neue Dimension von Ausbeutung und Unterrodnung unter Kapitalbedürfnisse ermöglichen: IBM etwa wolle durch Ausgliederung von Tätigkeiten nach diesem Konzept bis zu 8000 Stellen in Deutschland streichen. Die dann von zuhause aus ihre Dienste anbietenden, Prekären hätten – so IBM-Personalchef Tim Ringo – unschätzbare Vorteile für den Konzern: „Es gäbe keine Gebäudekosten, keine Renten, und keine Kosten für das Gesundheitswesen, was enorme Einsparungen bedeutet.“
Die Folgen dieses in den letzten Jahrzehnten zu beobachtenden verstärkten Klassenkampfs seitens des Kapitals liegen auf der Hand: Die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums verlagert sich immer weiter zuungunsten der Lohnabhängigen. Relative Armut kehrt als Massenphänomen in die Metropolen zurück. Die Ausbeutung der Arbeiterklasse wird intensiviert, der Arbeitsdruck steigt. Mit der zunehmenden Prekarisierung verschlechtern sich auch die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse, denn etwa Leiharbeit spaltet die Kernbelegschaften und die prekär Beschäftigten; zudem ist auch der Organisationsgrad prekär Beschäftigter in den – ohnehin fürs Kapital recht harmlosen – Gewerkschaften weitaus geringer.
Hinzu kommen die psychischen Belastungen, die aus der „Flexibilisierung“ im Dienste des Kapitals, aus Arbeitslosigkeit, Stress und struktureller Unsicherheit erwachsen. Innerhalb der letzten zehn Jahre stiegen die Krankschreibungen aufgrund psychischer Probleme um rund 60 Prozent an.
2.2 Alles „Dienstleister“? – Die Arbeiterklasse in der BRD
Wer ist in Deutschland wo beschäftigt, welche Teile der Arbeiterklasse haben welchen Umfang? Diese Frage zu beantworten, fällt nicht leicht, können doch bürgerliche Statistiken kaum unmittelbar zu ihrer Klärung herangezogen werden. Die hier gängigen Trennung zwischen Wirtschaftsbereichen (Industrie/Verarbeitendes Gewerbe; Landwirtschaft; Dienstleistungen; usw.) sowie die Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten liegt im wesentlichen quer zur klassenanalytischen Unterscheidung zwischen Arbeiterklasse, Kleinbürgertum, Bourgeoisie usw.
Als „erwerbstätige Personen“ zählen in der bürgerlichen Soziologie zunächst alle, die in irgendeinem Arbeitsverhältnis stehen, unabhängig davon, ob dieses selbständig, abhängig oder freiberuflich ist. Festgehalten werden kann zunächst, dass der Anteil der „abhängig Beschäftigten“, also der Lohnabhängigen, nach wie vor die weitaus überwiegende Mehrheit der Erwerbsbevölkerung insgesamt in Deutschland ausmacht. Nach Daten der Bundesagentur für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) waren 2009 88% der Erwerbstätigen „abhängig beschäftigt“, in absoluten Zahlen also rund 30,58 Millionen Menschen. Nun ist es nicht möglich, hier einfach zu sagen, dies wäre dann gleichbedeutend mit dem Anteil der Arbeiterklasse an der Erwerbsbevölkerung. Als „abhängig Beschäftigte“ zählen beispielsweise auch „leitende Angestellte“, die wesentliche Funktionen des Kapitaleigentümers im Betrieb übernehmen – wie etwa Haupt- und Abteilungsleiter, Betriebsleiter, Meister etc. Diese wären den „Mittelschichten“ oder den „aggrierten Gruppen“ der Bourgoeisie bzw. dieser selbst zuzurechnen, wie wir bei der Erläuterung des Leninschen Klassenbegriffs bereits gesehen haben. Auch die umgekehrte Schlussfolgerung, die verbleibenden 12% wären automatisch Kapitalisten ist nicht zutreffend. Hier sind „mithelfende Familienangehörige“ genauso inbegriffen, wie kleine Selbständige, die keineswegs der Großbourgeoisie zuzurechnen sind.
