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Die Fenster beben, der Boden bebt, ich höre meinen Namen, gefolgt von einigen kurdischen Wörtern. Ein weiterer Knall. Ich kann das stechende Geräusch des Flugzeugs, das über unsere Köpfe hinweg fliegt, förmlich spüren. Wie eine Spinne wandert es über meinen Rücken.

Die Fenster beben, der Boden bebt, die dritte Rakete schlägt ein. Auf meinen Namen folgt der Befehl, mich schnell auf den Boden zu legen. Von unten kommen Kinderschreie. Das Nötigste passt in die Jackentasche und ich trage nur meine Kamera. Mich ärgert es, dass ich keinen zusätzlichen Akku habe. Ich fühle mich unbeholfen: Warum denke ich in diesem schrecklichen Moment ausgerechnet daran?

Die Großmutter der Familie kontrolliert die Stimmung, hält die kollektive Angst im Zaum. Wir sind im sichersten und heißesten Raum, etwa 14 Personen. Die meisten Kinder schlafen, außer Armanc, der mit verschränkten Händen und zitternd auf den Beinen seiner Mutter liegt. Die Großmutter betet. Dann blickt sie mit offenen Händen auf und sagt: „Erdogan, warum tust du uns das an? Was haben wir getan? Kurd*innen zu sein? Wir haben Kinder! Was haben wir getan? Wir haben doch nur jeden Tag unsere Mahlzeiten zubereitet und versucht zu leben?“

Muhamed, der Vater einiger Kinder, sucht auf seinem Handy nach Informationen. “Es scheint, dass nicht nur Kobanê, sondern auch andere Städte gleichzeitig angegriffen werden“, sagt er und liest ihre Namen vor: „Derik, Ain Digna, Ayn Al Arab, Tal Rifat, Malikiyah, Şehba, Zirgan“. Außerdem wurden auch weitere Gebiete, außerhalb von Nordostysyrien, die aber für die kurdische Bewegung seit 40 Jahren große Bedeutung haben, getroffen. Zum Beispiel das Qandil-Gebirge und weitere Orte im kurdischen Nordirak.

Der Morgen des 20. November begann mit einem Tweet des türkischen Verteidigungsministers Hulusi Akar, der bekannt gab, dass die Operation „Klaue und Schwert“ erfolgreich durchgeführt wurde. Es seien mehr als 80 Ziele im Nordirak und im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung von Nordostsyrien angegriffen worden. Die Angriffe in Nordsyrien breiteten sich von Derik, der irakisch-türkisch-syrischen Grenze, bis zum Bezirk Şehba aus, 40 Kilometer von der Stadt Aleppo entfernt. Der gesamte Luftraum in diesem Gebiet wird von den Vereinigten Staaten und Russland kontrolliert, was darauf hindeutet, dass beide Länder grünes Licht für den Angriff geben haben oder wegschauten.

In Kobanê war eines der Angriffsziele ein Corona-Krankenhaus. Am nächsten Morgen suchten Journalist*innen die Trümmer auf und die Türkei grifft wieder an. Ein Reporter wurde verletzt. In der nordsyrischen Stadt Derik wurden in der gleichen Nacht zwei Wachen eines Kraftwerks getötet. Als Menschen kamen, um zu helfen, darunter Krankenschwestern und Journalisten, griff die Türkei erneut mit Kampfflugzeugen und Drohnen an. Es starben zehn weitere Menschen. Ein halbes Dutzend wurde verletzt.

Dieses Doppelangriffe werden durch das Genfer Abkommen verboten: Wenn ein Ort bombardiert wird und Menschen zur Hilfe eilen dürfen diese nicht wieder bombardiert werden. Laut der in Großbritannien ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden innerhalb der ersten zwei Angriffstage allein in Nordsyrien mindestens 31 Menschen getötet.

In der Nacht werden von der Familie, bei der ich zu Besuch bin, viele Anrufe getätigt. Man versucht herauszufinden, wie es anderen Familienangehörigen geht und ob sie neue Informationen haben. Die Großmutter ist in einer WhatsApp-Gruppe von Verwandten von Gefallenen, die während dieses seit zu vielen Jahren andauernden Konflikts starben. Sie verlor selbst zwei ihrer Kinder: Eines davon starb, als es die vom Islamischen Staat hinterlassenen Minen entschärfte. „Ich hoffe, es gibt keine Toten“, murmelt die betagte Frau vor sich hin.

„Bisher gab es hier vor allem türkische Drohnen. Man hat sie erst bei der Explosion gehört oder am nächsten Tag davon erfahren. Jetzt sind die Flugzeuge zurück, da muss etwas passiert sein“, erklärt Muhamed. Die App „Syria live map“ zeigt an, dass die von Russland kontrollierte Flugzone freigegeben ist. Dazu gehört auch der Luftraum über Kobanê, wo wir uns aufhalten. Als die Luftangriffe begannen, twitterte Minister Akar, dass die „Stunde des jüngsten Gerichts“ gekommen sei, zusammen mit Bildern eines startenden Kampfjets und einer Explosion. „Zeit um Rechenschaft abzulegen! Diese Schurken bezahlen für ihre verräterischen Angriffe“, schrieb er in einem anderen Tweet.

13. November in Istanbul. Eine Frau sitzt um 15:40 Uhr auf einer Bank auf der Istiklal Caddesi. Sie bleibt 40 Minuten an Ort und Stelle, steht auf, geht hinaus und wenige Minuten später explodiert eine Bombe, bei der sechs getötet und 81 verletzt werden. Keine terroristische Gruppe übernimmt die Verantwortung für den Angriff. Am nächsten Tag behauptet Innenminister Süleyman Soylu, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) trage die Verantwortung für den Anschlag. Er gibt außerdem die Festnahme des mutmaßlichen Terroristen und 50 weiterer Personen bekannt. Soylu behauptet, der Angriff sei von der Stadt Kobanê koordiniert worden. Die aktuellen türkischen Angriffe auf Nordostsyrien werden so von Ankara als Reaktion auf den Angriff in Istanbul gerechtfertigt.

Aber die Invasion war schon lange vorher geplant. Seit Frühjahr 2022 versucht Erdogan, in das Gebiet einzudringen, das er heute angreift. Bisher hat ihm die Zustimmung der USA und Russlands gefehlt. Hinsichtlich des Anschlags in Istanbul gibt es noch keine eindeutigen Beweise, wer ihn ausgeführt hat, aber Ankara beschuldigt weiterhin die PKK und die nordsyrische YPG. Das Attentat dient der Türkei als Vorwand, um neue Angriffe zu starten.

Dass der Beginn der Invasion auf den Beginn der Weltmeisterschaft in Katar fällt, scheint keine Zufall zu sein. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Gräueltaten in Zeiten passieren, in denen sich die Aufmerksamkeit der Welt auf die Weltmeisterschaft konzentriert.

Knapp sieben Monate sind es noch bis zu den Präsidentschaftswahlen in der Türkei, die für Erdogan zur schwierigsten Wahl seiner gesamten politischen Laufbahn geworden ist: Sein Land befindet sich in den letzten Jahren in extrem schlechten wirtschaftlichen Verhältnissen. Erdogan weiß, dass die türkische Wählerschaft mit Nationalismus und Kriegskampagnen liebäugelt und er ist sich darüber im Klaren, dass das das Einzige ist, was ihn an der Macht halten könnte.

Die Opposition, die sich aus sechs Parteien mit mehr oder weniger nationalistischem Charakter zusammensetzt, ist ebenfalls ein entschiedener Verteidiger einer „starken Hand“ gegen die Kurd*innen. Erdogan erklärte: „Wir beschränken uns nicht auf einen Luftangriff, wir werden uns mit dem Verteidigungsministerium und den Militärkommandeuren beratschlagen, inwiefern wir unsere Bodentruppen einsetzen. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht.“

Seit 2016 ist die Türkei dreimal in Nordostsyrien einmarschiert und hat hunderte Kilometer Territorium von der autonomen Selbstverwaltung besetzt. Jetzt droht Erdogan wieder in ein Gebiet einzudringen, in dem sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland militärisch präsent sind. Dieser Modus Operandi ist der türkischen Regierung bestens bekannt: Angriff auf die Kurden, wenn die Popularitätswerte sinken, und das Versprechen, das Osmanische Reich wieder aufzubauen.

Ein paar Tage nach der Bombennacht in Kobanê nehmen die Angriffe im Gebiet der autonomen Selbstverwaltung Flächendecken zu. Erdogan erklärte in einem Fernsehinterview: „Seit einigen Tagen sind wir mit unseren Flugzeugen, Bomben und Drohnen den Terroristen auf der Spur. So Gott will, werden wir sie bald alle mit unseren Panzern, Artillerie und Soldaten ausrotten.” Zur gleichen Zeit bombardierte eine türkische Drohne nördlich der Stadt Haseke einen Stützpunkt der internationalen Koalition gegen den IS und der Anti-Terrorismus-Einheiten YAT.

Erdogans angeblicher „Kampf gegen den Terror“ bedroht erneut das Leben von fünf Millionen Menschen, die seit 10 Jahren autonom leben und inmitten des Krieges Tage des Friedens suchen, die ihnen immer verweigert wurden.

Autor*innen: Mauricio Centurión und Ariadna Masmitjà

Titelbild: Türkischer Luftangriff auf Zirgan vom 3.12.22

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Während die Weltöffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit den Krieg in der Ukraine verfolgt, sieht der türkische Diktator Erdogan die Chance auf einen neuen Einmarsch in Syrien. Hier in den selbstverwalteten Gebieten Nordost-Syriens laufen die Verteidigungsvorbereitungen auf Hochtouren. Und die Linke in Deutschland?

Mit einem Lappen wische ich das letzte Körnchen Staub von meinem Maschinengewehr. Blitzblank ist es nun, bereit, um die Menschen hier gegen einen erneuten Angriffskrieg Erdogans und seiner jihadistischen Banden zu verteidigen. Später sitze ich bei kurdischen Revolutionsliedern mit meinen Genossen von unserer internationalistischen Einheit am Feuer. Wir alle denken an die nächsten Tage. Ich weiß, dass er kommen wird, der Angriff. Erdogan braucht den Krieg. Er hat die Türkei in den letzten Jahren in eine tiefe ökonomische Krise getrieben und versucht nun mit seinem Krieg gegen Rojava davon abzulenken. Im Anschluss will er vorgezogene Wahlen abhalten und hofft durch den militärischen Sieg doch noch, an der Macht zu bleiben.

Vor knapp zehn Jahren entfaltete sich in Rojava eine Revolution auf Basis von Frauenbefreiung, Ökologie und Demokratie. Eine Region, in der heute Kurd*innen und Araber*innen mit allen anderen Völkern friedlich zusammenleben. Mit ihrem Modell der Selbstverwaltung durch Räte stellt die Revolution eine enorme Hoffnung für die Völker der Region, aber auch weltweit dar. Das war der Grund, warum ich mich vor mehren Jahren auf den Weg gemacht habe, mit den Menschen hier diese Errungenschaften zu verteidigen. Ich bin fest davon überzeugt, dass nur ein System, in dem die vielen verschiedenen Völker gleichberechtigt zusammenleben und in dem Frauenbefreiung eine zentrale Säule darstellt, in dieser Region eine positive Veränderung bringen kann. Während die Kriegsrhetorik Erdogans jeden Tag lauter wird, treffen wir (YPG-Kämpfer*innen) alle nötigen Vorbereitungen für einen neuen Angriffskrieg durch die Türkei. Erdogan betreibt eine Art Kuhhandel: Für den Beitritt Schwedens und Finnlands in die NATO, fordert er grünes Licht für seinen Angriffskrieg.

Ich weiß, was auf dem Spiel steht. Die letzten Angriffskriege der Türkei gegen Nordost-Syrien 2016, 2018 und 2019 haben nicht nur viel Tod und Vertreibung gebracht, in den besetzten Gebieten wird bis heute täglich von Gräueltaten, durch die von der Türkei unterstützen Jihadisten berichtet. Viele von ihnen sind ehemalige IS oder Al-Nusra Kämpfer. Deswegen ist es auch keine Überraschung, dass die letzten beiden Anführer des IS sich dort versteckt hatten. Ich fühle auch die Verantwortung. Ich schätze mich glücklich, Teil dieser Revolution sein zu dürfen. Das heißt aber auch, dass ich für geselschaftlichen Wandel bereit bin, Verantwortung zu übernehmen. Eigene Schwächen zu überwinden. Und mit fester Überzeugung für die Werte Rojavas zu kämpfen. Ein gesellschaftlicher Aufbruch, der Menschen weltweit Hoffnung gibt, dass ein anderes Leben möglich ist. Doch dieser Angriff, so die türkische Propaganda, soll über die gesamte Grenzlänge einen 30 km tiefe Zone besetzen. Das wäre das Ende Rojavas.

