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Hierzulande zeigen Menschen sich solidarisch mit den Protesten gegen den Tod von Jina Amini durch die sogenannte Sittenpolizei im Iran. Solidarität sollte aber vor allem mit einer ehrlichen Anerkennung der Progressivität der Kämpfe und einer Reflexion der eigenen Lage hier in Deutschland einhergehen. In Deutschland ist das Problem von Faschismus, Sexismus und Gewalt nämlich auch lange nicht gegessen. Was ist das Besondere am kurdischen Aufstand im Iran und was kann man aus den Erfahrungen der mutigen Frauen und Männer in einem faschistoid-theokratischen System für die hiesigen Kämpfe lernen?

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Mit unzähligen Schildern, Transparenten und Spruchbändern gingen am 6. Juni 2020 tausende Menschen in Deutschland anlässlich der Ermordung von George Floyd in Minneapolis auf die Straße. Angesicht der Teilnehmendenzahl und der akademischen Resonanz dieser Demonstrationen hegte man die Hoffnung, dass das Bewusstsein der Menschen gegenüber den rassistischen Morden geschärft worden ist. Diese Hoffnung hielt nicht lange; Spätestens mit der Nichtreaktion der Mehrheit der deutschen Gesellschaft auf vier Todesfälle durch die Polizeigewalt zwischen dem 2. und 8. August dieses Jahres in Frankfurt, Köln, Oer-Erkenschwick (Kreis Recklinghausen) und Dortmund wurde die Aussicht auf eine Sensibilisierung der Gesellschaft gegenüber Polzeigewalt verdunkelt. Vier von diesen Personen waren unbewaffnet und drei von ihnen hatten Migrationshintergrund. Abgesehen von einzelnen Kundgebungen ist die Mehrheit der Gesellschaft in verstocktes Schweigen verfallen.

Die deutsche Gesellschaft und Politik bekunden einstweilen ihre Solidarität mit den Protestierenden im Iran, die seit gut zwei Wochen im Protest gegen einen Polizeimord mit bloßen Händen gegen den unterdrückerischen Staatsapparat kämpfen. Es tönt sogar aus der linksliberalen Ecke, dass die deutsche Regierung Sanktionsmaßnahmen gegen das iranisch-islamische Regime ergreifen sollte, um ihre deklarierte „feministische Außenpolitik“ unter Beweis zu stellen. Der Diskurs ist vollkommen ahistorisch und eurozentrisch. Die Rede von der Positionsbeziehung der deutschen Regierung ist absolut absurd. Als ob der deutsche Staat in der Vergangenheit die anderen frauenemanzipatorischen Bewegungen im Rest der Welt unterstützt hätte. Dass es nicht im Interesse des deutschen Staates liegt, Frauenbefreiung zu fördern, lässt sich schon bei ihrem Schweigen zur türkischen Invasion Rojavas (Nordsyrien) für die Unterdrückung der demokratischen Selbstverwaltung nachvollziehen. Davon abgesehen ist Deutschland schon lange wirtschaftlich mit dem Iran verbandelt und hat dafür mehrfach die Augen vor Verbrechen des iranischen Regimes innerhalb und außerhalb des Landes verschlossen. Daher ist die Forderung nach staatlicher Solidarität nicht zielführend. Darüber hinaus wissen diejenigen, die das Vorgehen des iranischen Regimes in den letzten 44 Jahren beobachtet haben, ganz gut, dass dieses prinzipiell keinen Wert auf sein Außenbild in den westlichen Ländern legt. Auch das wurde bereits bei dem Abschuss der ukrainischen Boeing-Maschine mit 176 Passagieren am 8. Januar 2020 der europäischen Öffentlichkeit klar, wobei der iranische Staat sich nicht willens zeigte, zur Aufklärung beizutragen.

Die Geringschätzung der feministischen Kämpfe im Iran hört jedoch nicht in der Sphäre des Staatspolitischen auf; Man spricht mit einer romantisierten und sexualisierten Haltung von den „armen“, „bildhübschen“ Frauen, die sich von den Kleidervorschriften befreien und dementsprechend „verwestlichen“ wollen. Fast niemand interessiert sich für den Kern der Proteste und die Radikalität der Frauenbewegung im Iran im Allgemeinen, geschweige denn für die in Kurdistan, die im Speziellen gar nicht thematisiert wird. Eine vermeintliche Solidarität ohne Anerkennung, Selbstreflexion und genauere Betrachtung der Lage ist bloß eine formalistische.

Was stattdessen zu tun ist, ist Selbstkritik; Man sollte sich endlich einmal die Frage stellen, warum die deutsche Gesellschaft nicht dazu fähig ist, selbst entsprechend auf die Polzeigewalt zu reagieren? Warum bringt eine polizeiliche Ermordung im Iran und in Kurdistan – in einem faschistoid-unterdrückerischen System – mehr Menschen auf die Straße als in Deutschland – einem „freiheitlich-demokratischen“ Staat ?

Diese Andersartigkeit ist aus der angemessenen Reaktion der Linken in Kurdistan und im Iran auf den mehrschichtigen Charakter des Todes Jinas und aus dem politischen Potenzial des Landes erklärbar. Die kurdische und derweil auch die iranische Bewegung lehrt die ganze Welt, dass die Befreiung nur durch das Zusammendenken von Geschlecht, Ethnie und Klasse zu erreichen ist. Sie praktizieren das berühmte Gedicht von Nazim Hikmet, dem kurdisch-türkischen Dichter, „Leben wie ein Baum, einzeln und frei, und geschwisterlich wie ein Wald, das ist unsere Sehnsucht.“ Dass aus dem Mord der 22-jährigen Jina solch eine entflammende Massenbewegung entstanden ist, ist einem Kollektiv zu verdanken, dessen Mitglieder längst begriffen haben, dass sie ihre Kämpfe nicht atomisiert und separat voneinander führen können. Welche Hintergründe die neuen Massendemonstrationen haben, zählen wir zusammengefasst auf.