Die zweite in der bürgerlichen Statistik gängige Einteilung ist die in Wirtschaftsbereiche: einen primären Sektor, der Land- und Forstwirtschaft, einen sekundären, der Industrie und produzierendes Gewerbe (manchmal inklusive Bau), und einen tertiären, der Dienstleistungen umfasst.
Hier wird dann zumeist ein seit langem andauernder Prozeß der „Teritiärisierung“ festgestellt, also der Verschiebung in Richtung des Dienstleistungsbereiches. 2009 waren in der BRD rund 73 Prozent der Beschäftigten im Dienstleistungssektor, 25 Prozent in Industrie und produzierendem Gewerbe und 2 Prozent in Land- und Forstwirtschaft tätig. Dies wird zumeist als Indikator dafür genommen, dass die Arbeiterklasse, die mit den Beschäftigten im sekundären Sektor identifiziert wird, in entwickelten Gesellschaften langsam aber sicher verschwinde. Demgegenüber ist zu betonen, dass die Sektoreneinteilung nicht mit einer klassenanalytischen Gliederung der Beschäftigten zusammenfällt.
Zwar können wir davon ausgehen, dass ein überwiegender Großteil der im sekundären Sektor Tätigen tatsächlich dem „traditionellen“ Proletariat angehört (Fabrikarbeiter, Bergwerkskumpel, Bauarbeiter, usw.). Allerdings ist es keineswegs so, dass alle im dritten Sektor, also im Bereich „Dienstleistungen“ Beschäftigten, zu den „Mittelklassen“ gehörten.
Wie steht es nun um die These der „Tertiärisierung“ und dem damit verbundenen „Verschwinden“ der Arbeiterklasse? Zuerst ist festzustellen, dass der sekundäre Sektor (inklusive Baugewerbe), also – grob gesagt – der Bereich der traditionellen Industriearbeiterklasse keineswegs ständig schrumpft, sondern auch in hochentwickelten kapitalistischen Gesellschaften wie der BRD zwar zurückgegangen ist, aber dennoch ein volkswirtschaftlich äußerst relevanter Faktor bleibt. Im Übrigen ist es nicht so, dass dieser Bereich ständig schrumpft, zwischendurch sind auch Phasen des Wachstums zu beobachten. So stieg etwa – dem Jahresbericht des Bundesamts für Statistik für 2011 zufolge – die Zahl der hier Arbeitenden zwischen 2005 und 2008 von rund 10 073 000 auf 10 219 000 und ging im darauf folgenden Jahr wieder auf 10 000 000 zurück.
Zu bedenken ist auch, dass selbst der sekundäre Sektor der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre sehr unterschiedliche Branchen zusammenfasst, die auch – je nach ökonomischer Gesamtlage des BRD-Imperialismus – unterschiedliche Wachstums-/Schrumpfungszahlen aufweisen: So meldete etwa Bundesamt für Statistik für den Mai 2012 einen Zuwachs von 2,8 Prozent bei den Beschäftigten in Betrieben des verarbeitenden Gewerbes mit über 50 Mitarbeitern; genauer betrachtet, entfiel der Großteil dieses Wachstums auf metallverarbeitende Betriebe, ein wesentlich geringerer Teil auf jene, die mit der Herstellung chemischer Erzeugnisse und Nahrungs-/Futtermittelerzeugung befasst sind. Zusammenfassend kann man sagen, dass konstant etwa 10 000 000 Beschäftigte in jenem Sektor tätig sind, der den Großteil des „traditionellen“ Proletariats umfasst. Hinzuzufügen ist allerdings, dass es sich beim sekundären Sektor der bürgerlichen Volkswirtschaft um eine Kategorie handelt, die relativ grob unterschiedliche Wirtschaftsbranchen mit auch sehr unterschiedlicher Entwicklung zusammenfasst.
Kommen wir nun zum „Dienstleistungssektor“. Hier verzeichnet die Statistik ein permanentes Wachstum in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Die Bundeszentrale für politische Bildung weist für 1991 59,5 Prozent der Beschäftigten diesem Bereich zu, 2007 sind es schon 72,4 Prozent, also 28,81 Millionen Personen.