Ich frage mich, was die Linke in Deutschland machen wird? Während auf die letzten beiden Angriffskriege mit ein paar kleineren Demonstrationen und Aktionen reagiert wurde, konnte sie den Krieg nicht verhindern. Jetzt aber geht es um die Frage des Fortbestehens der Revolution. Um Sein oder Nicht-Sein. Eine internationalistische Revolution muss international verteidigt werden. Daher kann ich in diesem Moment, kurz vor dem Sturm, nur an alle appellieren, sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden. Was werdet ihr im Falle einer Niederlage dieses einmaligen gesellschaftlichen Aufbruchs hier, der zukünftigen Generation erzählen?

Und wenn sich viele fragen, was sie eigentlich Rojava interessieren soll? Liegt doch in Syrien. Ist weit weg. Dann kann ich nur antworten: Rojava zeigt allen von uns, dass eine andere Welt möglich ist. Schon allein die Hoffnung, die von der Existenz dieser Revolution ausgeht, gibt Menschen weltweit enorme Kraft und Stärke.

Ich habe mir geschworen, dem Faschismus keinen Fußbreit kampflos zu überlassen. Weder dem deutschen, dem türkischen, noch dem des IS. Mir ist aber auch klar, dass wir ihn nur gemeinsam besiegen können. Ich schultere meine Waffe, um mich dann an den Ort zu begeben, an dem ich in den kommenden Tagen den Vormarsch des Feindes erwarten werde. Dabei frage ich mich, was wirst du machen, wenn der türkische Einmarsch gegen Rojava beginnt?

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Die Türkei führt – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – ihren Krieg gegen die kurdische Befreiungsbewegung nicht nur an der irakisch-türkischen Grenze weiter. Sie setzt dabei neben der Luftwaffe und Bodentruppen mittlerweile auch immer häufiger international geächtete Waffen wie Giftgas ein. Doch die Guerilla und die Bevölkerung leisten weiterhin Widerstand – mit Erfolg. Wir haben mit Şoreş Ronahî, Mitglied der Revolutionären Jugendbewegung Syriens und der Internationalistischen Kommune in Rojava (Teil der Kampagne Riseup4Rojava) über die aktuelle Lage gesprochen.

Du bist ja derzeit in Rojava, im Norden Syriens, und dort politisch aktiv. Wie ist die Situation im Moment vor Ort nach deiner Einschätzung? Wir hören vermehrt von der konkreten Gefahr einer neuen Großoffensive der türkischen Armee gegen kurdische Gebiete in Syrien. Wie ist die Stimmung bei euch und wie bewertet ihr die aktuellen Entwicklungen in der Region?

Was auch immer passiert, das Leben geht hier natürlich weiter. Die Menschen hier haben sich daran gewöhnt unter Kriegsbedingungen und mit dem andauernden Embargo zu leben. Auch die Drohung mit neuen Angriffen gegen das befreite Rojava ist nichts neues, sondern immer wiederkehrende Realität. Das soll nicht heißen, dass wir das nicht ernst nehmen, doch Krieg und Widerstand sind hier nicht an einen “Tag X” gebunden. Der türkische Staat handelt in Zeiten, in denen er nicht mit einer großangelegten Offensive versucht Gebiete zu besetzen, nach einer Strategie des Krieges niedriger Intensität.

Sie töten unsere Genossi:nnen und auch Zivilist:innen täglich durch Luftschläge mit ihren Drohnen. Sie schneiden die Wasserversorgung Rojavas ab, versuchen für Probleme und Chaos zu sorgen, indem sie Agenten in die Region einschleusen, versuchen Kurd:innen und Araber:innen gegeneinander aufzuhetzen und verbreiten Lügen und Anti-Propaganda. Gleichzeitig hat der physische Krieg an den essentiellen Frontlinien nie aufgehört. Tagtäglich werden die Gebiete rund um Til Temir, Eyn Îsa, Minbic und Şehba bombardiert und natürlich leisten die Leute hier dagegen Widerstand und verteidigen sich aktiv.

Es geht auch nicht nur um Rojava, sondern wir müssen verstehen, dass die Kriege in den Bergen, in Rojava, in Nordkurdistan, usw. miteinander verbunden sind. Der türkische Staat ist ein faschistischer Staat, seine Regierung ist faschistisch. Sie haben ihre eigene Existenz auf Krieg und Völkermord aufgebaut und setzen diese ihre Existenzgrundlage heute auf gleiche Weise fort. Der Widerstand dagegen ist immer legitim und dieser Widerstand ist heute grenzübergreifend und im Interesse aller Völker der Region.

Die letzten Jahre waren geprägt von Krieg und Widerstand, sowohl hier in Rojava als auch überall anders in der Region. Seit Februar diesen Jahres versucht die türkische Armee verzweifelt in weitere Gebiete der von der Guerilla im Süden Kurdistans (Nordirak, d. Red.) kontrollierten Medya-Verteidigungsgebiete vorzudringen. So startete sie eine aufwändige Blitzoperation gegen die Gare-Region am 10. Februar mit Unterstützung der KDP (vom Barzani-Clan geführte, von der Türkei, Deutschland und den USA abhängige Kompradorenpartei in der Kurdischen Autonomieregion im Nordirak, d.Red.), musste sich jedoch nach 4 Tagen schwerer Gefechte geschlagen geben und unverrichteter Dinge abziehen.

Kurz darauf begann die nächste Großoffensive am 24.04. gegen die Regionen Metina, Zap und Avaşîn. Diese Operation unter dem Namen “Claw Lightning and Claw Thunderbolt” hält bis heute an. Erst vor ein paar Tagen veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte HPG eine Bilanz der letzten sechs Monate. Daraus geht hervor, dass die türkische Armee trotz allen Aufwands, modernster Technik, unablässiger Luftüberwachung, flächendeckender Bombardements, dem Einsatz tausender Soldaten und der hinterhältigen Unterstützung durch die KDP und Roj-Peşmergas (Von der Türkei ausgebildete KDP-nahe Milizen, d.Red.) schwere Rückschläge einzustecken hatte und keine großen Gebietsgewinne für sich verzeichnen kann.

Besonders in den Gebieten Zendura, Mamreşo, Girê Sor und Werxelê leistete die Guerilla einen historischen und kompromisslosen Widerstand, der weiterhin anhält. Die einzige Lösung, welche der türkische Staat für sich dabei zu sehen scheint ist der massive Einsatz von chemischen Waffen. Laut der sechsmonatigen Bilanz der Volksverteidigungskräfte HPG setzte die türkische Armee innerhalb dieses Zeitraumes 323 mal verschiedene Arten von Chemiewaffen und Giftgas ein.

Wir wissen alle, dass das ein international anerkanntes Verbrechen ist, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, doch wirklich zu kümmern scheint das niemand. Nun sieht es so aus, dass die türkische Armee in den Bergen an ihre Grenzen gestoßen ist. Gleichzeitig geht es der Erdoğan-Regierung alles andere als gut. Laut Umfragen würde ihr Regierungsbündnis nicht einmal annähernd in die Nähe einer Mehrheit kommen bei kommenden Wahlen. Die Wirtschaft steckt in der Krise, den Menschen in der Türkei geht es nicht gut und sie sind unzufrieden. Der Staat versucht jetzt, wie immer, die Probleme einfach unsichtbar zu machen, indem die Kriegspolitik weiter angeheizt wird. Für das AKP-MHP-Regime sind die Menschen im eigenen Land nichts wert, sie haben alles und jeden dem Ziel untergestellt den Widerstand des kurdischen Volkes zu brechen und die Freiheitsbewegung militärisch zu vernichten. Die gesamte Innen- und Außenpolitik des türkischen Staates ist darauf ausgerichtet und auch die Wirtschaftskrise selbst rührt eben genau daher. Als diesen Sommer Wälder in der Türkei brannten, da bemühten sie sich sehr darum die kurdische Freiheitsbewegung dafür verantwortlich zu erklären, doch auch mit diesen dreckigen Spielchen konnten sie nicht davon ablenken, dass die Unfähigkeit zur Bekämpfung der Brände vor allem daher rührte, dass Investitionen zum Großteil ins Militär, Kriegstechnologie und Waffen gesteckt werden, während es dann z.B. an notwendig ausgerüsteter Feuerwehr mangelt.

Interessant ist auch, dass die türkische faschistische Regierung seit Jahren alles tut, um die HDP zu isolieren, ihre Verankerung in der Bevölkerung zu brechen und sie somit in die Bedeutungslosigkeit zu schicken. Doch Massenverhaftungen, drakonische Strafen für quasi nichts und wieder nichts, Folter, Mord und Verfolgung haben nichts dergleichen erreichen können und die Unterstützung der Bevölkerung für die HDP ist ungebrochen. Das Erdoğan-Regime erhofft sich nun durch eine Fortsetzung ihrer vorherigen Invasionen in Nordsyrien/Rojava ein Deckel auf die eigenen Problem packen zu können und einen lang ersehnten Erfolg für sich verbuchen zu können, welchen sie weder in den Bergen militärisch noch gesellschaftlich und politisch im eigenen Land erreichen konnten.

Natürlich spielen noch viele andere Faktoren eine Rolle. Die weitere Besatzung eines Gebietes in Rojava, nach der Besatzung von Efrîn und Serêkaniyê, wäre ein schwerer Schlag gegen die Revolution, von dem sich Rojava nur noch schwer erholen würde. Dessen ist sich der türkische Staat bewusst und auch die internationalen, imperialistischen Kräfte, die in der Region aktiv sind, sprich USA und Russland, wissen das und versuchen dementsprechend für ihre eigenen Interessen Druck aufzubauen. Die Türkei selber versucht für sich die notwendige politisch-diplomatische Grundlage zu schaffen, um grünes Licht für eine neue Invasion zu bekommen. Ob sie dieses grüne Licht bereits bekommen hat von einer der genannten Großmächte und ob sie vielleicht schon morgen mit der nächsten Offensive anfangen wird, das wissen wir nicht. Doch hier sind sich alle dessen bewusst, dass eine solche Situation nicht unwahrscheinlich ist und wir uns deshalb alle auf den Widerstand vorbereiten müssen. Die Stimmung ist aber nicht negativ, ganz im Gegenteil. Das ist die Realität hier: Ohne Krieg und Widerstand hätte sich die Revolution bis heute nicht halten können und da Gewalt die einzige Sprache ist, die der Faschismus versteht, müssen wir ihm mit aller uns zur Verfügung stehenden Gewalt gegenübertreten. Wir sind zuversichtlich, dass wir erfolgreich Widerstand leisten werden. Natürlich gibt es auch viel Wut, Frust und Hass der Türkei und der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber. Wenn es anders gehen würde und allein mit Worten ein würdevolles Leben erkämpft werden könnte, dann würde hier niemand zur Waffe greifen. Da die Realität jedoch anders aussieht, sind die Menschen hier dazu bereit die Waffe in die Hand zu nehmen um die eigene Würde zu verteidigen.

In den kurdischen Nachrichten wird insbesondere von Til Refat und Kobane als möglicher Zielorte einer neuen Invasion gesprochen. Wie schätzt ihr vor Ort ein, wo und wann es eskalieren wird?

Das ist schwer zu sagen und es wäre falsch anzunehmen eine hundertprozentige Vorhersage treffen zu können. Nichtsdestotrotz zeichnen sich einige mögliche Szenarien ab und türkische staatsnahe Medien sprechen selber von diesen Szenarien. Wie du selber gerade gesagt hast, stehen die Regionen Til Refat, also Şehba im Norden Allepos und Südosten Efrîns, Kobanê und Minbic zur Zeit im Vordergrund. Alle diese drei Regionen sind der Türkei seit Jahren ein Dorn im Auge. Ein weiteres mögliches Szenario wäre eine Operation in der Region Dêrik im nordöstlichen Länderdreieck Rojavas. Dies ist ein weiteres strategisches Ziel für den türkischen Staat, da dort die Verbindung Rojavas nach Südkurdistan besteht, desweiteren könnte eine für den türkischen Staat erfolgreiche Besatzung der Region Dêrik den direkten Landweg für den türkischen Staat nach Şengal öffnen.

Eine andere Möglichkeit ist auch die Fortsetzung einer Offensive an den bestehenden Frontlinien in Eyn Îsa, Til Temir und Zirgan. Es kann auch sein, dass mehrere dieser Szenarien zur selben Zeit versucht werden. Wie auch immer, die Rhetorik des türkischen Staates ähnelt sehr der Rhetorik im Vorlauf zum Krieg in Efrîn und später in Serêkaniyê. Truppenbewegungen an den Grenzen finden vermehrt statt, die islamistischen Banden der SNA werden mobilisiert und offensichtlich versucht die Türkei, die notwendige internationale Unterstützung für sich zu sichern. Ob es morgen anfängt oder in einem Monat ist weniger wichtig, wichtig ist, dass wir alle darauf vorbereitet sind, sowohl hier vor Ort als auch international, um Widerstand zu leisten und den türkischen Faschismus zu zerschlagen.

Als Kampagne RiseUp4Rojava, was ist eure Antwort auf die aktuellen Entwicklungen und wie wird eure Antwort aussehen, sollte es zu einer neuen Bodenoffensive gegen die Autonome Selbstverwaltung in Nordost-Syrien (AANES) kommen?