Das Aufflammen der Aufstände in einer geografischen Besonderheit

Der neue Massenaufstand, der seinen Anfang am 18. September auf der Beerdigung in Jinas Heimatstadt Saqqez (kurdisch: Seqz) in Rojhalat (in dem iranisch besetzten Kurdistan) nahm, breitete sich auf inzwischen fast alle iranischen Klein- und Großstädte aus. Jinas Leichnam wurde, wie es in Kurdistan bei der Beerdigung von Freiheitskämpfer:innen üblich ist, mit kurdischen revolutionären Trauermärschen begleitet. Der Trauerzug erstreckte sich über mehrere Kilometer. Man hielt politische Reden. Frauen wiederholten betonend ihre Forderungen und demonstrierten ihre Entschlossenheit im Kampf gegen das Patriarchat. Sie rissen ihre Kopftücher herunter und schwenkten sie in der Luft. Ein alter Mann schrie von einer Ecke: »Ihr könnt die Menschen nicht einfach so umbringen.« Man merkt da, dass es eine Geografie ist, in der Jian (das Leben) zählt. Für die kurdischen Verhältnisse ist die Beerdigung eine wiederholte Übung der Solidarität, einer Erinnerung, dass das „Volk“ seine Kinder nicht „alleine“ lässt. Für den Rest des Irans eine Inspiration, wie man seine Kinder nicht alleine lässt. Erschrocken von den unzähligen Trauernden griffen die Sicherheitskräfte die Menschen an. Erst wurde Tränengas verschossen und kurz darauf folgten schon Schrotladungen. Bereits bei den ersten Auseinandersetzungen verlieren zwei Männer ihr Augenlicht. Alle haben den Eindruck, dass auch diesmal die Proteste im Keim erstickt werden. Doch dieses Mal ist es anders: der Unterschied liegt darin, dass der geleistete Widerstand und der Mut, den die kurdischen Frauen und Männer an den Tag gelegt haben, durch Social Media Accounts im ganzen Land kursiert. Der Slogan „Jin, Jiyan, Azadi“ (Frauen, Leben, Freiheit), der seine Wurzel in den Befreiungskämpfen der Kurden in Rojava hat, wird zu der zentralen Forderung und dem Vereinigungsfaktor der Proteste in allen Teilen des Landes. Die blitzschnelle Reaktion auf den Mord an Jina hat mit der Stärke einer Protestkultur und einer verborgenen politischen Geschichte zu tun, die den kollektiven Widerstandsgeist der Kurd:innen immer wieder belebt. In Kurdistan ist die Straße politisch und die Politik findet auch auf der Straße statt. Die Linken in Kurdistan, als eine der am wenigsten religiösen Regionen des Iran nehmen „das Alte“ nicht in Schutz und versuchen auch gelegentlich den reaktionären, fesselnden Kern der Religion zu kritisieren, was auch in einer immer libertärer werdenden Gesellschaft, bei weiteren Teilen der Bevölkerung auf Zuspruch stößt. Obschon viele Linke in Deutschland versuchen, die Proteste in einen rein regierungskritischen Framing aufzunehmen, beinhalten sie ganz deutlich religionskritische Forderungen und verlangen ganz laut nach einer Säkularisierung des Staates und der Gesellschaft.

Die Frauenbewegung im iranischen Kurdistan aus der historischen und gegenwärtigen Sicht

Die Rolle, die die Frauen in der iranisch-kurdischen Gesellschaft spielen, ist aus verschiedenen Gründen anders als die in den meisten anderen Teilen des Irans. Das lässt sich am Vorhandensein der vielzähligen Frauen-NGOs und den von geschlechtlicher Diskriminierung befreiten Parallelgesellschaften erkennen. Warum diese Gesellschaft zum Teil dermaßen feminisiert worden ist, hat historische und gegenwärtige Gründe; Die Frauenbewegung in Rojava, auch selbst zum Teil inspiriert von der in Rojhalat existierenden Frauenbewegung, gibt den Frauen ein gegenwärtiges Beispiel, wie die Aussicht einer vom Patriarchat befreiten Gesellschaft sein könnte. Neben diesen gegenwärtigen Antrieben sind die historischen Momente von Bedeutung, die immer noch unterschwellig die gesellschaftlichen Strukturen und Erziehungskonzepte der Familien in einer Weise ändern, dass sich die feminine Vergesellschaftung in kurdischen Regionen des Irans von der in anderen Teilen unterscheidet; Einer von diesen historisch bedeutenden Momente ist die Teilnahme der Frauen in den nach der Revolution von 1979 gegründeten sogenannten Volksräten und städtischen Organisationen, in denen versucht wurde, die Geschlechterverhältnisse mit der Einbeziehung der Gleichberechtigung neu zu denken. Die Frauen mischten sich in die sozialen und alltagspolitischen Entscheidungsprozesse ein und schufen daraus für sich neue Partizipationsmöglichkeiten. Dadurch, dass sie damit begannen, die vorhandenen, auf der patriarchalen Rollenverteilung basierenden Erwartungen in Frage zu stellen, wurde ihre Nicht-Anerkennung als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft aufgehoben. Sie beteiligten sich enthusiastisch an der Organisation des sozialen Lebens, forderten die patriarchale Gesellschaft heraus und begannen die Vergesellschaftungsprozesse des Weiblichen in eine emanzipatorische, gleichberechtigte und selbstbewusste Richtung zu lenken. In den entstandenen Frauengruppen begann man zudem über die Frauenemanzipation aus einer intersektionalen Sichtweise zu denken. Das patriarchale, auferzwungene, aus dem Zentrum des Irans hineinimportierte Selbstbild wurde abgelehnt und es werden neue antipatriarchale, antikoloniale Selbstbilder und Lebensformen konzipiert. In dieser revolutionären Praxis haben die Frauen und auch Männer gelernt, dass die Veränderung des Selbst weder die religiösen Selbstunterdrückung noch die kapitalistische Selbstoptimierung bedeutet, sondern die Veränderung der Umstände, also der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Das aus dieser revolutionären Praxis gewonnene Selbstvertrauen wurde sehr schnell in die Selbstorganisation für die Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in einem größeren Ausmaß übersetzt. Das Herzstück dieser fortschrittlichen Bewegung ist die im Rahmen der Ereignisse nach der Revolution von 1979, erstmalige Bewaffnung der Frauen in den Reihen der damals militärisch stärksten linken Partei Komala. Die gegründeten Partisaneneinheiten beteiligen sich im Widerstandskampf gegen das iranische Militär, das nach dem Fatwa von Ayatollah Khomeini in das kurdische Kernland einmarschiert war.

Nach einer Zeit des erbitterten Widerstands wurden die kurdischen Kräfte aus den Städten zurückgedrängt und in die Illegalität geschickt. Die Revolution ist zwar gescheitert, aber deren Hinterlassenschaften prägen noch immer die politische Kultur in Kurdistan. Die Bilder der Partisaninnen, die zwei Jahre lang die Städte Kurdistans unter ihren Füßen hatten und gegen die neu an die Macht gekommene islamische Regierung kämpften, sind im kollektiven Gedächtnis aller Menschen geblieben. Die feministischen Lehren aus der revolutionären Zeit sind trotz der Niederlage der demokratischen Selbstverwaltung in allen gesellschaftlichen Strukturen eingebrannt und lösen entsprechende Reaktionen auf die Gegenwartsgeschehnisse in der iranischen Gesellschaft aus.