Unter „Dienstleistungen“ werden äußerst heterogene Berufsfelder relativ willkürlich zusammengefasst; über die soziale Stellung und die Klassenzugehörigkeit sagt dies zunächst einmal gar nichts aus. Der Einteilung zu Grunde liegt die sogenannte „Klassifikation der Wirtschaftszweige“ von 2008 (WZ 2008, davor die WZ 2003). Der Dienstleistungsbereich umfasst die dort festgelegten Abschnitte G (Handel; Instandhaltung und Reparatur von KfZ), H (Verkehr und Lagerei), I (Gastgewerbe), J (Information und Komunikation), K (Erbringung von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen), L (Grundstücks- und Wohnungswesen), M (Erbringung von freiberuflichen wissenschaftlichen und technischen Dienstleistungen) sowie N (Erbringung von sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen), O (Öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Sozialversicherung), P (Erziehung und Unterricht), Q (Gesundheits- und Sozialwesen), R (Kunst, Unterhaltung, Erholung), S (Erbringung von sonstigen Dienstleistungen).
Enthalten sind hier also sehr unterschiedliche Wirtschaftsfelder: Der Lagerarbeiter, Taxi- oder LKW-Fahrer gilt genauso als „Dienstleister“ wie der Chefarzt, der Immobilienhändler oder der Investmentbanker.
Sieht man sich die Struktur der „Dienstleistungen“ genauer an, so kann man folgende interne Gliederung festhalten: 2011 waren laut Statistischem Bundesamt von 36 558 000 „Arbeitnehmern“ 26 884 000 im „Dienstleistungsbereich“ tätig; davon 8 399 000 in „Handel, Verkehr und Gastgewerbe“, 1 049 000 im Bereich „Information und Kommunikation“, 1 070 000 als „Finanz- und Versicherungsdienstleister“, 370 000 im „Grundstücks- und Wohnungswesen“, 4 493 im Bereich „Unternehmensdienstleistungen“, 11 503 000 in den Sektoren „Öffentliche und sonstige private Dienstleistungen“ (dies enthält laut Statistik die oben angebennen Abschnitte O, P, Q, S).
Wie steht es nun mit diesen „Dienstleistungen“ in klassenanalytischer Hinsicht? Sehen wir uns einige der unter „Dienstleistungen“ subsumierten Tätigkeiten genauer an.
Gehört etwa ein Transportarbeiter, der ja ein vermeintlich „fertiges“ Produkt (oder im Falle des öffentlichen Personenverkehrs einen Menschen) von A nach B bringt, zum Proletariat? Marx selbst hat betont, dass dies sehr wohl der Fall ist. In den „Grundrissen“ schreibt er: „Das Produkt ist erst wirklich fertig, sobald es auf dem Markt ist. Die Bewegung, wodurch es dahin kommt, gehört noch mit zu seinen Herstellungskosten.“ Und in den „Theorien über den Mehrwert“ nennt er die „Transportindustrie, sei es, dass sie Menschen oder Waren transportiert“, eine „Sphäre der materiellen Produktion“. Denn: „Das Verhältnis der produktiven Arbeit, i.e. des Lohnarbeiters zum Kapital ist hier ganz dasselbe wie in den anderen Sphären der materiellen Produktion. Es wird hier ferner an dem Arbeitsgegenstand eine materielle Veränderung hervorgebracht – eine räumliche Ortsveränderung.“ Insofern unterliegt diese Tätigkeit denselben Gesetzen kapitalistischer Warenproduktion wie die Arbeit in den anderen Bereichen materieller Produktion: Das „örtliche Dasein“ der jeweiligen Ware wird verändert, und damit geht eine Änderung in seinem Gebrauchswert vor (…). Sein Tauschwert wächst in demselben Maß, wie diese Veränderung seines Gebrauchswerts Arbeit erheischt.“
Das ist aus der Perspektive der Marxschen Arbeitswertlehre durchaus schlüssig, und insofern sind wir berechtigt, die Transportarbeiter zur Arbeiterklasse zu rechnen. Analog kann im Bezug auf die Lagerarbeiter argumentiert werden, wenn man sie nicht ohnehin als Teil der Transportarbeiter versteht.