Als Kampagne RiseUp4Rojava existieren wir ja bereits seit Frühjahr 2019 und insbesondere zur Zeit des Krieges in Serêkaniyê und Girê Spî waren wir dazu in der Lage, gemeinsam mit anderen Initiativen weltweit hunderttausende Menschen auf die Straße zu bringen und ernsthaften Druck von unten aufzubauen. Seither versuchen wir eine Kontinuität in unserer Arbeit gegen den türkischen Faschismus zu gewährleisten und auf dieser Grundlage fanden über die letzten 2 Jahre zahlreiche Aktionstage zur Unterstützung der Revolution in Rojava und dem Widerstand gegen die türkische Aggression, als auch gegen die internationalen Profiteure vom Krieg und Kollaborateure mit dem Faschismus statt. Wir versuchen durch unsere Website als auch soziale Medien über die Situation vor Ort zu informieren, die internationalen Helfer der Türkei aufzudecken, unsere Position zu verbreiten und gegen den türkischen Faschismus zu mobilisieren.

Kampagnenintern haben wir diskutiert, dass wir bei einer erneuten Offensive der Türkei nicht direkt von einem “Tag X” sprechen können, denn der Krieg ist jeden Tag, auch wenn er in den Mainstreammedien meistens nicht sichtbar ist. Gleichzeitig können auch wir uns nicht komplett der Dynamik eines solchen “Tag X” entziehen. Im Falle einer neuen Offensive rufen wir alle auf unserem Aufruf zu folgen und den Protest direkt vor die Türen der internationalen Vertretungen des türkischen Staates zu tragen. Gleichzeitig geht es uns nicht um eine einzige Aktion oder einen Tag. Wir werden kontinuierlich weiter mobilisieren und mit unseren Initiativen versuchen den türkischen Staat und alle Institutionen, die ihn unterstützen zu blockieren, zu stören und zu besetzen.

Unabhängig davon bereiten wir auch im Moment neue internationale Aktionstage für das Wochende vom 26. bis 28. November vor. Der Slogan lautet “Smash Turkish Fascism – Stand with the Guerrilla!”. Unter unserem Motto “Block! Disturb! Occupy!” rufen wir auch hierzu alle auf aktiv zu werden und auf die Straße zu gehen.

Die Aktionstage vom 26.-28. November, von denen du sprichst, wie werden die konkret aussehen und wie können sich Gruppen und Menschen außerhalb eurer Kampagne daran beteiligen?

Der Aufruf zu den Aktionstagen wird in den kommenden Tagen veröffentlicht werden. Unsere zentralen Ziele sind erstens, den Vertrieb von Olivenöl aus dem besetzten Efrin anzugreifen, an dem sich einige eine goldene Nase auf Kosten des Leidens der Bevölkerung von Efrin verdienen. Zweitens, die Waffenindustrie, welche weiterhin für die türkische Kriegsmaschinerie produziert. Drittens, die Kollaborateure in Politik und Diplomatie, welche weiterhin mit Erdogan liebäugeln und dem türkischen Faschismus Grund und Boden für seine Vernichtungspolitik liefern. Gleichzeitig wollen wir den Widerstand der Guerrilla unterstützen und den Gebrauch von Chemiewaffen durch den türkischen Staat verurteilen. Der 27.11. stellt auch den 43. Jahrestag der Gründung der PKK dar. Wir erklären uns solidarisch mit dem Kampf der PKK, gratulieren ihr zum Geburtstag und sagen klar und deutlich, dass die Kriminellen hier nicht die Kämpfer:innen der PKK sind, sondern diejenigen, die Kurdistan besetzt halten und ausbeuten.

An den Aktionstagen können alle teilnehmen, die wollen. Es wird in einigen Städten sicherlich auch zentrale Veranstaltungen geben, aber darüber hinaus wollen wir, dass alle dezentral selbst aktiv und kreativ werden.

#Bildquelle: ANF

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Das Ende des unipolaren Menschenrechtsimperialismus während der Trump-Ära.

Es wäre falsch, in schlechter bürgerlicher Tradition dem scheidenden US-Präsidenten vorzuwerfen, während seiner Amtszeit nichts Nennenswertes erreicht zu haben – selbst wandelnde Katastrophen wie Trump vollbringen zwangsläufig in vier Präsidentschaftsjahren einiges. Neben dem beschleunigten Ruinieren des Klimas und vieler lokaler Ökosysteme, der emsigen Förderung faschistischer Gruppierungen, sowie der Entfesselung der mit Abstand größten Pandemiewelle in den USA seit der Spanischen Grippe, kann der Rechtspopulist auch auf handfeste außenpolitische “Erfolge” zurückblicken.

Anfang Mai 2017 kündigte Trumps damaliger Außenminister Rex Tillerson an, es künftig mit den bürgerlichen Menschenrechten nicht mehr so genau nehmen zu wollen, die immer wieder als Legitimation für US-Interventionen dienten. Tillerson degradierte dabei Menschenrechte zu “Werten” der Vereinigten Staaten, die sich zunehmend zu “Hürden” bei der globalen Verfolgung von US-Interessen entwickelten. “Dies sind unsere Werte. Aber sie sind nicht unsere Politik”, so der damalige Spitzendiplomat. Tillerson brachte somit schon 2017 die kommende außenpolitische Praxis Trumps – der sich in Gesellschaft von Diktatoren und Despoten wie Erdogan wohlfühlte – auf den Punkt.

Am Ende seiner Amtszeit kann konstatiert werden, dass diesem außenpolitischen Kurs Trumps ein durchschlagender Erfolg beschieden war. Menschenrechte spielen in der Legitimierung von Geo- und Außenpolitik kaum noch eine Rolle. Interventionen und Kriege, wie etwa die US-Invasion des Irak, die zuvor standardmäßig mit Demokratiedurchsetzung und Menschenrechten begründet wurden, gehören der Vergangenheit an. Seit dem Ende des Kalten Krieges bildete das propagandistische Repertoire des Menschenrechtsimperialismus die Begleitmusik westlicher Interventionen insbesondere in Bürgerkriegs- oder Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes: in Kosovo, Somalia, Afghanistan oder eben dem Irak.

Nun werden Kriege zumeist ohne diese pseudodemokratische Rhetorik geführt; oder sie ist dermaßen durchsichtig, dass sie kontraproduktiv ist – das nackte imperialistische Interesse tritt unverhüllt hervor. Eine Karikatur dessen lieferte ja gerade Trump selber, der trotz des strategischen Rückzugs, den er in vielen Weltregionen einleitete, punktuell durchaus militärisch intervenierte. Das Aufrechterhalten einer US-Präsenz in Nordostsyrien wurde etwa vom US-Präsidenten ausdrücklich mit der Ausbeutung der dortigen Ölquellen begründet, obwohl dies kaum praktikabel ist und diese im regionalen Vergleich unbedeutend sind.

Ungeschminkter Imperialismus wurde von Trump – der Amerika “wieder groß machen” wollte – zur Staatsräson erhoben, während dieser faktisch als Totengräber der US-Hegemonie agierte. Die kolossal gescheiterte Strategie des scheidenden US-Präsidenten bestand darin, durch Protektionismus und Wirtschaftsnationalismus eine Reindustrialisierung der Vereinigten Staaten einzuleiten, während die kostspielige Militärpräsenz der US-Army, die faktisch als Weltpolizist des Westens tätig war, zurückgefahren werden sollte, um ausschließlich dem nationalen imperialen Interesse Washingtons zu dienen. Gefolgschaft und Zugeständnisse der westlichen Bündnispartner wollte Trump durch einen selektiven Zugang zum US-Binnenmarkt im Rahmen von Handelsabkommen (gegenüber Berlin), sowie durch die buchstäbliche “Vermietung” der US-Militärmaschinerie als Schutzmacht sicherstellen (dies etwa in Polen, Südkorea). Die US-Hegemonie wandelte sich so zur bloßen, militärtechnisch grundierten Dominanz.

Die Abwicklung des Menschenrechtsimperialismus, von der Trump-Administration eingeleitet, wurde aber von den Mächten vollendet, die in das geopolitische Machtvakuum vorstießen, das Washington hinterließ. Für die Türkei, die in Konfrontation wie Kooperation mit Russland auf Expansionskurs ging, spielen solche Legitimationsmuster keine Rolle mehr. Erdogan ist beispielsweise in der Lage, den Krieg gegen Armenien in Bergkarabach unter verweis auf das Völkerrecht zu führen, und zeitgleich mit seiner Zweistaatenforderung in Zypern den Völkerrrechsbruch zu fordern. Die weitgehende Entsorgung des Völkerrechts ist gerade ein Merkmal des “multipolaren” Imperialismus nach dem Ende der US-Hegemonie, der Erinnerungen an die Hochzeit des klassischen Imperialismus im 19. Jahrhundert aufkommen lässt. Legal, illegal, scheißegal – dies scheint die Devise dieses neuen Machtstrebens zu sein, das kaum noch ideologisch verschleiert wird.

Im Nahen Osten, dem Mittelmeerraum und dem südlichen Kaukasus hat sich folglich ein in permanenten Wandel befindliches und äußerst instabiles Machtgeflecht herausgebildet, bei dem – neben den USA – unter anderem die Türkei, Russland, der Iran, Frankreich, die BRD oder auch Saudi-Arabien als imperialistische Akteure nach größtmöglichen Einfluss streben – koste es, was es wolle. Die Auseinandersetzungen und Stellvertreterkriege – in Libyen, im Jemen, in Syrien und im Südkaukasus – der beteiligten Staaten gehen mit gleichzeitiger Kooperation in anderen Regionen oder Bereichen einher, etwa dem Pipelinebau im Schwarzen Meer zwischen Moskau und Ankara. Ähnlich verhält es sich bei der Bündnisbildung, die im Wochenrhythmus wechseln kann. Die islamofaschistische Türkei hat ihre geopolitische Schaukelpolitik zwischen Moskau, Berlin und Washington perfektioniert, um im Rahmen rasch wechselnder geopolitischer Vorstöße ihren neo-onsmaischen Expansionskurs zu forcieren. Gegen Griechenland und die EU gerichtete Provokationen im östlichen Mittelmeer wechseln sich mit Kriegen im Südkaukasus, im Hinterhof Russlands, ab.

Zurück in die Vergangenheit?

Als ob das spätkapitalistische Weltsystem in seine eigene Vergangenheit zurückreiste, etablieren sich im frühen 21. Jahrhundert faktische Grenzverschiebungen, Kriegsabenteuer und ethnische Säuberungen ganzer Landstriche (in Rojava wie in Bergkarabach) zu einer massenmörderischen Praxis imperialistischer Politik, die nun von einer Vielzahl von Staaten betreiben wird, die alle nur ein unerreichbares Ziel haben: so zu werden, wie es die USA einstmals waren. Der Hegemon ist abgestiegen – und zugleich ist aufgrund der Systemkrise kein Nachfolger in Sicht, der über die Ressourcen verfügte, ihn zu beerben. Dies versetzt die krisengebeutelte One World des Kapitals in einem permanenten Vorkriegszustand, bei dem die zunehmenden Spannungen und Kleinkriege jederzeit in eine Katastrophe eines Großkrieges umschlagen können (etwa zwischen den USA und China in Südostasien).

Pack schlägt sich, Pack verträgt sich – diese alte imperialistische Konstante lässt sich nicht nur in Nahost, sondern auch beim Kampf um die Ressourcen Afrikas im frühen 21. Jahrhundert beobachten. Eine ganze Reihe von Akteuren, mitunter Schwellenländer umfassend, ist seit Jahren bemüht, in Konkurrenz mit den alten europäischen Mächten den jeweiligen Einfluss zu mehren. Die EU versucht etwa, die Staaten Afrikas durch Freihandelsverträge in einseitige Abhängigkeiten zu treiben, während die USA unter Trump ihr verstärktes Engagement auf dem geschundenen Kontinent ausdrücklich als ein Konkurrenzprojekt zu dem Expansionskurs Chinas und Russlands deklarierten.

Russland ist derzeit vor allem in Libyen und dem Sudan aktiv, ebenso die Türkei, die ihre alten imperialen Ambitionen in Ostafrika, im Sudan und Somalia, reanimieren will. China – im 19. Jahrhundert selber Objekt der Opiumkriege des britischen Imperialismus – unterhält inzwischen enge Beziehungen zu einer Vielzahl afrikanischer Länder, bei denen milliardenschwere Investitionen in Infrastruktur mit der Extraktion von Rohstoffen einhergehen. Auch Indien, Opfer des britischen “Late Victorian Holocaust”, ist auf dem afrikanischen Kontinent durch Kapitalexport präsent, etwa beim Land-Grabbing in Äthiopien.

Handelt es sich bei den geopolitischen Realitäten nach dem Zerfall der US-Hegemonie somit um ein bloßes Reenactment des 19. Jahrhunderts mit wechselnden Akteuren? Ein zentrales Merkmal des neuen imperialistischen “Great Game” macht klar, dass dem nicht so ist: der imperialistische Expansionsdrang geht mit Abschottungsbestrebungen einher. Kaum ein Staatschef verkörpert diese seit längerem bestehenden Tendenzen zum großen Mauerbau in den Zentren stärker als Donald Trump, wobei die diesbezügliche mörderische Abschottungspraxis in den USA und der EU sich kaum unterscheidet.