Eine Partisaneneinheit der marxistischen Partei Komala in der 80er Jahren

Wir sind hier fremd …

Dieser Satz von Jinas Bruder bei ihrer Festnahme in der U-Bahn-Station spricht vielen Kurdinnen und anderen Angehörigen der ethnisch unterdrückten Volksgruppen aus der Seele. Dass man sich in seinem eigenen Land fremd fühlt, ist ein Gefühl, das wenigen bekannt ist. Die zentralistische Politik von sowohl dem heutigen islamischen Regime als auch von dem autokratischen, monarchistischen hat über die letzten Jahrzehnte eine persisch-zentrierte Identität geschaffen, die alle anderen Volksgruppen durch eine offensive Akkulturation an die Identität des im Zentrum lebenden Menschen anpassen wollte. Der kolonialistische iranische Staat zwang alle anderen, nicht-persischen Gruppen, sich die persische Sprache anzueignen und ihre Sprache, die Kultur und Lebensweise wurde jahrelang das Thema der Abwertungen und Herablassungen im staatlichen Fernsehen und Büchern. Ein kultureller Kolonialismus, der zu einer Zwangsassimilation oder einem Gefühl des Fremdseins geführt hat. All das ist zu einem kollektiven Trauma gewordem, was sich in Begegnung mit den Sicherheitskräften am deutlichsten zeigt. Jina, nach Worten von ihrer Tante auf der Beerdigung, geriet in Panik, als sie von den Sittenpolitzisten festgenommen wurde. Sitzend und weinend an ihrem Grab stellt die Tante die Frage: »Warum hattest du denn so viel Angst, liebe Jina?«. Jina hatte Angst, da sie aus der kollektiven Erfahrung ihrer Volksgruppe, voller Hinrichtungen und Unterdrückungen, wusste, dass sie bloß Grausamkeiten zu erwarten hatte.

Das Verhältnis der ethnisch unterdrückten Gruppen (Kurden, Belutschin, Araber etc.) zu der Polizei im Iran ist ähnlich dem schwarzer Menschen in den USA. Der Unterschied liegt aber hier darin, dass das antikoloniale Bewusstsein der kurdischen Bevölkerung sie in eine Position gebracht hat, von der aus sie auf jeglichen Unterdrückungsmechanismus mit dem Beigeschmack der ethnischen Unterdrückung eine politische, angemessene Antwort geben kann. Anstatt die ethnische Unterdrückung zu leugnen, versucht die kurdische Bewegung die Menschen unter dem Motto „Gleichberechtigung für alle ethnische Gruppen“ zu mobilisieren.

Die Mobilisierung- und Organisationskraft in Kurdistan

Die andere, zu lernende Besonderheit in Rojhalat ist die enorme Mobilisierungs- und Organisationskraft der in der kurdischen Autonomieregierung im Irak stationierten kurdischen Partien. Die nationalistisch-sozialdemokratische KDP-I und die marxistische Partei Komala haben zwar nicht mehr die militärische Schlagkraft, die sie in früheren Jahren nach der Revolution von 1979 besaßen, doch sie üben durch ihre zahlreichen Sympathisant:innen und Anhänger:innen im Inland immer noch einen erheblichen Einfluss auf die politische Szene in Rojhalat aus. Das hat sich insbesondere bei den letzten Aufrufen zum Generalstreik in kurdischen Städten gezeigt, wo die Arbeit in den gesamten kurdischen Gebieten lahmgelegt wurde. Eine progressive Methode des zivilen Ungehorsams, die auch jetzt allmählich von den anderen Teilen des Irans übernommen wird.

Die Klassenfrage

Wer mal in Teheran gelebt hat, kennt die krassen Klassenunterschiede und damit verbundenen sozialen Privilegien für einige und Benachteiligungen für die Anderen. Um die Klassenfrage und die Geschlechtsfrage zusammenzudenken, kann man die Hauptstadt Teherans als Paradebeispiel nehmen; Im Norden Teherans, in den reichen Stadtvierteln, können die Frauen seit langem die Rechte genießen, die den Frauen der mittleren und unteren Klasse vorenthalten werden. Die sogenannten „Rich Kids of Tehran“, über die auch eine Twitter- & Instagramseite existiert, die diese kritisch kommentiert, posten seit Jahren Bilder und Videoaufnahmen von ihrer luxuriösen Lebensweise, die offensichtlich von der islamischen Regierung toleriert wird. Wohlhabende Männer und Frauen baden und tanzen zusammen, ohne sich an islamische Kleidervorschriften zu halten. Diese Bilder nehmen die Rechts- und Linksliberalen im Westen als ein Zeichen der Liberalität, die mehrheitliche iranische Gesellschaft aber als Affront gegen all diejenigen, die nicht über diese Freiheitsrechte verfügen. Diejenigen, die Kontakte in der Regierung, Kapital und kulturelle Macht haben, erhalten Sonderrechte, die den Frauen wie Jina, die in Teheran die kostengünstigste Mobilitätform (Bahnfahren) nutzen müssen, vorenthalten werden. Um es etwas salopp auszudrücken: Die Regierung traut sich nicht, sich mit der Klasse der Kapitalbesitzer anzulegen. Der andere vereinende Grund war daher die sozioökonomische Herkunft von Jina, mit der sich die Mehrheit der iranischen Frauen und Männern identifiziert haben.

The rich kids of Tehran/Instagram

Auch was die Demonstrationen betrifft, ist es kristallklar, dass es die ökonomisch benachteiligten Gruppen sind, die Veränderungen in einer Diktatur herbeiführen können. Wenn eine Demonstration sich, wie im Fall des Irans, in einen Straßenkampf verwandelt, dann bleibt nur die:der auf der Straße, die:der nichts zu verlieren hat. Die Obdach- und Arbeitslosen, die Lastenträger, kurzum all diejenigen in prekären Verhältnissen, die kaum ihr Nachtbrot verdienen können, sind die tragenden Säulen der Auseinandersetzung mit den bis an die Zähne bewaffneten Sicherheitskräften. Die Klasse der Unternehmer und Kapitalisten, die jahrelang von dem kapitalistischen Wirtschaftssystem profitiert hat, beobachtet die Entwicklungen mit großer Besorgnis. Während die Sanktionen der USA die unteren Schichten in die Armut getrieben haben, hat die herrschende Klasse sich durch das Umgehen der Sanktionen mehrfach bereichert und macht sich gerade ernsthafte Sorgen um den Erhalt dieser Gewinne.