Setzen wir das in bezug zur aktuellen Dienstleistungsstatistik: 2009 waren 758 000 Personen im Bereich „Landverkehr und Transport in Rohrfernleitungen“ (Abschnitt H49 nach WZ 2008) tätig. Darin eingeschlossen sind wiederum sehr unterschiedliche Berufsfelder: Personen- oder Güterbeförderung im Eisenbahnverkehr über Umzugsunternehmen bis hin zu Taxifahrern. Dennoch wird man einen nicht kleinen Teil der hier erfassten Personen zur Arbeiterklasse zählen dürfen. Ähnlich verhält es sich mit dem Bereich „Lagerei sowie Erbringung von sonstigen Dienstleistungen für den Verkehr“ (Abschnitt H52), in dem 548 500 Personen im Jahr 2009 arbeiteten. Hier sind „Frachtumschlag“ (also das Be- und entladen von Flugzeugen und Schiffen), der Hafenbetrieb, Lagerei und Speditionen enthalten. Im ebenso größtenteils der Klasse zuzurechnenden Bereich „Post-, Kurier- und Expressdienste“ (Abschnitt H53) waren im selben Zeitraum 446 300 Menschen tätig. Dies sind die größten Unterkategorien des Dienstleistungsbereichs „Verkehr und Lagerei“ (Abschnitt H), der 2009 insgesamt 1 846 300 Beschäftigte umfasste. Wieviele davon nun genau zur Arbeiterklasse zählen, darüber geben die bürgerlichen Statistiken keinen Aufschluss. Sicher muss bei kleinen Selbständigen, bei leitenden Angestellten, Ingenieuren, Schichtleitern usw. die konkrete Situation im jeweiligen Betrieb berücksichtigt werden, um ihre Funktion im Produktionsprozess und somit ihre Klassenzugehörigkeit zu bestimmen. Dennoch kann man davon ausgehen, dass ein Großteil der im Abschnitt „Verkehr und Lagerei“ zu den „Dienstleistern“ gezählten nach der oben skizzierten Marxschen Auffassung von Transport-/Lagerarbeit der Arbeiterklasse angehören.
Unter N 78 („Vermittlung und Überlassung von Arbeitskräften“) werden 657 500 Personen im Jahr 2009 als „Dienstleister“ gezählt. Hier enthalten sind nicht nur die mit der Vermittlung und Verleihung von Arbeitern Befassten – also die Betreiber von Zeitarbeitsfirmen -, sondern ebenso die verliehenen Arbeiter selbst. Diese beliefen sich in eben diesem Jahr – nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit – auf 632 000 Personen. Diese sind zum überwiegenden Teil als Hilfspersonal, Fabriksarbeiter, Reinigungskräfte eingesetzt. Von diesem Bereich der „Dienstleistungen“ kann also relativ umstandslos behauptet werden, dass die hier Neudefinierten zum überwiegenden Teil der Arbeiterklasse angehören, ja sogar zu ihren ausgebeutetsten Schichten zählen.
Grundsätzlich haben wir es bei vielen Dienstleistungen auch mit Warenproduktion zu tun. Was entsteht hat einen Gebrauchswert und einen Tauschwert, Mehrwert wird produziert, Ausbeutung findet statt. Marx betont in den „Theorien über den Mehrwert“: „Gewisse Dienstleistungen oder die Gebrauchswerte, Resultate gewisser Tätigkeiten oder Arbeiten, verkörpern sich in Waren, andre dagegen lassen kein handgreifliches, von der Person selbst unterschiedenes Resultat zurück.“ Diese Dienste können notwendige sein oder bloß zum Genuss dienen, dies „ändert an ihrer ökonomischen Bedingung nichts.“
Insofern etwa Reinigungspersonal in einem kapitalistischen Betrieb angestellt ist, der die „Dienste“ seiner Arbeiter an einen Kunden verkauft und sich den produzierten Mehrwert aneignet, zählen Reinigungskräfte also zur Arbeiterklasse. Gleiches gilt für eine Reihe von „Dienstleistungsberufen“: Call-Center-Angestellte, Pflegepersonal, Beschäftigte im Gastgewerbe, Mitarbeiter der Müllabfuhr, usw.