Imperialistische Politik im frühen 21. Jahrhundert zielt somit nicht nur auf Ressourcenraub in der Peripherie ab, sie ist zugleich bemüht, die Abschottung der Zentren gegenüber den Massen ökonomisch überflüssiger Menschen in der Peripherie zu perfektionieren – etwa bei der Finanzierung und dem Umdeklarieren libyscher Milizen zu “Grenzschutzkräften” durch die EU. Flüchtlinge aus den ökonomisch abgehängten und durch Entstaatlichungskriege verwüsteten Zusammenbruchsgebieten des Weltmarkts werden überdies als geopolitische Waffe eingesetzt. Diese Taktik hat der türkische Islamofaschismus gegenüber der EU zur Anwendung gebracht, um ökonomische und politische Konzessionen von Berlin zu erpressen. Die Intervention der Türkei in Libyen zielte nicht nur auf die Kontrolle der dortigen Energieträger und die Annektion libyscher Seegebiete im Rahmen eines “Vertrags” mit islamistischen Milizen ab, sondern auch auf die Kontrolle der entsprechenden Fluchtrouten, um so einen weiteren Hebel bei Machtkämpfen mit Brüssel zu erlangen.

Expansion und Abschottung

Demgegenüber fehlt ein weiteres Moment des “klassischen” Imperialismus nahezu vollkommen: die massenhafte Ausbeutung der Lohnabhängigen des globalen Südens. Es reicht, sich beispielsweise in Erinnerung zu rufen, dass Europas historische Expansion auch durch den Hunger nach Arbeitskräften getrieben war, die durch Sklavenarbeit in den Plantagen der “Neuen Welt” ausgebeutet werden konnten. Die Blutspur dieser Ausbeutung von Arbeitskräften reicht vom Genozid an den Ureinwohnern Amerikas, über den berüchtigten “atlantischen Dreieckshandel” mit afrikanischen Sklaven in der frühen Neuzeit, bis zur mörderischen Auspressung des Kongos durch die Belgier, die Afrikanern massenhaft die Hände abhacken ließen, wenn diese die vorgegebenen Arbeitsnormen nicht erfüllten. Der belgische König Leopold II. reagierte auf entsprechende Anschuldigungen in der Presse empört: „Hände abhacken, das ist idiotisch! Ich würde eher alles übrige abschneiden, aber doch nicht die Hände. Genau die brauche ich doch im Kongo!“

Niemand würde heutzutage auf die Idee kommen, dass die neoimperialistischen Interventionen der vergangenen Dekaden ausgerechnet deswegen unternommen wurden, um die „Hände“ der einheimischen Bevölkerung zur Sklavenarbeit zwingen zu können. Der Charakter des Imperialismus in der historischen Krisenphase des Kapitals unterscheidet sich somit tatsächlich grundlegend vom Imperialismus in der Expansions- und Aufstiegsphase des kapitalistischen Weltsystems. Die Ausbeutung von Arbeitskräften des globalen Südens ist im Spätkapitalismus in ihr Gegenteil umgeschlagen – in die Exklusion von Arbeitskräften. Dies vollzieht sich einerseits marktvermittelt durch die zunehmenden Produktivitätsungleichgewichte zwischen Zentren und Peripherie, durch Agrarsubventionen und durch erpresserische Freihandelsverträge, die Kleingewerbe und bäuerliche Agrarstrukturen in der Peripherie zerstören. Die EU und die USA “produzieren” faktisch die Fluchtbewegungen, die von der Neuen Rechten in beiden Regionen dann verteufelt werden.

Aber auch die direkten Kapitalinvestitionen in der Peripherie, etwa in exportorientierte Agrarprojekte, führen oftmals schlicht zu Land Grabbing und zur Enteignung der lokalen Bevölkerung, wobei der niedrige Arbeitskräftebedarf auf den effizient aufgebauten Plantagen eine breite Transformation der vertriebenen Bevölkerung in Lohnarbeiter unmöglich macht. Überlides werden viele strategisch wichtige Rohstoffe in den ökonomischen Zusammenbruchsgebieten des Weltmarktes – etwa im Kongo – unter brutalsten und archaisch anmutenden Bedingungen von Milizen und sonstigen postsaatlichen Rackets gefördert, um dann durch eine Kette von Zwischenhändlern und Zuliefern ihren Weg auf den Weltmarkt und in die Hightech-Geräte der globalen Mittelklasse zu finden. (Einschränkend ließe sich aber durchaus diskutieren, inwiefern die umfassenden chinesischen Kapitalexporte in Afrika dem Kontinent eine objektive Entwicklungschance innerhalb der engen systemischen Zwänge bieten, da die Volksrepublik inzwischen zum größten Investor Afrikas avancierte, der auch wichtige Infrastrukturprojekte finanziert.)

Von den Charakteristika des “klassischen” Imperialismus ist beim gegenwärtigen Krisenimperialismus vor allem das Bemühen um Kontrolle der Energieträger und Ressourcen der Peripherie übrig geblieben. Diese imperialistischen Tendenzen, bei denen Expansion mit Abschottung einhergeht, lassen sich nur dann vollauf begreifen, wenn imperialistische Praxis mit dem historischen Krisenprozess des kapitalistischen Weltsystems in Zusammenhang gebracht wird.

Die einzelnen Staatssubjekte versuchen nach dem partiellen Rückzug der USA, in alter imperialistischer Manier ihre Machtmittel zu mehren. Neben dieser “subjektiven” Ebene, auf der die einzelnen geopolitischen Subjekte agieren, muss aber die “objektive” Ebene berücksichtigt werden, auf der sich die Krise des Kapitals entfaltet und den geopolitischen Akteuren in Form zunehmender innerer Widersprüche und “Sachzwänge” gegenübertritt. Die Charakteristika des Krisenimperialismus ergeben sich somit aus der Wechselwirkung zwischen den geopolitischen Subjekten und dem objektiven Krisenprozess, der sich hinter dem Rücken der Subjekte entfaltet. Auch die mächtigsten “Imperialisten” agieren als Getriebene der eskalierenden inneren Widersprüche des Kapitalverhältnisses.

Hieraus entspringt die für den Krisenimperialismus charakteristische Form der “negativen” Krisenkonkurrenz, in der die Großmächte ihre eigene Stellung im erodierenden Weltsystem nur noch auf Kosten des Abstiegs anderer Konkurrenten vorübergehend halten können (was ja auch die zunehmende Konkurrenz zwischen der EU und den USA erklärt). Der gegen die Peripherie gerichtete Ausgrenzungsimperialismus geht mit dieser Ausscheidungskonkurrenz – eine Art geopolitischen Kampf auf der Titanic – innerhalb der erodierenden Zentren einher. Gerade deswegen wächst die Gefahr eines Großkrieges im 21. Jahrhundert.

Die zunehmenden inneren Widersprüche sollen hierbei durch äußere Expansion überbrückt werden, wie es ja auch im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges der Fall war – mit dem Unterschied, dass nun das vom Spätkapitalismus akkumulierte Vernichtungspotential der menschlichen Zivilisation, ja der Gattung Mensch jederzeit ein Ende bereiten könnte. Der Expansionskurs der Türkei im allgemeinen, wie auch die von Ankara unterstützte Aggression Aserbaidschans gegen Armenien, bilden aktuelle Beispiele für diese imperialistische Krisentendenz (Kurz vor dem Angriff auf Berg Karabach bedrohten zunehmende soziale Unruhen die Macht Alijews).

Krise und die neue imperialistische Erhlichkeit

Die Krise sitzt somit allen spätkapitalistischen Staatsmonstern im Nacken – und sie versuchen im Rahmen ihrer Möglichkeiten, durch diverse Formen der politischen oder ökonomischen Expansion, mitunter durch blanke militärische Aggression, die Krisenfolgen auf andere Staatssubjekte abzuwälzen. Trump selber ist ja gerade ein politisches Symptom dieser Krise – er kam 2016 hauptsächlich durch die Stimmen der abgehängten weißen Arbeiterklasse aus dem ehemals demokratischen “Rostgürtel” der USA an die Macht.

Aus diesem Krisenprozess resultieren folglich die Tendenzen zur Barbarisierung imperialistischer Praxis, deren Symptom der Eingangs geschilderte Abschied des Westens vom Menschenrechtsimperialismus ist. Die Bereitschaft, sich bei der Rechtfertigung imperialer Aggression nicht mehr auf Menschenrechte und Völkerrecht zu berufen, somit Ideologie über Bord zu werfen, verweist zuallererst auf die Gesellschaften des Zentrums selber.

Dieser Menschenrechts-Diskurs war ja praktisch ein Überbleibsel des Kalten Krieges, als der Staatssozialismus der imperialistischen Gewaltanwendung des Westens in der Peripherie doch gewisse Grenzen setzte. Der Menschenrechtsdiskurs nach dem ende der Systemkonkurrenz wies aber einen ambivalenten Charakter auf. Menschenrechte fungierten auf geopolitischer Ebene einerseits als Ideologie. Sie dienten dazu, ein falsches Bewusstsein zu schaffen, mit dem Kriege gerechtfertigt werden konnten. Anderseits waren sie – auch in ihrer kapitalistisch verkürzten, um jede soziale Dimension beraubten Form – weiterhin gesellschaftlich wirksam.

Dies war vor allem deswegen der Fall, weil es in den Zentren des Weltsystems noch eine breite Mittelschicht gab, die diese bürgerlichen Werte – wenn auch unvollkommen – verwirklicht sah und an ihren universellen Anspruch glaubte. Es gab folglich eine gesellschaftliche Nachfrage nach der Verklärung der brutalen kapitalistischen Realität in der zunehmend zerfallenden Peripherie des Weltsystems. Dies ist – gerade in den USA – nicht mehr der Fall. Die breite amerikanische Mittelschicht, in der noch ein massenhafter Bedarf nach einem menschenrechtspolitischen “Weichzeichner” der imperialen Realität herrschte, befindet sich seit dem Krisenschub von 2008 in Auflösung. Folglich zerfällt auch der ideologische Schleier, der diese Phase des “Mittelklassekapitalismus” kennzeichnete.

Die zunehmende Härte des alltäglichen Existenzkampfes im Spätkapitalismus lässt somit die menschenrechtspolitische Legitimierung von Ausbeutung, Marginalisierung und Unterdrückung auch auf geopolitischer Ebene als unnötigen Ballast erscheinen. Illusionen über den barbarischen Zustand des Spätkapitalismus will man sich nicht mehr leisten. Die imperialistische Logik – zuvor noch durch die übliche Freiheitsrhetorik maskiert – wurde von Trump Außenminister direkt, in aller Brutalität formuliert: Amerika soll wieder groß werden, gerade durch die rücksichtslose Vertretung des nationalen Interesses. Dies ist letztendlich das Angebot des Imperialismus an die erodierende und krisenbedingt angstschwitzende Mittelklasse: Ihr Reproduktionsniveau soll auf Kosten der Konkurrenz, der Peripherie gehalten werden. Und es ist eben diese barbarische Leistung der Trump-Administration, auf der seine Nachfolger aufbauen können.

Der von regressiven Antiimps aller Couleur innigst gehasste Adorno bemerkte schon auf dem Höhepunkt des fordistischen Nachkriegsbooms hellsichtig, dass es sich bei Ideologie letztendlich um ein Luxusgut handelt: “Zur Ideologie im eigentlichen Sinn bedarf es sich selbst undurchsichtiger, vermittelter und insofern auch gemilderter Machtverhältnisse.” Die “gemilderten” Machtverhältnisse weichen aber für immer größere Teile der Bevölkerung der Zentren dem offenen Terror der amoklaufenden Ökonomie. Die offene Verelendung und die offene Gewalt machen Ideologie überflüssig. Insofern kommt der Abschied von der “gemilderten” Form des Menschenrechtsimperialismus einem weiteren Abstieg in die offene Barbarei gleich. Nicht die imperialistische Politik wurde von Trump aufgegeben, sondern deren “Maskierung” in Menschenrechtsrhetorik. Seine Anhängerschaft, die diese Haltung als “Ehrlichkeit” und “Geradlinigkeit” bewundert, geht somit in offene Bejahung des Imperialismus über, der ohne jedwede Legitimierung auskommt.

Es ist der Tod der Ideologie, der sich in den USA als den avanciertesten Metropolenstaat andeutet (und den der Rest der Welt mit der üblichen Verzögerung nachvollziehen wird). Die Herrschaftsverhältnisse treten ungeschminkt hervor, ohne Legitimierung. Die Welt ist ein Höllenloch. Es ist, wie es ist. Und wir wollten herrschen – auf diesen Nenner lässt sich diese durch Trump vollführte Kehrtwende, die seinem geopolitischen Erbe entspricht, bringen.