Was die Forderung der Frauen angeht, versuchen die Liberalen, die Proteste auf oberflächliche Forderungen nach Aufhebung der Kleidervorschriften zu reduzieren. Die linken Feministen dahingegen heben andere geschlechtsbasierte Unterdrückungsformen wie Lohndiskriminierung, die Nicht-Beteilung der Frauen im Erwerbsleben und ihre Unterrepräsentation in allen gesellschaftlich-produktiven Sphären hervor.

Das, was man aus den Protesten im Iran lernen kann, ist, die Macht der Massenorganisationen anzuerkennen, den Schnittpunkt zwischen Geschlecht, Ethnie und Klasse zu berücksichtigen, sich mit ernsten politischen Angelegenheiten mit radikalem emanzipatorischem Potenzial auseinandersetzten und nicht in betroffenes Schweigen zu verfallen, wenn den Zugehörigen der Minderheitsgruppen Gewalt angetan wird.

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Es ist der 28. April 2021, erster Tag des Nationalstreikes in Kolumbien. In Medellín liegt der 17 jähriger Jugendliche Marcelo Agredo auf der Straße. Aus einem Loch in seinem Kopf fließt das Blut, genau dort wo ihn die Kugel aus dem Lauf der Pistole eines Polizisten getroffen hat. Er ist tot.

Das Video dazu ging auf Social Media viral, genau wie unzählige andere in denen staatliche Sicherheitskräfte auf Demonstrant:innen schossen.

Wie weit kann man ein Volk terrorisieren, bis es zurückschlägt? Der kolumbianische Narco-Staat befindet sich seit ungefähr einer Woche im Krieg mit dem streikenden Volk. Auslöser für den Konflikt war ein Nationalstreik gegen bevorstehende Steuer-Reformen, doch die Bilder der farbenfrohen und solidarischen Massenproteste werden überschattet von der Reaktion der kolumbianischen Oligarchie. Kolumbien ist ein Land, in dem eine winzige korrupte Elite ihre Interessen um jeden Preis durchsetzt, sei es mit Gewalt. Die derzeit andauernden Proteste sind die größten, militantesten und radikalsten seit Jahren. Gibt es die Chance auf eine Renaissance?

Generalstreik in Kolumbien gegen neoliberale Reformen

Das nationale Streikkomitee (Comité Nacional de Paro, CNP) rief zu erneuten Protesten gegen neoliberale Wirtschaftsreformen der ultrarechten Regierung von Präsident Iván Duque auf. Der 28. April war der Startschuss für eine Landesweite Mobilisierung unter dem Motto “Für Leben, Frieden, Demokratie und gegen das neue Schwindelpaket Duques und die Steuerreform”.

In circa 600 Städten und Gemeinden hat es Kundgebungen, Hafen- und Straßenblockaden und riesige Demonstrationen gegeben. Getragen werden die Proteste von allen Gesellschaftsgruppen, besonders ist aber die militante Präsenz der Jugend erkennbar. Auch Indigene Organisationen mobilisieren tausende Menschen. Die ultrarechte Regierung versucht den Volksaufstand mit paranoiden Theorien zu erklären: Verantwortlich sein angeblich die kommunistischen Guerillas FARC-EP und ELN. Am 5. Mai „verwechselte“ der Kriegsverbrecher und ex-Präsident Álavro Uribe die Flagge der indigenen Organisation Minga mit der der ELN Guerilla auf Twitter. Nach ein paar Minuten war der Tweet wieder gelöscht.

Anstatt mit den Demonstrierenden in den Dialog zu treten, eröffnete der Staat das Feuer. Seit dem 28. April tötete der Staat 35 Menschen innerhalb von 4 Tagen. Zusätzlich gibt es Opfer von Vergewaltigung und massiver Polizeigewalt. Fast 100 Menschen werden derzeit vermisst.

Trotz der massiven Gewalt kapitulierten die Massen nicht und die Reformen mussten zurückgenommen werden – so zumindest die Ankündigung des Staates. Dieser Erfolg gehört den Kolumbianer:innen, doch er ist ein kleiner Sieg in einem Jahrelangen blutigen Klassenkampf. Das Volk hat noch viele Rechnungen mit dem Staat offen. Deutlich bei den Statistiken der Polizeigewalt wird die Kontaktlosigkeit der Oligarchie mit der rebellierenden Arbeiter*innenklasse. Der Frieden auf den Straßen Kolumbiens ist grade keine Perspektive. Der Kampf geht weiter.

Klassenkampf in Kolumbien hat eine lange Geschichte, die nicht mit dem Nationalstreik anfing und mit ihm auch nicht enden wird. Die Regierung tut alles, was der US-Imperialismus ihr befielt und bekämpft jeden, der sich dieser Sache in den Weg stellt. Seit über 50 Jahren ist der Staat im Krieg mit der aufständischen marxistischen Guerilla FARC-EP und ELN. Es gibt ein Sprichwort in Kolumbien: Es sei ungefährlicher in die Berge zu gehen (sich der Guerilla anzuschließen), als eine Gewerkschaft zu gründen. Laut offiziellen Zahlen sind 96.000 Zivilist:innen in den letzten sechs Jahrzehnten durch die rechtsextremen Paramilitärs getötet worden.

 „Die Polizei greift unsere Leute an. OMG ich habe Angst.“

In den letzten Tagen konnte ich mein Handy nicht mehr aus der Hand legen. Ich war im ständigen Kontakt mit Freund:innen in Kolumbien. In einer Nacht bekam ich eine Nachricht aufs Handy. Ein Freund aus der Hauptstadt Bogota schrieb mir: “Die Polizei greift unsere Leute an. OMG ich habe Angst. Mein Freund, hier in Kolumbien töten die Cops die Menschen. OMG, sie schießen gegen das Volk. Der Präsident befahl gegen alle streikenden Menschen zu schießen.” Ich fragte ihn, ob er Schießereien miterlebt hat. “Ja, in meiner Stadt. Sie schossen aus einem Auto als sie durch die Menschenmassen fuhren.” Dann in der nächsten Nacht wieder: „Die Situation ist jetzt so viel schlimmer. Die Cops töten unsere Leute, OMG Ich habe so viele Videos gesehen. In Cali, Valle del Cauca sind Sie jetzt ohne Strom und es wird das Militär eingesetzt, welches scharf schießt.“

In dem paranoiden Blutrausch der kolumbianischen Cops wurden selbst eine UNO Beobachtungsmission am 3. Mai unter Beschuss genommen. Einzelne Polizisten und Armeesoldaten kündigten auf Social Media an, dass sie nicht auf die Proteste schießen werden. Ihre Beiträge gehen allerdings in der Flut von unzähligen Videos unter, welche den Terror dokumentieren. Cops die von fahrenden Motorrädern in Menschenmengen schießen, Cops die auf sich nicht mehr bewegende Körper einschlagen, ja teilweise sind ganze Straßenabschnitte ein Blutbad.