Hinzukommt, dass sich mit der Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses eine Ausdifferenzierung der produktiven Tätigkeiten vollzieht. Die bürgerliche Statistik fasst etwa diejenigen, die die Hardware eines Computers herstellen als zum verarbeitenden Gewerbe zugehörig auf, die Programmierer der Software allerdings definiert sie als „Dienstleister“. Aus marxistischer Perspektive macht das wenig Sinn. Zwar mag sich das Einkommensniveau der jeweils Beschäftigten unterscheiden, zumal die Hardware-Produtkion zu einem großen Teil in Niedriglohnländer ausgelagert ist, letztlich gehören aber beide Gruppen zur Kategorie der produktiven Lohnarbeiter.
Was wir bis hierhin festgestellt haben, ist noch nicht viel und ermangelt noch einer Reihe klassenanalytischer Unterscheidungen. Festgehalten werden kann aber dennoch, dass das unter Berufung auf die bürgerliche Statistik behauptete „Verschwinden“ der Arbeiterklasse eine Illusion ist. Die Klasse verändert sich den sich verändernden Produktionsbedingungen entsprechend, verschwinden kann sie, solange es den Kapitalismus gibt, nicht. Zwar ist es nicht möglich, aus den auf der Drei-Sektoren-Theorie beruhenden bürgerlichen Statistiken den genauen Anteil der zur Arbeiterklasse gehörenden Werktätigen an der Gesamterwerbsbevölkerung herzuleiten (und eigene marxistische Erhebungen in einem nennenswerten Ausmaß gibt es dem Stand der linken Bewegung in der BRD entsprechend nicht); dennoch kann man aber annehmen, dass ein Großteil der Erwerbstätigen zur Arbeiterklasse im Sinne der Leninschen Klassendefinition gehört.
Damit allerdings ist bei weitem noch nicht alles gesagt. Viele notwendige Unterscheidungen haben wir ausgespart. So differenziert etwa Marx zwischen „produktiven“ und „unproduktiven“ Dienstleistungen. „Unproduktiv“ sind bestimmte Dienstleistungen dann, wenn der Kapitalist sie aus seinem persönlichen Konsumtionsfonds, also der Kohle, die er bloß für private Konsumtion abzwackt und die nicht wieder in den Prozess von Kapitalverwertung zurückläuft, bezahlt und nur zur privaten Belustigung nutzt. So ist etwa ein „Flickschneider, der zu dem Kapitalisten ins Haus kommt und ihm seine Hosen flickt, ihm einen bloßen Gebrauchswert schafft, ein unproduktiver Arbeiter.“ Wir haben das unterlassen, weil wir ohnehin keine Möglichkeit sahen, aus dem vorhandenen emprischen Material quantifizierbare Ergebnisse für „produktive“ und „unproduktive“ Dienstleistungen zu errechnen.
Wichtiger erscheint uns die Kategorie der „Kernschichten“ der Lohnarbeiterklasse. Hierunter sind – im Anschluss an Werner Seppmann – die „strukturell handlungsrelevanten Segmente“ der abhängig Beschäftigten zu verstehen, also die traditionelle Industrie- und Bauarbeiterschaft sowie jene Klassensegmente, deren Arbeitsplatzstruktur „sich industriellen Standards annähert“ bzw. deren Arbeitssituation „durch ein Mindestmaß an Kollektivität geprägt ist“. Diese Teile der Klasse sind nachvollziehbarer Weise in größerem Maße als andere in der Lage, Druck im Klassenkampf aufzubauen und – etwa durch Streiks – das reibungslose Funktionieren des kapitalistischen Porduktionsprozesses zu unterbrechen.
2.3. Multiethnische Klasse
Was in marxistischen Klassenanalysen der jüngeren Zeit oft vernachlässigt wird, allerdings für die Kampfbedingungen des Proletariats und die Perspektiven linksradikaler Politik von großer Wichtigkeit sein dürfte, ist der Umstand, dass die Arbeiterklasse in der BRD zu einem nicht unbedeutenden Teil von „ausländischen“ Werktätigen, die zudem zu den am meisten ausgebeuteten Schichten der Klasse zählen, geprägt ist.