#Titelbild: Töten und Sterben fürs Kapital – US-Soldaten während einer Luftlandeübung in Deutschland The U.S. Army/CC BY 2.0

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Zum internationalen Frauenkampftag am 8. März, besuchen wir einen für den Befreiungskampf der Frauen in Syrien zentralen Ort: das Frauenzentrum „Mala Jin“, wörtlich das Haus der Frauen, in Qamişlo. Dies ist das erste Frauenzentrum, von denen es heute 72 in ganz Syrien gibt. Wir sprachen mit der Gründerin des Projektes, Ilham Umer, die auch die Leiterin aller Frauenzentren im nordsyrischen Kanton Cizîrê ist, und ihrer Kollegin Hanifa Muhammad, die im Dada Jinê, der Frauenkommission an den Gerichten, arbeitet.

Angesichts der Schwierigkeiten, mit denen viele Frauen im täglichen Leben konfrontiert sind, und den vielen Fälle von häuslicher Gewalt gründete Umer 2011 das Projekt der „Malên Jinê“, der Häuser der Frauen mit dem Ziel, einen Ort zu schaffen, an denen Frauen sich von Frauen beraten lassen und rechtlichen Beistand bekommen können. Die Probleme, mit denen sich Frauen an Ilham Umer und ihre Kolleginnen wenden, betreffen häufig Themen wie physische und psychische Gewalt, Unterdrückung, Verweigerung des Zugangs zu Bildung oder Gesundheit, oder Probleme innerhalb der Ehe oder mit Familienangehörigen. Zunächst wird versucht, durch Mediation eine Lösung zu finden. Wenn dies nicht möglich ist oder es sich um schwere Rechtsverletzungen handelt, wird der Fall an vor ein Gericht gebracht. Bei Androhung von Gewalt oder Mord werden Asayişa Jin (weibliche Sicherheitskräfte) hinzugezogen.

Ilham Umer, erzählen Sie uns wie alles angefangen hat!

Ilham Umer: Das erste Mala Jin haben wir 2011 in Qamislo eröffnet. Es folgten weitere Mala Jin in den Regionen Jazira, Efrîn und Kobanê. Heute gibt es 72 Frauenzenten in ganz Syrien. Unser Ziel ist es, allen Frauen zu helfen, unabhängig davon, ob sie kurdischer, arabischer, assyrischer oder jezidischer Abstammung sind. Auf dieser Grundlage eröffneten wir die Häuser nach und nach in den vom IS befreiten Regionen: Raqqa, Tabqa, Deir ez-Zor, Manbiç. Diese Arbeit begann noch bevor 2014 die „Frauengesetze“ (Gesetze, die die Rechte der Frau festhalten, Anm. d. Aut.) herauskamen und unserer Arbeit eine rechtliche Grundlage boten.

Wie läuft eine Beratung im Mala Jin ab?

Ilham Umer: Wir hören uns als erstes die Geschichte der Frauen an und welche Art von Unterstützung sie sich von uns wünschen. Oft handelt es sich um Probleme innerhalb der Ehe, dann sprechen wir mit ihren Ehemännern oder weiteren Familienangehörigen. Wir versuchen gemeinsam eine Lösung für das Problem zu finden. Oft gelingt uns das mit Gesprächen. Wenn wir auf diesem Weg keine Lösung finden können oder wenn es sich um einen Gesetzesverstoß handelt, müssen wir den Fall vor das Gericht bringen. Unter diesen Umständen wird Dada Jinê, die Frauenkommission an den Gerichten, hinzugezogen.

Hanifa Muhammad, Sie arbeiten in der Frauenkommission an den Gerichten. Wie sieht Ihre Arbeit dort aus?

Hanifa Muhammad: Wenn ein Fall vor Gericht behandelt wird, der in Zusammenhang mit den Frauengesetzen steht, wird die Frauenkommission hinzugezogen. Wir haben verschiedene Aufgaben: einerseits die Koordination der Prozesse am Gericht und die Mediation zwischen den verschiedenen Einrichtungen wie den Malên Jinê, den Asais und dem Gericht. Andererseits beobachten und dokumentieren wir den Gerichtsprozess, um die Einhaltung der Frauengesetze sicherzustellen. Einmal im Monat kommen wir zusammen und schreiben einen Report. Dieser wird dann dem Ministerium für Frauenjustiz und Kongra Star (Vereinigung von Frauenorganisationen in Rojava, Anm. d. Aut.) vorgelegt.

Wie reagieren Männer auf Ihre Arbeit?

Ilham Umer: Anfangs gab es Mißtrauen und sogar Anfeindungen von Männern, die sich durch unsere Arbeit bedroht gefühlt haben. Mittlerweile kommen sogar viele Männer zu uns, um sich beraten zu lassen. Viele Männer ziehen es vor, ihre Probleme in den Malên Jinê zu lösen, anstatt vor Gericht zu gehen.

Gibt es Unterschiede in den Problemen, mit denen Frauen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu Ihnen kommen?

Hanifa Muhammad: Häufig spielt es keine Rolle, zu welcher Bevölkerungsgruppe die Frauen gehören, ihre Probleme sind sich sehr ähnlich. Generell haben arabische Frauen mehr mit dem Druck von Familien- und Stammestraditionen zu kämpfen. Ein anderes Beispiel ist die Scheidung. Scheidung ist legal in Syrien und wir sezten uns für Scheidungen ein, wenn sie von beiden Parteien gewünscht wird. Anders als bei Muslimen muss bei Christen das Kirchenoberhaupt die Einwilligung zur Scheidung geben, was selten der Fall ist, auch wenn sie von beiden gewünscht wird.

Wie hat sich die Situation für Frauen seit Beginn der Revolution verändert?

Ilham Umer: Es gab viele positive Entwicklungen. Dabei muss bedacht werden, dass sich das Land permament im Krieg befindet, erst gegen das syrische Regime, dann gegen den IS, nun gegen das türkische Militär und seine dschihadistischen Milizen. Dabei wurden das ganze Land und die gesamte Gesellschaft zerstört. Wir haben alles selbst wieder aufgebaut: unsere ökonomische, militärische, politische Existenz und ganz besonders die Situation der Frauen. Frauen können nun frei leben, sie kennen ihre Rechte, haben Zugang zu Bildung und organisieren sich. Freie Frauen, die gemeinsam kämpfen und für ihre Rechte einstehen sind starke Frauen. Und die Gesellschaft braucht starke Frauen, um Widerstand gegen die türkische Invasion und gegen das syrische Regime zu leisten. Mit den Malên Jinê und den Frauenkommissionen an den Gerichten haben wir es geschafft, gegen Unterdrückung und Gewalt an Frauen vorzugehen und die Schuldigen dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Es gab viele positive Entwicklungen, aber es ist auch noch viel zu tun, besonders an Orten wie Serekanye und Afrin.

Was ist Ihre Botschaft an Frauen in Europa und Deutschland?

Ilham Umer: Wir Frauen in Rojava haben viel durch unsere Kämpfe erreicht. Wir haben uns organisiert, stehen für unsere Rechte ein und treten in der Öffentlichkeit auf. Aber wir möchten, dass die Frauen in Europa und überall auf der Welt wissen, dass der Krieg hier weitergeht und unsere Kämpfe andauern. Wir sind erschöpft, wir wollen Frieden, aber wir kämpfen weiter. Und wir brauchen eure Unterstützung. Wir hoffen, dass alle Frauen, nicht nur in Syrien, sondern auf der ganzen Welt, sich gegenseitig unterstützen und Mut machen!

Und noch eine Botschaft zum 8. März. An diesem Tag feiern wir die Frauen auf der ganzen Welt. Aber meiner Meinung nach sollten Frauen an jedem Tag wie am 8. März gefeiert werden. Denn jeden Tag kämpfen wir für unsere Rechte und Gerechtigkeit. An allen Fronten kämpfen wir diesen Kampf. Und der Kampf, den wir in den Malên Jinê und in den Gerichten kämpfen ist genauso wichtig, wie die Kämpfe unserer Hevals (Kameradinnen, Anm. d. Aut.) an der Front.

Haben Sie einen Vorschlag, was konkret Frauen in Deutschland tun können?

Ilham Umer: Nutzt die Medien, zeigt der Bevölkerung und der Regierung, was hier in Rojava passiert und was die Türkei und dschidadistische Milizen uns antun! Geht zu euren Parlamenten und Regierungen und fordert Sanktionen gegen die Türkei!

Hanifa Muhammad: Wir Frauen aus Rojava können nicht in eure Länder kommen, aber ihr könnt zu uns kommen und ihr könnt die unsere Realität miterleben und weitererzählen. Die meisten Menschen wissen nur das, was die Massenmedien über den Krieg in Syrien berichten. Aber wir möchten, dass die Menschen in aller Welt auch über unsere Gesellschaft erfahren, über unsere Familien mit ihrem Schmerz und den Toten durch türkische Luftangriffe, die wir jeden Tag begraben. Ihr Frauen aus aller Welt könnt unsere Stimme sein.

Was ist ihr Wunsch für die Frauen in Rojava?

Ilham Umer: Mein Wunsch für die Frauen in Rojava und in ganz Syrien, ist dass wir unseren gemeinsamen Kampf für Gleichberechtigung fortführen und uns von Unterdrückung und Schwierigkeiten befreien können. Ich wünsche uns, dass wir nicht mehr kämpfen müssen. Ich wünsche uns Frieden.

#Titelbild: Das Haus der Frau in Qamislo

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Ein Versuch, die “multipolare” imperialistische Dynamik rund um den Konflikt in Syrien zu beleuchten und theoretisch zu erfassen.

Tomasz Konicz

Das, was sich im Februar 2020 in Syrien zwischen der Türkei und Russland vollzieht, ist selbst für kapitalistische Verhältnisse außergewöhnlich. Während türkische und russische Truppen an der Grenze zwischen der Türkei und der nordsyrischen Autonomieregion Rojava gemeinsame, von wütenden Kurden immer wieder mit Steinen angegriffene Patrouillen durchführen, bombardieren russische Kampfflugzeuge wenige Kilometer weiter südlich in der westsyrischen Provinz Idlib von der Türkei unterstützte Dschihadisten und türkische Truppen, die bereits erhebliche Verluste hinnehmen mussten.

Die spätkapitalistischen Staatssubjekte sind keine Menschen, keine bürgerlichen Marktsubjekte, die in ihrem Konkurrenzgebaren zumeist sehr eindimensional sind. Die imperialistischen Staatsmonster können miteinander kooperieren, Bündnisse oder Allianzen bilden und zugleich in anderen Politikbereichen oder Einflusssphären heftige Konflikte austragen. Pack schlägt sich, Pack verträgt – dies ist die jahrhundertealte blutige Normalität imperialistischer Auseinandersetzungen, bei denen Millionen von Menschen verheizt wurden und werden.

Die vertrackte Lage in Syrien, wo Kooperation und Konfrontation zweier imperialistischer Mächte bei ihrem mörderischen “Great Game” eng beieinander liegen, ist Ausdruck der auf die Spitze getriebenen Widersprüche im russisch-türkischen Verhältnis. Während Moskau und Ankara sich einerseits bekriegen, wollen sie andererseits Kooperieren und ziehen enorme Vorteile aus dieser Kooperation. So konnten in den vergangenen Monaten und Jahren einige wichtige wirtschaftspolitische Projekte initiiert oder realisiert werden, die für beide Seiten von Vorteil sind.

Einseitige Abhängigkeit –Russisch-türkische Kooperation

Die Anfang 2020 in Dienst gestellte Turkstream-Pipeline, die russisches Erdgas über das Schwarze Meer bis in die Türkei befördert, bring sowohl für den Kreml wie für Ankara enorme strategische Vorteile, da sie – gemeinsam mit der Ostseepipeline – Russland dabei hilft, die Transitwege russischen Erdgases nach Westeuropa zu diversifizieren, sowie Ankara der ersehnten Rolle einer energiepolitischen Drehscheibe an der südöstlichen Flanke der EU näherbringt. Zudem haben beide Seiten den Bau eines russischen Atomkraftwerks in der Türkei vereinbart, der Russlands Atomindustrie einen Auslandsauftrag einbringt und Ankara dabei hilft, seine Abhängigkeit von Energieimporten zu reduzieren und die Option einer türkischen Atombombe eröffnet.

Diese handelspolitischen Bezeigungen sind aber von einer einseitigen Abhängigkeit geprägt, da die Türkei in sehr viel größeren Ausmaß von Russland abhängig ist als umgekehrt – dies vor allem bei dem Import fossiler Energieträger. Hier verfügt der Kreml, der beim Export zur Not Turkstream schließen und auf andere Pipelines ausweichen kann, eindeutig über den längeren Machthebel.

Weitere Interessenüberschneidungen zwischen Ankara und Moskau existierten bei der Geopolitik, wie es der strategische Kauf des russischen Luftabwehrsystems S-400 durch die Türkei zeigte, der in Washington für Empörung sorgte und der das türkisch-amerikanische Verhältnis stark belastet. Ankara und Moskau haben – gemeinsam mit dem Iran – ein Interesse daran, den Einfluss des Westens – hier vor allem der USA – in der Region zurückzudrängen. Zusätzlich motiviert wurde diese kurzfristige Allianz zwischen Ankara, Teheran und Moskau durch das gemeinsame Interesse an der Zerschlagung des basisdemokratischen Experiments in Rojava, das alle autoritären, islamistischen Regimes und Rackets in der Region als eine existenzielle Bedrohung ansahen, wobei die klerikalfaschistische Türkei und das theokratische Regime im Iran aufgrund ihrer substanziellen kurdischen Minderheiten hier besonders schnell zur einer punktuellen Kooperation bereit waren.