Bilder aus den Großstädten können an einen Bürgerkrieg erinnern. In den Straßen hängt der Nebel von Tränengas.  Militär und Polizeihubschrauber kreisen 24/7 über den Barrios. Regelmäßig sind Schüsse zu hören. Ausgebrannte Busse als Barrikaden. Ausgeräumte Banken und geplünderte Geldautomaten. Viele trauen sich seit Tagen nicht mehr auf die Straße. Der reguläre Alltag ist derzeit unmöglich. Trotz alledem gehen Hunderttausende auf die Straße zum Protestieren. Viele haben nichts mehr zu verlieren, 42 % der Kolumbianer:innen leben in Armut.

„Gebt ihr uns kein Brot, geben wir euch kein Frieden!“

Am Anfang des Textes steht die Frage „Wie weit kann man ein Volk terrorisieren, bis es zurückschlägt?“. Neben den unzähligen Bildern der Gewalt des Staates gibt es auch heldenhafte Szenen, die mit den Handykameras hinter den Barrikaden aufgenommen wurden.

 Zu sehen sind meist Jugendliche, die bis ans Äußerste ihrer Grenzen gehen und selbst vor Schüssen nicht Halt machen. Videos aus der Sicht der Primera Linea, wie sie in Formation auf Polizeieinheiten stürmen.  Es kursieren auch bereits mehrere Videos wie Demonstrant:innen die staatlichen Sicherheitskräfte mit Handfeuerwaffen unter Beschuss nehmen. Am 6. Mai durchbrachen Demonstrant:innen die Absperrungen zum Nationalkapitol. Nur durch Sondereinheiten der Polizei konnte der Sitz des Kongresses verteidigt werden. Im Land herrscht eine große Wut, manche würden dies als revolutionäre Stimmung beschreiben, so etwa die kolumbianische marxistische Guerilla:

„Die Tage der Straflosigkeit der Determinanten des staatlichen Völkermords sind gezählt. Duque und Uribe, Zapateiro und Vargas, müssen sich für diese Toten verantworten. Wir rufen alle bolivarischen und patriotischen Militärs auf, die Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der Luftwaffe, der Armee und der Marine, um den Nationalstreik zu unterstützen“, heißt es in einem Comunique der aufständischen FARC-EP Zweites Marquetalia. Ein weiteres Comunique einer FARC-EP Front in der ländlichen Region Cauca erklärt, wie sie mit den Menschen auf der Straße Seite an Seite stehen werden.

Ich bat noch eine weitere Genossin, die jede Nacht auf den Straßen Kolumbiens ist, um letzte Worte für diesen Artikel. Sie schrieb mir: “Meine Erfahrung aus dem Protest ist ein Gemisch der Gefühle von Nostalgie, Adrenalin, bis zu Wut und Hoffnung. Denn dieser ganze Kampf gemeinsam mit meinen Freund:innen, die hier zu meiner Familie geworden sind, wird in einem besseren Land gipfeln. Es ist genau diese Empathie, mit der ich hoffe, zusammen mit allen anderen einen Weg zu schaffen, wo nie wieder einem Menschen mit Gleichgültigkeit begegnet werden wird… ¡Mi nación es mi gente! (Meine Nation ist mein Volk!)”

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Seit dem 17. Oktober ist die chilenische Bevölkerung im offenen Aufstand gegen den Neoliberalismus und die Regierung. Eine der zentralen Forderungen der Bewegung ist eine neue Verfassung, da die aktuelle noch aus der Militärdiktatur stammt. Die Regierung antwortet auf die Proteste mit brutaler Repression: 23 Menschen wurden bereits getötet, mehr als 350 haben durch Geschosse ein Auge verloren, es gibt tausende Verletzte, zuletzt, weil die Polizei Natronlauge in das Wasser der Wasserwerfer mischte. Aber weder die Repression, noch Befriedungsversuche, wie die Ankündigung eines Referendums im April 2020 über eine neue Verfassung, noch kleine Sozialreformen, haben dazu geführt, dass die Proteste aufhören. Die Chilen*innen haben es satt ausgebeutet zu werden.

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Athena, 30, ist eine Social Media Managerin und Menschen- und Frauenrechtlerin aus dem Iran, die in der Türkei lebt. Ihre politischen Aktivitäten begann sie 2008 mit der Kampagne für den Reformkandidaten Mirhossein Mousavi. Nach den Wahlen, als der langjährige Präsident Mahmoud Ahmadinejad den Sieg für sich beanspruchte, nahm sie an den landesweiten Protesten, an mitorganisierten Versammlungen und oppositionellen Reden an ihrer Universität in Teheran teil. In den letzten Jahren beschränkte sich ihre Tätigkeit im Land darauf, das Bewusstsein für das Schicksal der politischen Gefangenen und die allgemeine politische Situation im Iran zu schärfen. Als Frauenrechtlerin übersetzt sie Bücher und beteiligt sich an der Organisation politischer Kampagnen für Frauenrechte im Nahen Osten.

Im Iran gibt es seit Freitag, dem 15. November einen massiven Aufstand. Wie konnte die Erhöhung des Benzinpreises zu solchen gewaltigen Protesten führen?
Seit Jahren rationiert die Regierung das Benzin. Mit dem Preis von 10.000 iranischen Rials (0,27 €) pro Liter. Am Freitag gaben sie bekannt, dass der neue Preis 15.000 iranische Rials (0,41 €) pro Liter betragen wird. Dieser Preis gilt für 60 Liter pro Monat. Wenn man mehr benötigt, wird es für 30.000 iranischen Rials (0,82 €) pro Liter verkauft. Das ist das dreifache des ursprünglichen Preises. Für die meisten Menschen im Iran war das eine schreckliche Nachricht. Die schwierige wirtschaftliche Situation zwang die Menschen bereits in die Knie. Viele Leute haben begonnen, zusätzliche Arbeiten für Uber-ähnliche Taxi-Plattformen wie Snap und Tap30 zu erledigen – so dass dieser Preisanstieg sofort spürbar war. In der Provinz Chuzestan, mit einer arabischen Mehrheit, können viele Menschen ihr Leitungswasser nicht trinken, anders als im Rest des Landes. Die Menschen dort müssen ihr Wasser in von Wassertankern kaufen. Der Preis pro Wassertanker verdoppelte sich aufgrund des Preisanstiegs. Und das war erst am ersten Morgen nach der Nachricht. Für viele Menschen würde das tägliche Leben also nur extrem teurer werden – und die Menschen gerieten in Panik.