Dass „ausländische“ Arbeiter als industrielle Reservearmee und besonders „flexible“ Billiglohnkräfte in den deutschen Akkumulationsprozess eingespeist werden, hat eine bis zur Reichsgründung 1871 zurückgehende Tradition. Von den polnischen Arbeitern in der preußischen Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über den Arbeitseinsatz von Kriegsgefangenen während des Ersten Weltkriegs, die massenhafte Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen während des Nazifaschismus bis hin zur Massenanwerbung von „ausländischen“ Arbeitskräften in der Nachkriegszeit – „Ausländer“ – weil noch leichter zu entrechten als „einheimische“ Arbeitskräfte – waren dem deutschen Kapital in allen Epochen seines Wirkens stets willkommenes Material zur Kapitalvermehrung. Die Art und Weise der gesteigerten Ausbeutung mag sich dabei jeweils unterscheiden, worum es allerdings in der Stoßrichtung geht, daraus machte das Kapital selten einen Hehl.
Bereits bei der Anwerbung italienischer und später türkischer Arbeiter in den 1960er und 70er Jahren machten die deutschen Unternehmerverbände keinen Hehl, worum es ging: Gastarbeiter waren billiger, verrichteten Tätigkeiten, die kein deutscher Arbeiter mehr verrichten wollte, und waren zudem ultimativ „flexibel“: „Wenn wir das näher betrachten, stellen wir fest, dass die ausländischen Arbeitskräfte, die hier bei uns sind, total mobil sind, nicht nur der einzelne ausländische Arbeitnehmer, sondern die ausländischen Arbeitnehmer insgesamt durch den enormen Rückfluss und das starke Wiedereinwandern“, hieß es auf einer Konferenz der Arbeitgeberverbände 1959. Außerdem positiv war für die Kapitalisten, dass der „ausländische“ Gastarbeiter in der Regel nicht an der betrieblichen Altersvorsoge teilnehmen würde, und auch die Wohnungsbaukosten gering waren, konnte man sie doch einfach in Baracken und Gemeinschaftsunterkünften einquartieren: „In einem Raum von nicht mehr als 15 Quadratmetern hausen sechs türkische und griechische Gastarbeiter. Übereinander und eng zusammengerückt stehen die Betten; alle Männer liegen schon, obwohl es gerade erst halb neun ist. Aber was sollen sie in diesem Loch anders anfangen? (…) Man sucht nach Worten, um den Toilettenraum zu beschreiben. Auf dem Boden schwimmt eine einzige Lache, das Inventar besteht aus einer kalksteinernen Latrine ohne Besatz. Das nächste Zimmer erreicht man erst nach einer bei Dunkelheit und Regen halsbrecherischen Kletterei“, so beschrieb das Handelsblatt im Februar 1967 eine typische Wohnsituation von Gastarbeitern.
Das Konzept der „Gastarbeiter“ war aus der Perspektive des Kapitals eine einzige Erfolgsstory: Arbeitskräfte im besten Alter, die ihre Arbeitskraft billig verkauften, ohne dass man für den dazugehörigen Schnickschnack wie Gesundheitsversorgung, Frühverrentung oder sonstwas aufkommen musste, und die zudem wenig Neigung zu Ungehorsam zeigten, waren sie doch ohnehin nur befristet im Land. Zudem ließ sich so der Druck auch auf „einheimische“ Arbeiter verstärken, die ihren Arbeitsplatz durch die „Fremden“ bedroht glauben. Klassenspaltung, Billiglohn, ultimative Flexibilität – kein Wunder, dass das Kapital der BRD dieses Konzept so lange wie irgend möglich fortzusetzen und auszuweiten trachtete.