Über die Leiche Rojavas – der Verrat der USA

Gerade die zeitweilige Zusammenarbeit der USA mit den kurdischen SDF zwecks Bekämpfung des Islamischen Staates hat maßgeblich zum Zerwürfnis zwischen Ankara und Washington beigetragen, das Moskau durch Zugeständnisse gegenüber Erdogan, die in der Invasion Afrins gipfelten, möglichst weit forcieren wollte. Es ließe sich gar argumentieren, dass die Annäherung zwischen Moskau, Teheran und Ankara gerade über die Leiche des selbstverwalteten nordsyrischen Kantons Afrin erfolgte, das sich in Russlands Einflusssphäre befand – und das Putin der türkischen Soldateska zum Fraß vorwarf, um die Türkei zusätzlich aus der westlichen Einflusssphäre zu lösen.

Mit dem Verrat der USA an den Kurden Nordsyriens im vergangenen Oktober wurde dieser reaktionären, gegen die USA wie auch den emanzipatorischen Aufbruch in Nordsyrien gerichteten unheiligen Allianz der wichtigste gemeinsame Nenner entzogen. So wie Putin sich bemühte, durch die Opferung Afrins an den türkischen Kelrikalfaschismus die Türkei aus dem Westen zu lösen, so hat Trump durch den Verrat an den östlichen Kantonen Rojavas die Türken dazu motivieren wollen, die Annäherung an Moskau zu revidieren. Die USA benutzten somit die Kurden im Kampf gegen den Islamischen Staat, um sie hiernach der islamistischen Regionalmacht auszuliefern, die zu den wichtigsten Unterstützern des Islamischen Staates gehörte, da die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien den wichtigsten Streitpunkt bei der Entfremdung zwischen Ankara und Trump bildete.

Tatsächlich könnte dieses brutale imperialistische Kalkül Washingtons, wo man trotz des Verlusts der Hegemonie noch maßgeblich Einfluss auf die Gestaltung der Region nehmen will, aufzugehen. Die USA haben Rojava verraten und sich weitgehend zurückgezogen aus Syrien, sie okkupieren nur noch die – regional unbedeutenden – Ölquellen in Ostsyrien. Dies tun sie nicht etwa, um dieses Öl in Eigenregie zu verkaufen, wie wohl nur Trump glaubt, sondern um die Kosten der Intervention Russlands und der eventuellen Wiederaufbaubemühungen in Syrien in die Höhe zu treiben, sowie einen Keil in die Achse Damaskus–Teheran zu treiben.

Doch, und dies ist entscheidend, überwiegen seit dem partiellen Rückzug Washingtons die Differenzen der Regionalmächte das vormalige Interesse an der Verdrängung der USA. Nun steht Russland unter Druck in Syrien, es muss sich mit Ankara auseinandersetzen und das komplexe Interessengewirr in der Region managen. Washington spekuliert schlicht darauf, dass Moskau damit überfordert sein wird.

Die Hegemonialmacht tritt ab

Was sich nun in der Region entfaltet, ist somit schlicht jene Realität einer “multipolaren Weltordnung”, die von allen Herausforderern der US-Hegemonie in den vergangenen Dekaden gefordert wurde. Die USA, seit Langem im hegemonialen Abstieg begriffen, haben ihre seit dem Zerfall des Ostblocks etablierte Rolle als globale militärische “Ordnungsmacht” – die Interventionen, Strafexpeditionen und Invasionen in der Peripherie des Weltsystems über gut drei Dekaden weitgehend monopolisieren konnte – zumindest im Nahen und Mittleren Osten – endgültig verloren. In dieses Vakuum drängen nun viele kleine Nachwuchs-USA, die dem großen, abgetakelten Vorbild jenseits des Atlantiks nacheifern und ihr eigenen geopolitisches und imperialistisches Kalkül verfolgen.

Die Hegemonialmacht tritt ab – doch der Imperialismus bleibt bestehen, da dessen ökonomisches Fundament, die krisengebeutelte und widerspruchszerfressene kapitalistische Produktionsweise, weiterhin bestehen bleibt. Mehr noch: Der Abstieg der ökonomisch durch die Krise verwüsteten und weitgehend deindustrialisierten Vereinigten Staaten wird nicht mehr durch den Aufstieg eines neuen globalen Hegemons begleitet, der es wiederum schaffen würde, die Anwendung militärischer Gewalt weitgehend zu monopolisieren. Keine Großmacht – auch nicht China – ist dazu in der Lage; aufgrund zunehmender Krisentendenzen, wie einer ausartenden Verschuldung. Die Folge: Der partielle Rückzug der USA geht nicht mit einem Ende der Spannungen einher, sondern mit deren “multipolarer” Vervielfältigung.

In der Region entfalten folglich der schiitische Iran und das sunnitische Saudi-Arabien bei ihrem jeweiligen Hegemonialstreben eine zunehmende geopolitische Konkurrenzdynamik, in deren Folge etwa der Jemen von einem blutigen Stellvertreterkrieg erfasst wurde, bei dem die USA nur noch eine Nebenrolle spielen. Diese Inflationierung des Konfliktpotenzials in einem in Auflösung übergehenden spätkapitalistischen Weltsystem kann somit gerade an den konkreten Konfliktlinien in der Region nachvollzogen werden – dies vor allem hinsichtlich der klerikalfaschistischen, von neo-osmanischen Wahn beseelten Türkei. Erdogan muss Expandieren, da ihm die schwere ökonomische Krise in der Türkei dazu nötigt, mittels äußerer Expansion die zunehmenden sozioökonomischen Verwerfungen im Land zu überbrücken. Es geht hierbei nicht nur um das klassische Schüren chauvinistischer Stimmungen, um so vom permanenten Grütel-enger-schnallen breiter Bevölkerungsschichten in der Türkei abzulenken, sondern um ganz konkrete Strategien oder Kontrolle der Beseitigung der Massen ökonomisch “überflüssiger” Menschen, die die Systemkrise in der Region produzierte.

Idlib – geopolitische Sackgasse

Idlib soll als informelles türkisches Protektorat vor allem dazu dienen, die Flüchtlingsmassen, die der syrische Bürgerkrieg produzierte, dort zu konzentrieren, da sie aufgrund der Krise in der Türkei nicht mehr als Billiglohnsklaven verwertet werden können. Ähnliche Planungen zur Errichtung einer Art gigantischen Flüchtlingsghettos gibt es in den von der Türkei okkupierten Region Rojavas, wo die ethnische “Säuberung” der kurdischen Bevölkerung durch die türkische Soldateska mit der Ansiedlung von Islamisten und der Deportation von Flüchtlingen abgeschlossen werden soll. Dieses Vorgehen Erdogans, der Flüchtlinge längst als politische Waffe gegenüber der EU einsetzt, brachte ihm die taktische und finanzkräftige Unterstützung Berlins ein, wo man aufgrund des Aufstiegs der Neuen Rechten panische Angst vor weiteren „Flüchtlingswellen“ hat. Merkel hat sich bei ihrer letzten Türkeivisite dazu entschlossen, im Endeffekt ethnische Säuberungen in Rojava zu finanzieren. Flüchtlinge und Abschottungstendenzen bilden somit – neben dem Kampf um Ressourcen und Energieträger – inzwischen einen neuartigen, zentralen Faktor beim “multipolaren” neoimperialistischen Hauen und Stechen in der Region, das Phasenweise an die Hochzeit des Imperialismus in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhundert erinnert. Es ist gewissermaßen eine alte, neue Weltunordnung, die sich nun etabliert.

Die Dramatik und Gefährlichkeit der Lage in Idlib, die jederzeit eskalieren kann, resultiert andrerseits aus dem simplen Umstand, dass beide Seiten – sowohl die Türkei wie auch Russland – aller geschilderten Kooperation zum Trotz ihre zunehmenden geopolitischen Interessenskonflikte nicht mehr weiter verdecken oder überbrücken können. Erdogan kann sich einen Verlust von Idlib samt zu erwartender Massenflucht in der ökonomisch zerrütteten Türkei kaum politisch erlauben, da dies seine Herrschaft – und buchstäblich seine physische Existenz – bedroht. Der Kreml kann wiederum letzten Endes kaum dazu übergehen, Teile von Syrien langfristig an die Türkei in geopolitischen Deals zu verscherbeln, will Putin tatsächlich Russland als einen verlässlichen regionalen Machtfaktor im Nahen- und Mittleren Osten etablieren. Beide Seiten befinden in einer geopolitischen Sackgasse, aus der der Verlierer nur unter einem massiven Verlust an Prestige oder Einfluss ausbrechen kann.

Die Grenzen des türkischen Dominazstrebens

Zudem ist das geopolitische Vabanque Spiel Erdogans, bei dem Ankara im Gefolge des regionalen Dominanzstrebens erfolgreich zwischen Ost und West pendelte, um immer neue Zugeständnisse von Moskau (Afrin), Washington (östliches Rojava) und Berlin (Geld und Investitionen) zu erpressen, an seine Grenzen gelangt. Auch diesmal ging die türkische Konfrontationshaltung gegenüber Russland mit einer raschen Annäherung an den Westen, vor allem an die USA, einher, doch konnte Erdogan keine handfeste militärische Unterstützung seitens der Trump-Administration erwirken. Die brandgefährlichen Forderungen Ankaras nach amerikanischen Luftabwehrsystemen oder einer Flugverbotszone über Idlib sind im Sande verlaufen, da das Pentagon nicht den 3. Weltkrieg riskieren will. Die USA sind zwar im Abstieg begriffen, aber sie bilden weiterhin einen wichtigen Machtfaktor in der Region – ähnlich dem Großbritannien der Nachkriegszeit, dass ja sogar in der Suez-Krise 1956 einen erfolgloses imperialistisches Comeback versuchte.

Washington ist derzeit schlicht bemüht, dafür sorge zu tragen, dass der vergangenen Oktober begangene Verrat an der Kurden sich nun geopolitisch rentiert. Der Imageverlust vom Herbst 2019 – der den USA die Bündnisbildung in der Region ungemein erschweren wird – soll im Frühjahr geopolitische Rendite einbringen, indem der Konflikt zwischen Ankara und Moskau möglichst weit angeheizt wird, um so die Türkei zurück in die westliche Einflusssphäre zu bugsieren. Auch dies ist ein Balanceakt, den Washington vollführen muss: Es gilt, die Konfrontation durch rhetorische und öffentliche Solidaritätsbekundungen an das Erdogan-Regime anzuheizen, ohne je konkret zu werden. Die Trump-Administration muss im Wahljahr 2020 eine militärische Eskalation in Syrien um nahezu jeden Preis vermeiden – vor allem bei einem eventuellen Duell zwischen Trump und dem Antikriegskandidaten Sanders.

Dabei wählte Putin einen guten Moment, um die letztendlich unausweichliche Konfrontation mit Erdogan zu suchen, da dieser sich in seinem – durch innertürkische Widersprüche angetriebenen – Expansionsdrang regional weitgehend isoliert hat. Die arabischen Länder, wie etwa Jordanien und Ägypten, bilden aufgrund der neo-osmantische Ambitionen Erdogans eine nahezu geschlossene antitürkische Front, währnend weite Teile der EU, angeführt von Frankreich, sich wegen der Auseinandersetzungen um die Energieträger vor der Küste Zyperns im Streit mit der Türkei befinden. Koordiniert von Paris, bemühen sich Teile der EU somit, den türkischen Hegemonialstreben eindeutige Grenzen zu setzen. Die USA wiederum werden Erdogan nur verbal zur Auseinandersetzung mit Putin ermuntern, da man Ihm in Washington den Kauf der russischen S-400 so schnell, und vor allem so billig, nicht verziehen wird. Mal ganz abgesehen davon, dass man es sich in Ankara ganz genau überlegen wird, ob man sich wieder einer Großmacht in die Arme wirft, die laut türkischer Überzeugung den gescheiterten Putsch gegen Erdogan unterstützt haben soll.

Die evidente, nahezu vollständige Erosion der US-Hegemonie führte somit dazu, dass etliche kapitalistische Staaten in der Region (Türkei, Russland, Teile der EU, Saudi-Arabien, Iran) ihre Interessen stärker geopolitisch zur Geltung bringen können; es entsteht eine multipolare Dynamik vielfältiger regionaler imperialistischer Interessen, die sehr viel stärker und deutlicher in Erscheinung treten können, nachdem der hegemoniale Druck der US-Militärmaschine schwindet. Diese prekäre Rückkehr zu einem instabilen Imperialismus ohne Hegemon sorgt bei vielen Beobachtern, die es gewohnt sich, in den Frontstellungen des Zeitalters der US-Hegemonie zu denken, für Verwirrung und Desorientierung. Die USA, oftmals in verkürzter Kapitalismuskritik als Urquell allen Übels wahrgenommen, steigen ab, aber die mörderischen imperialistischen Kriege, letztendlich angefacht durch den widersprüchlichen Verwertungszwang des Kapitals, blieben bestehen. Die drohende Eskalation in Idlib stellt letztendlich auch eine Blamage des dummdeutschen Antiamerikanismus dar, der sich schon immer nicht primär aus einer fehlgeleiteten antiimperialistischen Motivation, sondern aus blankem imperialistischen Neid speiste.