Wie haben die Menschen angefangen zu protestieren?
In der Nacht der Ankündigung reagierten die Leute auf Social Media – auf twitter und auf instagram. Instagram ist eigentlich das einzige Social Media, das im Iran nicht blockiert wurde.

Einige Leute drückten ihre Wut aus, andere baten ihre follower, etwas zu tun. Die Menschen begannen, Botschaften darüber zu verbreiten, wie sie auf die Straße gehen würden und ihre Autos dort stehen zu lassen, inspiriert von Protesten in anderen Ländern. Die ersten Videos, die ich sah, waren aus Isfahan, wo die Leute in ihren Autos hupten und sich nicht bewegten. Dann entstanden immer mehr Videos. Menschen blockierten die Straßen mit kleinen Steinen, setzten sich auf Autobahnen und so weiter. Sie begannen sich in den Hauptstraßen ihrer Städte zu versammeln, auch ohne ihre Autos.

Hat die staatliche Repression sofort begonnen? Und gegen wen richtet sie sich?
Es war eigentlich eine kleine Überraschung. Die Leute erwarteten nicht, dass so viele andere mitmachen würden, und die Polizei erwartete nicht, dass es so ernst sein würde. Zuerst ging es in den Slogans um Korruption und darum, wie der Staat das Ölgeld verloren hat und wie er sein Geld jetzt von den Menschen nehmen will, unter Bezugnahme auf die wirtschaftliche Situation und all die Korruptionsskandale der Regierung in letzter Zeit. Sie riefen auch, dass die Regierung Geld nach Palästina schickt und dass sie wollen, dass das Geld der Bevölkerung zu Gute kommen soll. Die Demonstrant*innen bedeckten ihre Gesichter nicht wie in der Vergangenheit. Es war zunächst ein wirklich ruhiger und friedlicher Protest.

Nach und nach mischte sich die Polizei ein und es gab ein Bild, das Menschen zeigte, die die Verkehrskameras bedeckten. Die Gewalt begann an diesem Nachmittag zu eskalieren. Eines der ersten Videos zeigt die Revolutionsgarde in Mashhad. Die Person die filmt sagte, dass die Garde Fenster zerschlugen, und man kann Autos mit kaputten Windschutzscheiben sehen, die von ihnen umgeben sind. Dies geschah am Samstagabend. Die Leute erwarteten, dass die Polizei und die Revolutionsgarde anfangen würden, wie üblich zu unterdrücken, aber anscheinend hatten die Leute keine Angst mehr. Sie blieben und wehrten sich, und im Gegenzug wurde die Garde aggressiver. Universitätsstudent*innen in Teheran und anderen Städten haben sich den Protesten angeschlossen, und sie wurden verhaftet, in Krankenwagen aus der Universität gebracht. Wir wissen nicht, was jetzt mit ihnen passiert. Die Menschen in Shiraz gaben der Polizei Blumen was mit dem Einsatz von Wasserwerfern beantwortet wurde. In Kermanshah, Kurdistan, trieben die Menschen die Revolutionsgrade mit Steinen zurück, und wurden mit Tränengas beschossen. Am frühen Sonntag gab es Videos von Menschen in Schiraz und Sirjan, die von den Revolutionsgarden erschossen wurden. Wegen der Situation mit dem Internet ist es schwer herauszufinden, wie viele Menschen getötet und verletzt wurden. Amnesty International hat am Montag, den 18. November, 106 Personen gemeldet. Einige Plattformen haben bis Donnerstagmorgen mehr als 200 Tote gezählt.

Im Moment gibt es keine Möglichkeit, mit Menschen im Iran zu kommunizieren. Wann wurde das Internet durch den Staat abgeschaltet?
Ja, als die Proteste am Sonntag weitergingen, wurde die Internetverbindung schwächer. Dann hat der Staat es komplett abgeschaltet. Nur eingeschränkte Bereiche und einige wenige Server in Teheran funktionieren und werden beobachtet. Die meisten der Nachrichten, die wir in den letzten Tagen haben, sind durch Anrufe bei Freund*innen im Iran verbreitet worden. Auch durch einige Videos, die sie über diese eingeschränkten Server senden konnten. Leute, die Videos gemacht haben, werden jetzt allerdings verhaftet. Die iranische Bevölkerung wird immer isolierter und hilfloser.

Was kannst Du uns über die Verhaftungen sagen? Welcher Art von Repressionen und Verfahren sind die Menschen ausgesetzt?
Die Situation für politische Gefangene war im Iran immer hart. Sie werden meist mit falschen Vorwürfen angeklagt, zum Beispiel werden sie vom Regime als Sicherheitsgefangene oder Spione für Israel oder die Vereinigten Staaten bezeichnet. Sie können nicht den Anwalt ihrer Wahl haben. Es gibt nur bestimmte Anwälte, die der Staat ihnen zuweist. Aber die meisten politischen Gefangenen werden ohne einen Anwalt oder die Chance auf eine tatsächliche Verteidigung verurteilt. Viele werden gefoltert und gezwungen, im öffentlichen Fernsehen Geständnisse abzulegen. Auch die Familien der politischen Gefangenen werden unter Druck gesetzt. Und das nicht nur für Aktivist*innen im Iran. Viele Aktivist*innen außerhalb der Grenzen des Iran machen sich Sorgen um ihre Familien. Die Regierung hat in der Vergangenheit Familien von Exilaktivist*innen verhaftet. So wurde beispielsweise in der Vergangenheit der Bruder von Massih Alinejad verhaftet, um sie unter Druck zu setzen, ihre dissidente journalistische Arbeit im Ausland einzustellen. Oder der Staat nimmt den Familien von politischen Aktivist*innen ihr Eigentum weg, um sie zu zwingen, in den Iran zurückzukehren.

Die aktuellen Proteste wurden als “führungsloser Aufstand” bezeichnet.
Ja, dieser Aufstand scheint keine Anführer zu haben, und mit Ausnahme der Arbeiter*innen der Zuckerfabrik Haft Tapeh, die in einen Streik getreten sind, gab es bei den Protesten keine Anzeichen von Gewerkschaften oder anderen Arbeiterorganisationen. Die meisten Nachrichten und Videos zeigen Menschenmassen mit wirtschaftlichen Bedenken, die die Mullahs loswerden wollen. Die Leute schreien: “Gas wurde teurer und die Armen ärmer”, “Nieder mit dem Diktator”, “Rohani/Khamenei lasst das Land in Ruhe”, “Akhond (mullahs): Verschwindet!”. Einige Demonstrant*innen setzten Banken, Gerichtsgebäude und Religionsschulen in Brand.