Der Historiker Ulrich Herbert konstatiert in seiner „Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland“ mit Bezug auf die 10970er Jahre: „Der die Ausländerbeschäftigung seit 1880 traditionellerweise kennzeichnende Trend, dass Ausländer auf unqualifizierten Arbeitsplätzen mit besonders schwerer, schmutziger, gefährlicher oder allgemein unbeliebter Arbeit weit überproportional vertreten waren, hatte weiter angehalten.“
Im Wesentlichen kann man das auch für die Situation von „ausländischen“ Werktätigen und solchen mit „Migrationshintergrund“ in der BRD heute festhalten. In der Migrationshintergrunderhebungsverordnung vom 29. September 2010 heißt es: „ein Migrationshintergrund liegt vor, wenn 1. die Person nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt oder 2. der Geburtsort der Person außerhalb der heutigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland liegt und eine Zuwanderung in das heutige Gebiet der BRD nach 1949 erfolgte oder 3. der Geburtsort mindestens eines Elternteils der Person außerhalb der heutigen Grenzen der Bundesrepublik Deutschland liegt sowie eine Zuwanderung dieses Elternteils in das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach 1949 erfolgte.“ Es ist offensichtlich, dass auch hier wiederum eine sehr heterogene Gruppe zusammengefasst wird: Spätaussiedler fallen hier genauso darunter wie türkische Gastarbeiter. Offiziell haben 15,6 der 82 Millionen Einwohner der BRD „ausländische Wurzeln“ (Stand 2008).
Sieht man sich die soziale Situation von Menschen mit Migrationshintergrund in der BRD heute an, so wird deutlich: Doppelt so viele wie in der Restbevölkerung leben in Armut (laut Bundesagentur für politische Bildung bei 28,2 Prozent für das Jahr 2008), die Arbeitslosenquote ist ebenfalls doppelt so hoch, die Bezahlung im Durchschnitt schlechter, der Zugang zu Bildung ebenfalls sehr stark eingeschränkt. Bei bestimmten Gruppen von Beschäftigten mit Migrationshintergrund ist die Tendenz für „besonders schwere, schmutzige, gefährliche oder allgemein unbeliebte Arbeit“ eingesetzt zu werden, nach wie vor Realität. Dies macht deutlich, dass die radikale Linke Konzepte entwickeln muss, um gerade auch Werktätige mit „Migrationshintergrund“ zu organisieren.
2.4. Internationalisierung der Produktion
Nicht zu vernachlässigen ist zudem der Internationalisierungsgrad der kapitalistischen Produktion. „Abgeschlossene“ Wirtschaftsräume gibt es kaum noch. Konzerne und Banken sind auf dem Weltmarkt aktiv, Produkte werden oft nicht in einem Land gefertigt, sondern in verschiedenen Fertigungsschritten in verschiedenen Ländern – je nachdem wo die Bedingungen für Produktion und Ausbeutung optimal sind. Die Volkswagen AG unterhält etwa in Brasilien Werke mit rund 30 000 Beschäftigten, in China mit rund 38 000 Beschäftigten, und in über 20 anderen Staaten mit weiteren Zehntausenden Beschäftigten. Die Continental AG mit Hauptsitz in Hannover verfügt über Standorte in 46 Ländern mit insgesamt 169 000 Beschäftigten. Die Metro AG beschäftigt insgesamt rund 258 000 Mitarbeiter, davon 94 000 in Deutschland.
Ähnlich verhält es sich bei vielen anderen Großkonzernen mit Hauptsitz in Deutschland. Klar ist, dass dieser Internationalisierungsgrad verstärkt globale Gegenstrategien erfordert, dass Streiks nur erfolgreich sein können, wenn sie in mehreren Ländern koordiniert vor sich gehen.
Das Kapital nutzt die ungleiche Entwicklung von Volkswirtschaften wesentlich besser, als die Arbeiterbewegung die internationale Vernetzung von Werktätigen. Man zahlt Steuern in dem einen Land, hat die Forschungsabteilung im nächsten und die Produktion in einem dritten.
Die Internationalisierung der Produktion stellt eine neue Herausforderung an die globale Vernetzung von Klassenkämpfen jenseits reformistischer oder sozialchauvinistischer Gewerkschaftsinternationalen. Ansätze hierfür sind im Rahmen der Antiausteritätsproteste entstanden, allerdings auf noch sehr ausbaufähigen Niveau.