#Titelbild: türkische und US-Soldaten in Syrien, wikipedia

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Am 1. November 2019, rund drei Wochen nach dem Beginn der türkischen Invasion in Nordsyrien, war der kurdische Politiker Gharib Hassou in Dresden zu Gast. Hassou ist Co-Vorsitzender von TEV-DEM (Tevgera Civaka Demokratîk, Bewegung für eine demokratische Gesellschaft in Nordsyrien) und ehemaliger PYD-Außenvertreter im Autonomiegebiet der Kurdischen Regional Regierung im Nordirak. Das folgende Interview führten Sven Wegner, Wissam Abu Fakher und Ricaletto nach einer Diskussionsveranstaltung in der Evangelischen Hochschule.

Die Türkei greift zusammen mit dschihadistischen Milizen den Norden Syriens an. Welche realistischen Persepktiven hat Rojava bzw. die Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien in dieser Situation?

Vor dem jetzigen Einmarsch gab es Stabilität und alle Teile der Gesellschaft haben zusammengelebt auf der Grundlage der Völkerverständigung. Rojava war im Vergleich zu den Gebieten Assads und denen der syrischen Oppositionellen, die der Türkei nahestehen, viel besser. Sowohl von den Bedingungen dort als auch von dem was die Menschen für ihr tägliches Leben haben und alles Mögliche mehr. Das Ziel der Operation gegen Rojava und genauer gegen Serê Kaniyê (Raʾs al-ʿAin) und Girê Spî‎ (Tall Abyad) ist es, diese Stabilität zu zerstören.

Der Wille der Menschen vor Ort soll gebrochen werden. Nach dem Einmarsches erlebten wir einen wirklichen Kriegszustand und wir sehen, dass auf uns ein Vernichtungskrieg zukommt. Die Türkei verübt zahlreiche Kriegsverbrechen. Zuletzt benutzten sie sogar Phosphorbomben und die sind eigentlich verboten.

Die Kämpferinnen und Kämpfer der YPG, YPJ und der SDF leisten einen großartigen Widerstand in den Gebieten, aber der türkische Staat macht keinen Unterschied und bombardiert einfach alles. Die internationale Gemeinschaft beobachtet das, aber handelt nicht. Außerdem sind alle internationalen Kräfte, also Russland, die USA, der Iran, die sich in den Syrienkrieg eingemischt haben, auch in diesem Gebiet.

Meine Frage war aber eine andere. Es ging mir um die Perspektiven, die Rojava jetzt noch hat. Da komme ich auf Fragen wie: Wie ist Ihre Sichtweise auf eine mögliche Zusammenarbeit mit dem syrischen Regime, also mit Bashar al-Assad oder Russland? Ist man nicht gezwungen mit diesen Kräften zusammenzuarbeiten? Welche Positionen haben sie dazu?

Wir sehen den Demokratischen Konföderalismus als einzige Lösung für alle aktuellen Probleme in Syrien. Wir sehen die Zukunft Syriens nur in einer demokratischen Föderation, wenn es denn überhaupt eine Zukunft für Syrien gibt. Wir werden ganz einfach kämpfen, um das System und diese Idee und Philosophie zu beschützen und den Terror zu bekämpfen. Wenn unser Modell vernichtet wird, dann wird auch der Wille der kurdischen Bevölkerung vernichtet, denn Erdogan will die Gebiete auch ethnisch verändern. Das gleiche hat er auch mit dem Nordirak vor.

Also steht eine Zusammenarbeit mit Bashar al-Assad gar nicht auf dem Programm?

Wir haben es ja seit langem versucht, diplomatische Kanäle mit Damaskus zu öffnen, um Gespräche zu vereinbaren und Meinungen auszutauschen. Aber sie haben unsere Anfragen immer abgelehnt und sich dem Dialog verweigert. Es gab Konferenzen in Bozanê (Ain Issa), in Kobanê (Ain al-Arab) und in verschiedenen Gebieten, aber das Regime Assads akzeptiert keinen Dialog. Zuletzt gab es eine Vereinbarung zwischen den SDF und dem Regime darüber, dass Truppen an die Grenze entsendet werden und nicht um Gebiete der SDF zu übernehmen. Diese Vereinbarung wurde durch Russland vermittelt und auch wir wollten dem Regime die Aufgabe geben, die Grenze zu schützen, damit wir nicht allein diese Aufgabe übernehmen müssen. Aber genau hier sieht man auch, dass das Regime gar keine Kraft mehr hat und nichts mehr übernehmen kann. Es gibt keine Hoffnung, dass das Regime die Grenze sichert. Die Soldaten wurden mit Tiertransportern transportiert. Wir wissen natürlich auch, dass es bereits eine Vereinbarung zwischen dem Regime und Erdogan gibt. Und das gegen den Willen der syrischen Bevölkerung. Wir wollten dem Regime die Aufgabe des Grenzschutzes übergeben, doch es hat sich der Verantwortung entzogen.

Es besteht die Gefahr, dass ihr nun zwischen zwei Fronten zerquetscht werdet. Auf der einen Seite das Regime und Russland – gut das Regime hat kaum noch Kapazitäten, aber Russland hat eine Luftstreitmacht – und auf der anderen Seite die Türkei und ihre dschihadistischen Milizen. Es besteht also durchaus die Gefahr, dass ihr aufgerieben werdet und die Zivilbevölkerung darunter leidet, wenn man sagt: „Kämpfen, kämpfen, kämpfen!“

Wenn das Regime seine Verantwortung übernehmen würde, dann würde es eine Flugverbotszone errichten. Russland hätte auch diese Aufgabe erfüllen können. Beide haben dies aber nicht gemacht, mit der Absicht das unsere Stützpunkte und Gebiete von der Türkei bombardiert werden. Also werden wir nun kämpfen, denn es ist unser Traum und unser Land. Dieser Krieg ist bereits ein großer Krieg. Wem sollen wir die Gebiete und das Land überlassen? Erdogan und den Dschihadisten aus al-Raqqa, al-Baghuz, Tabqa und Minbic (Manbidsch), die die auch Efrîn (Afrin) und Idlib geraubt haben und die jetzt unser Land rauben wollen? Wir werden das Land nicht dem Besatzerstaat Türkei und nicht den Dschihadisten überlassen. Wir werden es nicht zulassen, dass die Türkei uns besetzt und ausraubt.

Mit dem Blick auf die Flugverbotszone: Welche Rolle kann die EU spielen? Welche Rolle muss die NATO spielen? Was wären konkrete, realistische Schritte, um diesen Krieg einzudämmen? Wie ist die Meinung von TEV-DEM dazu?

Wir haben überall Ausschüsse in Washington, Moskau, der EU und in arabischen Ländern zu dem Thema und wir haben darüber bereits die notwendigen Schritte an die entsprechenden Länder übermittelt. Der erste Schritt wäre eine Flugverbotszone in Nord- und Ostsyrien, damit die türkischen Luftangriffe aufhören. Zweitens sollten UN-Truppen in die Grenzregion gebracht werden und die können die Aufgabe übernehmen, den Krieg auf dem Boden einzudämmen. Die Entscheidungen der UN sind wichtig und wir heißen UN-Truppen willkommen, aber es gibt bisher keine Fortschritte oder Entscheidungen in diese Richtung. Auch die USA haben gesagt, dass sie wirtschaftliche Sanktionen gegen die Türkei durchsetzen würde, wenn sie gewisse Linien überschreitet. Doch wo liegen diese Linien überhaupt? Bislang ist alles Theorie, aber wir hoffen, dass es in die Praxis umgesetzt wird. Die Europäer haben Angst wegen der DAESH-Gefangenen in unseren Gefängnissen und Camps, besonders wenn die Türkei diese befreit. Dann wird es eine große Katastrophe geben.

Gibt es noch diplomatische Beziehungen oder Kanäle zur Türkei?

Wir haben der Türkei mehrmals angeboten, dass wir in einen Dialog treten und darüber verhandeln, wie wir die Grenze sichern können und welchen Mechanismus wir dafür finden könnten. Die Türkei hat das bislang verweigert. Wenn sie dazu bereit wären, heißen wir das sehr willkommen und es könnte als Plattform für weitere Verhandlungen in der Zukunft dienen. Es wäre ein Vorteil für uns mit ihnen zu verhandeln, denn die gesamte nördliche Grenze ist eine Grenze mit der Türkei.

Was passiert momentan mit den DAESH-Gefangenen? Wie ist Ihre politische Haltung zu diesem Thema?

Die SDF sagen, sie haben keine Kapazitäten mehr, die Gefangenen zu kontrollieren, weil sie die Grenze schützen müssen. Ein paar DAESH-Gefangene sind bereits geflohen und kämpfen jetzt auf der Seite der Dschihadisten mit der Türkei zusammen.

Merkt ihr in Rojava, dass hier in Europa tausende Menschen auf die Straße gehen, demonstrieren, blockieren, besetzen und viele Aktionen in Solidarität mit Rojava machen?

Ja, wir haben es gesehen und mitbekommen, dass die Kurden im Exil und deren Freunde Aktionen machen. Und das freut uns natürlich.

Wir haben bereits darüber gesprochen, was Sie von der EU und von Staatsregierungen erwarten. Wie verhält es sich mit der Zivilgesellschaft in Europa? Was erwarten Sie von ihr?

Man kann Regierungen nicht vertrauen und wir vertrauen nur der Gesellschaft. Wenn wir von Gesellschaft reden, dann meinen wir die Gewerkschaften, Vereine und andere zivilgesellschaftliche Organisationen.

“Man kann Regierungen nicht vertrauen” – Gharib Hassou im Interview mit lcm; Zeichnung: Ricaletto

Der größte Beitrag, den die Zivilgesellschaft zum Widerstand in Rojava leisten kann, ist, Druck auf die Regierungen aufzubauen. Es gibt so viele Videos und Beweise wie die dschihadistischen Kämpfer Leichname schänden, „Allah u Akhbar“ rufen, als hätten sie gegen das Regime gewonnen oder die „Ungläubigen“ komplett zerstört. Da kann die Zivilgesellschaft helfen, diese Beweise und Videos zu sammeln und zu verbreiten, damit die Welt besser Bescheid weiß, gegen wen wir kämpfen.

Sie haben gesagt, dass man das Modell Rojava bekannter machen soll und wir hatten ja schon 2017 im Irak über den Aufbau von Räten gesprochen und auch darüber, ob Parteien überhaupt notwendig sind und ob sie sich nicht einfach auflösen sollten. Aber nun ist in Rojava ja Krieg und man scheint zu merken, dass die Entscheidungen nicht durch Räte getroffen werden. Räte brauchen lange, sie müssen diskutieren. Müssen die SDF nicht eigenständige Entscheidungen treffen, weil sie unter militärischem Zugzwang stehen? Ist Krieg nicht das komplette Gegenteil von Rätedemokratie bzw. Gift für diese?

Die Türkei versucht den Aufbau unserer Demokratie zu zerstören. Wir haben sieben demokratische Verwaltungen und 35 arabische, aramäische, assyrische und kurdische Parteien und diese tauschen sich aus und diskutieren untereinander und sie liefern ihre Meinungen und Perspektiven an den Regierungsrat in Nord- und Ostsyrien. Dieser Regierungsrat entscheidet dann für die SDF. Auch jetzt, in Kriegszeiten, ist es zwar schwierig, aber die Entscheidungen trifft immer noch der Regierungsrat und dieser Rat bekommt die Entscheidungen von der lokalen demokratischen Verwaltung.

Also auch durch die Räte?

Jede demokratische Verwaltung untersteht den Räten und so kommen die Entscheidungen von unten nach oben zu Stande.

Kritiker sagen aber es gibt diese Räte gar nicht wirklich. Das seien alles Illusionen und es steht die Frage im Raum, ob es wirklich sein kann, dass Räte unter Kriegsbedingungen im 21. Jahrhundert existieren?

Als die Türkei mit ihrem Angriff begonnen hat, hat sich die SDF-Führung mit dem Assad-Regime auf Hmeimim, einem russischen Militärflugplatz, getroffen, weil die Verwaltung, die Räte und die Parteien sich getroffen haben und alle dafür gestimmt haben, mit Assad zu kooperieren. Das war eine Entscheidung der Basis und deswegen musste die SDF-Führung sich dort mit dem Regime treffen. Ich will nicht, dass wir missverstanden werden. Wir wollten nicht mit Assad kooperieren. Seit drei Jahren haben wir versucht, einen Dialog mit ihm einzugehen. Nach dem türkischen Angriff waren wir gezwungen, zu Assad zu gehen und er hat es akzeptiert, aber wir sehen nun, dass er nicht in der Lage ist die Grenze zu schützen.

Wie bei der Besetzung von Efrîn?

Genau.