Wie könnte das Internet ohne die Zustimmung des Regimes in den Iran zurückgebracht werden?
Die Menschen brauchen eine sichere Möglichkeit, sich im ganzen Land miteinander zu verbinden, Nachrichten und Videos zu versenden und diese Nachrichten endlich über die Grenzen hinauszutragen. Es wurden einige Netzwerke vorgeschlagen, die Telefone ohne Internet über Bluetooth und WiFi verbinden. Einer von ihnen ist bridgefy, die in Hongkong verwendete App. Aber nicht viele Menschen sind sich dieser Möglichkeiten bewusst und wissen nicht, wie man sie bekommt und wie man sie nutzt.

Auf der anderen Seite haben viele Menschen auch Angst, sie zu benutzen und ihre Identität und Telefonnummer auf Plattformen zu veröffentlichen, zu denen die Regierung Zugang erhalten könnte. Daher wäre jedes Medium, das nützliche Informationen und Anweisungen über diese Art von Netzwerken liefert, im Moment hilfreich. Jede Art von Finanzierung für die Entwicklung sicherer Apps und deren Versand an Iraner*innen würde helfen. Die Regierung braucht das Internet für ihr eigenes Geschäft, also müssen sie sich irgendwann wieder verbinden. Aber bis dahin wird es für die Demonstrant*innen, die gerade verhaftet und getötet werden, zu spät sein. Darüber hinaus hat das Regime versucht, ein eigenes Intranet, ein nationales Netzwerk, aufzubauen, den Geschäftsbetrieb aufrechtzuerhalten und die Bürger*innen für immer von den internationalen Verbindungen auszuschließen. Dazu sind sie im Moment nicht in der Lage, aber es scheint wirklich eine Frage der Zeit zu sein. Früher oder später werden die Menschen im Iran satellitengestütztes Internet und Telefone benötigen, um die Isolation zu bekämpfen. Und das kann nicht ohne internationale Unterstützung geschehen.

# Interview: Amanda Trelles Aquino ist Journalistin und Aktivistin aus Berlin. Sie hat in Südamerika, Europa und im Nahen Osten gelebt.
#Titelbild: middle-east-online

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Heute, am 06.08.19, wurde eine Wohngemeinschaft in Dubliner Straße 8 in Berlin-Wedding zwangsgeräumt – allerdings nicht ohne Widerstand. Die WG kämpft seit vier Jahren zusammen mit linksradikalen Stadtteilgruppen für ihre Wohnung. Was hat es gebracht und welche Konsequenzen können gezogen werden?

Mobilisiert hat die WG auf jeden Fall, auch zur heutigen Zwangsräumung. Schon Tage zuvor waren im Wedding überall Plakate zu sehen. „Zwangsräumung stoppen“ als Aufruf, am 06. August um 6 Uhr morgens zur Dubliner Straße 8 zu kommen und die Räumung zu verhindern. Auch online wurde auf allen Kanälen mobilisiert, die man sich vorstellen kann: Homepages verschiedener Gruppen, auf de.indymedia.org, Facebook und Twitter. Aber auch kiezübergreifend ist die Dubliner 8 bekannt. So mobilisierte zum Beispiel auch die geräumte Friedel54 . „Man darf nicht vergessen: die meisten halten solche Prozesse nicht ewig durch und ziehen lieber aus, als sich den ewigen Stress mit den Eigentümern zu geben. Die WG in der Dubliner aber kämpft entschlossen und antikapitalistisch seit vier Jahren. Das finden viele toll und deswegen unterstützen auch so viele.“, so Alex vom Bündnis Zwangsräumung verhindern.

Stress haben die Bewohner*innen der seit 2010 bestehenden WG schon lange: 2012 wurde das Haus an die italienische Briefkastenfirma „Großvenediger GmbH“ verkauft, darunter ist seit 2014 die Martina-Schaale-Hausverwaltung zuständig. Seitdem musste sich die WG immer wieder mit falschen Betriebskostenabrechnungen, absurden Vorwürfen und mehreren fehlerhaften Kündigungen herumschlagen. „Zunächst kämpften wir gegen die Eigentümerfirma und die Hausverwaltung. Allein das war schon anstrengend.“ so Flo, einer der Bewohner der Dubliner 8.

Der Rechtsanwalt der Briefkastenfirma Hans Georg Helwig hatte schon in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, was er damit meint, wenn er auf seiner Homepage mit “kreativen rechtlichen Lösungen” wirbt. So verklagte er die WG zum Beispiel wegen einer vermeintlich unzulässigen Mietminderung. Diese erfolgte, weil ein Wasserschaden nicht behoben wurde. Vor Gericht meinte Helwig anschließend, dass die Mietminderung zwar zulässig war, sie aber in den darauffolgenden Wochen nicht dem Abtrocknungsgrad des Wasserschadens angepasst worden sei. Die WG wurde daraufhin zu einer Räumung zum 25.04.18 verurteilt, das Urteil wurde aber wegen schwerer Rechtsfehler in der Berufung aufgehoben und die Räumung kurzerhand wieder abgesagt. Helwig blieb weiterhin kreativ.

So behauptete er nun, dass die WG gar keine WG sei, sondern eine “Personenmehrzahl”. Während man in einer WG die Mieter*innen selbstständig wechseln kann, bedeutet ein Wechsel bei einer Nicht-WG eine “unerlaubte Überlassung der Wohnung an Dritte” – und ist dadurch ein Kündigungsgrund. Richter Reifenrath bestätigte den gegnerischen Anwalt darin, dass die vier jungen Menschen in der Wohnung keine WG seien. Reifenraths Begründung: bei zwei Frauen und zwei Männern in einer Wohnung handle es sich ganz klar um Paarbeziehungen. Diese konservative Vorstellung von Beziehungen führte schließlich zum Räumungstitel. Den Stress mit Eigentümer, Hausverwaltung und Justiz macht die WG seit vier Jahren öffentlich und bettet sie durch die Zusammenarbeit mit dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ und der linksradikalen Stadtteilinitiative „Hände weg vom Wedding“ in antikapitalistische Stadtteilkämpfe ein.

„Eigentlich war alles dabei, was man sich vorstellen kann. Menschen haben im Kiez plakatiert und geflyert, ständig auf unsere Situation aufmerksam gemacht. Wir haben an vielen Demonstrationen und öffentlichen Veranstaltung teilgenommen, zum Beispiel auch beim dem Lauf ‚Run for Rebels‘. Dieser wurde von der Radikalen Linken Berlin (RLB) organisiert und ging an vielen bedrohten Projekten und Wohnungen vorbei. Wir waren mit einem Stand vertreten. Insgesamt haben wir viel Zuspruch, vor allem von der Nachbarschaft, bekommen.“, so Flo. Eine besondere Aktionsform: die Online-Soap „Verdrängt in Berlin“. Sie dokumentiert all die Einzelheiten rund um die WG, die Vermietung und Hausverwaltung und deren Zusammenarbeit mit dem staatlichem Repressionsapparat. Denn diesen bekommt die WG, seit sie ihren Stress mit dem Eigentümer und der Hausverwaltung zusammen mit antikapitalistischen Gruppen öffentlich macht, auch deutlich zu spüren. „Am 30.04.19 gab es zum Beispiel im Rahmen der Organize Demo eine Kundgebung vor unserem Haus. Das ganze Haus war von einer Polizeikette umstellt.“ Aber nicht nur bei Demonstrationen, wo die Präsenz von Polizist*innen schon Normalität geworden ist, war die WG mit ihnen konfrontiert.