Nachwort: Und sie kämpft doch – Klassenkämpfe und Perspektive der radikalen Linken
Vergleicht man die Widerstandskultur und Kampfbereitschaft der Arbeitenden und Erwerbslosen hierzulande mit anderen europäischen Ländern, stellt man vor allem fest, dass hier fast nix los ist. Kaum Streiks, von Generalstreiks nicht zu sprechen. Eine Gewerkschaftsführung, die in den meisten Fällen so kapitalfreundlich ist, dass der Leninsche Begriff „Arbeiteraristokratie“ noch ein Kompliment wäre. Hinzu kommen in der Klasse weit verbreitete standortnationalistische Bewußtseinsformen, eine geradezu verrückte Identifikation mit dem „eigenen“ Betrieb und die typisch deutsch-duckmäuserische Obrigkeitssgläubigkeit.
Dennoch ist es nicht so, dass es gar keinen Klassenkampf „von unten“ gäbe. Die Arbeitsniederlegungen der Lokführer im Rahmen der GDL-Streiks, der Widerstand der Schleckerarbeiterinnen, der Sturm belgischer Ford-Arbeiter auf das Kölner Werk des Autoherstellers, von Zeit zu Zeit auch Streiks in der Metallindustrie zeigen, dass die Arbeiterklasse der BRD nicht völlig tätigkeitslos ihr Schicksal hinnimmt. Zudem existieren vorpolitische Formen der Verweigerung, etwa Krankfeiern und Klauen am Arbeitsplatz, die durchaus auch als Formen des Klassenkampfes zu werten sind. Dennoch ist das, gerade angesichts der massiven Verschlechterungen für Werktätige hierzulande und das Ausbeutungsregime anderen europäischen Ländern gegenüber, zu wenig. Doch was tun?
Die radikale Linke hat weder auf diese Kämpfe noch in der Klasse im Allgemeinen nennenswerten Einfluß. Und ohne den wird keine Revolution machbar sein. Das, was in der marxistischen Tradition etwas scholastisch als „historische Mission“ der Arbeiterklasse bezeichnet wird, nämlich den Sozialismus/Kommunismus zu erkämpfen, hat seinen Wirklichkeitsgehalt in der Feststellung, dass ohne das Proletariat nichts gewonnen werden kann. „Mission“ ist zwar ein selten doofer Ausdruck dafür, aber klar ist, dass eine Überwindung des Kapitalismus nicht von Hausbesetzern, Studenten oder empörten Bürgern alleine erkämpft werden kann.
Die Frage ist nämlich nicht nur, wer eine neue Gesellschaft will, sondern wer an den Schalthebeln der noch bestehenden sitzt. Ein unbefristeter Generalstreik lässt die Kapitalisten zittern, während ihnen ein neuer Squat nur ein müdes Lächeln entlockt. Wenn es der radikalen Linken also nicht gelingt, größeren Teilen der Arbeiterklasse bewußt zu machen, was nötig ist, um aus dieser Scheissgesellschaft in eine bessere überzuwechseln, wird alle Mühe keinen entscheidenden Erfolg zeitigen.
Nun ist die Sache aber die: Keine radikal linke Organisation in der Bundesrepublik hat nennenswerten Einfluss auf die Arbeiterklasse. Und das liegt nicht allein daran, wie ignorant die Proleten sind, es liegt daran, dass die radikale Linke derzeit kein attraktives Angebot zu machen in der Lage ist.
Anmerkung
# Das hier veröffentlichte Papier war ein Arbeitsmanuskript, und noch dazu ein unvollständiges. Einige Kapitel, eine Analyse geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung, eine Darstellung des Abzugs von Extraprofiten aus der Peripherie und des Surplus für die Arbeiterklasse in den Metropolen, sowie ein Abschnitt zu verschiedenen Formen gewerkschaftlicher Organisierung fehlen. Wir hatten nicht mehr vor es fertigzuschreiben, wollten das Papier aber nicht ungelesen vergammeln lassen. Insofern hören wir Kritik und Ergänzungen gerne, aber was fehlt, fehlt, weil wir keine Zeit mehr hatten, es fertigzuschreiben.