Es gibt immer wieder Berichte über Zwangsrekrutierungen und die Kritik an der Einführung der Wehrpflicht in Rojava. Es gibt Berichte von jungen Männern, die sich in Qamişlo (Qamischli) oder Kobanê verstecken müssen, um nicht von den Asayîş (Sicherheitskräfte der kurdischen Selbstverwaltung) verhaftet und zwangsrekrutiert zu werden. Wenn ich Bilder aus Rojava sehe, dann sehe ich ältere Frauen und ältere Männer, vielleicht noch ein paar junge Frauen, aber ich sehe kaum junge Männer, da diese fast alle zum Militärdienst müssen. Welche Positionen vertreten Sie zu Zwangsrekrutierung, Wehrpflicht und Militarisierung der Gesellschaft?

Wir wurden missverstanden. Wir sind seit sieben Jahren im Kriegszustand und seit sieben Jahren bekämpfen wir die Terroristen des Islamischen Staates. In der Zeit hat uns niemand für Rekrutierung und Militarisierung kritisiert. Nachdem wir jetzt aber mit Daesh militärisch fertig sind, wird die Aufmerksamkeit auf dieses Thema gelenkt. Al-Nusra erzieht zum Beispiel Kinder zu zukünftigen Terroristen. Bei uns geht es um das Recht auf Selbstverteidigung und wir haben das Recht zu wissen, wie wir uns selber verteidigen können und genau das wollen wir auch erreichen. Wir haben unsere demokratischen Institutionen aufgebaut und diese brauchen nun auch Schutz. Zum Beispiel tragen die Leute nachts in unseren Viertel Waffen, um das Viertel zu verteidigen. Die Menschen müssen einfach wissen, wie man damit umgeht. Ich glaube, dass diese Kritik dazu benutzt wird, den türkischen Angriff zu legitimieren.

# Interview: Sven Wegner Übersetzung: Wissam Abu Fakher Zeichnung: Ricaletto

#Bildquelle: ANF

# Sven Wegner und Ricaletto veröffentlichen Anfang 2020 ihr Buch „Başur“ (Verlag Ichi Ichi) über ihre Reise durch Süd-Kurdistan 2017. Das Buch vereint Interviews und Sachtexte mit Comic- und Portraizeichnungen.

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Am 02.11.2019, dem -World Resistance Day- kamen tagsüber mehr als 10.000 Menschen zusammen, um in Berlin gegen den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Türkei auf Nordost-Syrien Widerstand zu leisten. Bei einer weiteren Demonstration am Abend, setzten rund 2.000 Menschen ein Zeichen gegen die Stadt der Reichen und den Erhalt von alternativen Wohn- und Kulturprojekten. Beide Demonstrationen bezogen sich klar auf Rojava und riefen zum Widerstand gegen Krieg und Faschismus.

#Titelbild: Po Ming Cheung

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Seit neun Tagen halten einige hundert sozialistische Freiwillige aus den kurdischen Selbst- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ sowie Kämpfer*innen der Syrisch-Demokratischen Kräfte eine NATO-Armee davon ab, eine Kleinstadt einzunehmen. Serekaniye, arabisch Ras al-Ain, liegt auf syrischer Seite der türkischen Stadt Ceylanpinar gegenüber und ist schon neun Tage nach der Invasion türkischer Truppen und deren dschihadistischen Sammeltruppen SNA nur noch Geröll und Schutt.

Seit neun Tagen bombardieren Kampfjets aus der Luft, Artillerie aus der Ferne und Panzer aus dem Belagerungsring jedes einzelne Haus in der Stadt – Krankenhaus und Schulen eingeschlossen. Ein ziviler Konvoi, der zur Unterstützung der Kämpfer*innen in die Stadt gekommen war, wurde am 13. Oktober direkt angegriffen. Wie viele Menschen insgesamt in Serekaniye bislang von Erdogans Truppen ermordet wurden, ist schwer zu sagen. In das Hauptkrankenhaus in al-Hasakah werden aus Serekaniye Kinder mit schwersten Verbrennungen eingeliefert, verstümmelte Zivilist*innen, verletzte Kämpfer*innen in ihren letzten Zügen.

Serekeniye ist eine Hölle aus Feuer und Asche. Ein Ort, der traurig und wütend macht. Wie ist so etwas möglich? Wieso werden den schäbigen Interessen imperialistischer, mörderischer Kriegstreiber so viele Menschenleben geopfert? Wer auf Ras al-Ain nur aus diesem Blickwinkel sieht, muss verzweifeln.

Doch Serekaniye ist heute mehr als das. Es ist ein Symbol der Hoffnung – so abwegig das auf den ersten Blick auch erscheinen mag. Serekaniye ist, wie 2014 Kobane, ein klares Zeichen einer Bewegung, die keine Unterwerfung – wie widrig die Umstände auch sein mögen. Jede Nacht kommen die Bomber. Und jeden Morgen meldet sich Ersin Caksu für die kurdische Nachrichtenagentur ANF aus den Trümmerhaufen der Stadt, spricht mit den Verteidiger*innen. Sie wirken nicht traurig. Sie wirken nicht verzweifelt. Sie wirken wie Menschen, die wissen, wofür sie gerade kämpfen. Und denen es wichtiger ist, ein möglicherweise kurzes Leben in Würde als ein langes in Siechtum und Knechtschaft zu führen.

„Es geht nicht darum, zu leben oder nicht zu leben, sondern richtig zu leben. Selbst wenn uns das richtige Leben nicht gelingen sollte, das Wichtigste ist, sich niemals von dieser Suche abbringen zu lassen und Reisender auf diesem Weg zu sein“, schreibt Abdullah Öcalan, der inhaftierte Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung. Und er meint damit nicht die individuelle Suche nach einem immer neuen Modelifestyle, wie sie ein an Langeweile zugrunde gehendes liberales Kleinbürgertum betreibt. Er meint das kollektive Leben in einer Gesellschaft der Gleichen, die Rehevaltî, die Weggefährtenschaft im Kampf genauso wie das solidarische, demokratische Zusammenleben im Frieden.

Das, woran sich die NATO-Armee in Serekaniye seit neun Tagen die Zähne ausbeißt, ist diese Kollektivität. Es ist nicht der einzelne Soldat, gedrillt wie ein US-Marine. Es ist auch nicht die Technik, davon haben die Verteidiger*innen ja nicht allzu viel. Es ist die Freundschaft und Genossenschaft untereinander, die einen immer wieder durchhalten lässt, immer wieder weitermachen lässt. Klar, die Spezialkräfte von YPG und YPJ sind ausgezeichnete Kämpfer*innen. Aber was sie bestehen lässt, ist das Wissen um ein aus einer gemeinsamen Idee von Leben gespeisten Netz, das bei ihnen anfängt, sich über die Mütter, die ihr Brot backen, die Dorfbewohner*innen, die ihnen ihre Tür öffnen, die Reporter*innen, die bei ihnen bleiben, wenn die bomben einschlagen, die Ärzt*innen, die ihre Verwundeten zusammenflicken, bis zu den Genoss*innen in den irakischen Bergen, den türkischen Metropolen oder ins europäische und US-amerikanische Hinterland zieht.

Die kurdische Bewegung hat eine Geschichte geschrieben, die ihre eigenen Landmarken hat. Vom Gefängniswiderstand im Folterknast Diyarbakir in den 1980er-Jahren über die Verteidigung Kobanes gegen den Islamischen Staat zieht sich diese Erzählung bis in die winzig kleine Grenzstadt Serekaniye. Jeder Schuss, den die Verteidiger*innen Rojavas dort abgeben, ist ein Buchstabe in dem Buch, das diese Bewegung schreibt.

Und unabhängig davon, ob diese Stadt fallen wird oder sich hält, diese Buchstaben bleiben geschrieben. Die Frage ist, ob sie jemand lesen wird. Ob auch wir hier in Deutschland die Sprache verstehen lernen werden, in der sie verfasst sind.

Bild: YPJ – presse

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Am 9. Oktober begann, zunächst mit Luftschlägen und Artilleriebeschuss, der Angriff der türkischen Armee auf Rojava, Nordsyrien. Eine von mehreren zehntausend islamistischen Terroristen verschiedener Fraktionen begleitete, hochgerüstete NATO-Armee versucht seitdem, in die Städte an der türkisch-syrischen Grenze einzurücken. Die unter dem Label „Freie Syrische Armee“ vermarktete Dschihadisten-Streitmacht schließt nicht nur Kämpfer von Ahrar al-Sham oder dem früheren al-Qaida-Ableger Nusra-Front ein, sondern nachweislich auch Kombattanten des Islamischen Staates.

Trotz der technischen Überlegenheit der Invasionsarmee ist es den Syrisch-Demokratischen Kräften (SDF) zusammen mit lokalen Militärräten der kurdischen, arabischen und assyrischen Bevölkerung bisher gelungen, den Einmarsch an vielen Stellen zurückzudrängen. Ein schnelles Vorrücken ist der türkischen Armee unmöglich. Insbesondere die „Freie Syrische Armee“, aber auch reguläre türkische Truppen haben Verluste zu verzeichnen.

Die türkische Armee greift dabei immer stärker auf Mittel der Kriegsführung zurück, die international geächtet, teilweise verboten sind. Schon jetzt sind zahlreiche Kriegsverbrechen gut dohttps://twitter.com/glennbeck/status/1182093500218773504kumentiert und nachweisbar.

Beschuss von Wohngegenden

In mehreren Städten – insbesondere in Qamislo, Dörfern in der Umgebung von Derik sowie in Kobane – beschießt die türkische Armee gezielt zivile Wohngegenden, um die Bevölkerung zur Flucht zu zwingen. Die Angriffe in Qamislo führten zum Tod mehrerer Kinder sowie einer ganzen christlichen Familie. Auch die libanesische Journalistin Jenan Moussa, eine der wenigen ausländischen Reporter*innen vor Ort, dokumentiert die Auswirkungen der Angriffe.

Wie hoch die Zahl der getöteten Zivilist*innen ist, ist derzeit schwer festzustellen. Ein Arzt des Kurdischen Roten Halbmondes sprach am Freitag von 27 Toten und 30-35 verletzten Kindern – allerdings dürfte das nur einen Teil der Opfer widerspiegeln.

Die Muster der Angriffe zeigen ein klares Ziel: Vertreibung der Bevölkerung, um deren Unterstützung für die Verteidigungseinheiten zu brechen. Konservativen Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge befanden sich am Freitag bereits 100 000 Menschen auf der Flucht.

Zerstörung ziviler Infrastruktur

Die türkische Armee zerstört zudem gezielt zivile Infrastruktur. Schulen wurden bombardiert, mehrfach wurde die Wasserversorgung zum Ziel der türkischen Armee. So berichten Augenzeugen aus Til Temir von der Unterbrechung ihrer Wasserversorgung. Am Freitag meldete SDF-Pressesprecher Mustafa Bali die weitgehende Zerstörung des Alouk-Staudammes, der die Wasserversorgung für 1,5 Millionen Menschen gewährleistet.

Misshandlung von Gefangenen

Mehrere Videos zeigen zudem die Misshandlung von Gefangenen durch die türkische Armee. Aus 2017 und 2018 geleakten Videos ist der Umgang mit Gefangenen durch die türkische Armee gut dokumentiert. Eines zeigt die Exekution gefangener Guerilla-Kämpferinnen, ein anderes, wie türkische Soldaten die Köpfe von (angeblichen) PKK-Kämpfern abschneiden und in die Kameras halten. Da die Türkei keinen Unterschied zwischen kurdischen Zivilist*innen und Guerilla macht, und zugleich offen islamistische Prediger sowie Politiker in der Türkei ihre Truppen zu maximaler Rücksichtslosigkeit aufrufen, sind massenhafte Folter sowie extralegale Erschießungen eine erwartbare Folge der Besetzung nordsyrischen Gebiets.

Kooperation mit dem Islamischen Staat

Die Zusammenarbeit mit den Terroristen des Islamischen Staates ist während des Vormarsches der Türkei immer deutlicher zutage getreten. Sie besteht nicht allein in dem Umstand, dass die Milizen, mit denen die Türkei kooperiert, sich ideologisch nicht vom IS unterscheiden – sondern weist Anzeichen einer direkten militärischen Kooperation mit IS-Schläferzellen in Syrien auf. Während die Armee Erdogans vom Norden angreift, fanden zahlreiche Attentate statt: Vor einem Gefängnis in Hassakeh explodierte eine Autobombe, in Qamislo ebenso. Die Türkei beschießt direkt Gefängnisse, in denen IS-Kämpfer festgehalten werden. Bei einer dieser Attacken gelang mehreren Terroristen die Flucht. Im berühmt-berüchtigten al-Hol-Camp, in dem 70 000 Dschihadisten und ihre Angehörigen festgehalten werden, kommt es zu Aufständen. Zufall sind diese Aktionen der Fünften Kolonne Erdogans nicht. Bereits in der Vergangenheit wurden Kontakte des türkischen Geheimdienstes MIT zum Islamischen Staat unzweifelhaft dokumentiert.

#Bildquelle: ANF (anfkurdi.com)

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