Als die angedrohte Räumung zum 25.04.2018 zwei Tage vorher abgesagt wurde, veranstaltete die WG in Freude darüber vor ihrem Haus ein gemeinsames „Käffchen statt Räumkommando“. Nicht eingeladen, trotzdem vor Ort: uniformierte Bullen, welche die Aktivist*innen und solidarischen Nachbar*innen stundenlang beim Kaffeetrinken beobachten. Im Innenhof des Hauses waren die Beamt*innen auch schon mal, „wahrscheinlich, um sich für die Zwangsräumung vorher die Lage anzuschauen“. Flo sieht sich seit der intensiven Stadtteilarbeit auch mit vielen Anzeigen konfrontiert. Die Vorwürfe: „eine Anzeige wegen angeblicher Verleumdung durch Verbreitung eines Plakats, eine weitere wegen geklebten DIN-A4-Zetteln an Haustüren. Das Klebeband soll wohl Rückstände an den Türen hinterlassen haben, woraus eine Sachbeschädigung konstruiert wurde. Die meiner Meinung nach lächerlichste Anzeige war wegen Hausfriedensbruch. Die Hausverwaltung hatte uns wegen Betriebskosten betrogen, weswegen wir direkt zu ihnen gingen. Sie ließen uns rein, aber als ich nach den Betriebskostenbelegen fragte, rief sie die Polizei und erstattete Anzeige. Die wurde auch angenommen.“

Die WG ist der Hausverwaltung und den Repressionsbehörden offensichtlich ein Dorn im Auge, weshalb, lassen sie auch durchsickern: im Zuge der Anzeige wegen Sachbeschädigung bekam Flo im Dezember 2017 von der Polizei eine schriftliche Befragung zugesandt. In dieser wird er nach seiner Beziehung zur linksradikalen Gruppe „Hände Weg vom Wedding“ gefragt.

Eindeutig: wenn linksradikale Gruppen eng mit der Nachbarschaft, wie in dem Fall der WG der Dubliner 8 zusammen arbeiten und von dieser auch viel Zuspruch erfahren, stellt das eine Bedrohung für den Staatsapparat dar. Anders ist die Aufdringlichkeit der Bullen nicht zu erklären. „Umso mehr wir mobilisieren und mit antikapitalistischen Perspektiven in die Nachbarschaft reingehen, desto mehr betreibt natürlich auch die Gegenseite, um uns im Keim zu ersticken“, so Alex von dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“.

Heute ist der Tag, an dem diese Mobilisierung und intensive Arbeit von vier Jahren um 6 Uhr zusammentrifft in Form von über 100 Menschen, die sich gegen die Zwangsräumung wehren wollen. Die Gerichtsvollzieherin hat sich um 7 Uhr angekündigt. „Unsere Erfahrung ist aber, dass es besser ist, früher da zu sein. Sonst machen die Bullen vielleicht alles um sieben dicht, dann kommt man nicht mehr zum Haus und kann nicht blockieren“, so Alex. Es gibt eine angemeldete Kundgebung direkt am Eingang der Dubliner Straße 8 mit bis zu 30 Demonstrant*innen, zwei Sitzblockaden vor Eingängen in der Glasgowerstraße, jeweils mit etwa 20-30 Blockierenden. „Wir sitzen hier, weil wir denken, dass die Bullen und die Gerichtsvollzieherin über die Eingänge zur Wohnung wollen.“, so eine Aktivistin in den Blockaden.

Vor Ort sind anfänglich nur wenige Polizist*innen, sowie allerdings die Zahl Demonstrant*innen steigt, kommen auch immer mehr Einsatzfahrzeuge und Wannen dazu. Zwischenzeitlich sind sieben Einsatzfahrzeuge und fünf Wannen vor Ort. „Fast eins zu eins Betreuung hier“, kommentiert ein Aktivist. Von Anfang an mit dabei: Zivilkräfte vom Staatsschutz, der PMS („Politisch Motivierte Straßengewalt“), welche das Geschehen beobachten . Die PMS-Einheit umfasst etwa 60 Polizeibeamt*innen zur Überwachung, Verfolgung und Einschüchterung politischer Aktivist*innen. Wer bei einer Demo von ihnen ins Visier genommen wird, kann später in der Datei „Straftäter-Links“ auftauchen. Angesicht der sehr freidlichen Proteste vor der Dubliner Str. 8 völlig absurd. Zwar dröhnt es durch die Lautsprecherboxen laut und kämpferisch, von einer Gewaltbereitschaft kann aber weder bei der angemeldeten Kundgebung noch bei den Sitzblockaden ausgegangen werden.
Unter den Demonstrierenden sind linke Aktivist*innen, sowie Nachbar*innen– der Protest ist vielfältig. Sie sind laut und wütend, mit vielen Parolen, Transparenten und Schildern gekommen und machen mit Pfannen und Kochlöffeln Lärm. „Nicht wir sind kriminell, sondern das System, was solche Schweinereien wie heute hier zulässt!“ dröhnt es vom Lautsprecher.

Es zeigt sich wieder einmal, dass es nicht einmal konfrontative Aktionsformen braucht, um die Staatsgewalt im Nacken zu haben. So wird auch die gewaltfreie Sitzblockade um 6:35 Uhr von den Bullen angegriffen. Allerdings ziehen diese auch schnell wieder ab, nachdem die Blockierenden lautstark demonstrieren. „Insgesamt wirken die Bullen heute ganz schön verwirrt. Vielleicht können die hier im Wedding nicht mit so etwas umgehen? Auch ist ihre Präsenz im Vergleich zu einer Zwangsräumung in Kreuzberg nicht so stark“, so Alex.

Allzu verwirrt scheinen sie dann aber doch nicht zu sein. So wie sich Flo damals schon dachte, dass die Polizei den Innenhof der Dublinerstr. 8 ausspäht, um sich über mögliche Wege zur Wohnung zu erkunden, bestätigt sich diese Vermutung heute. Gegen 7:20 Uhr, also kurz nach Ankündigung der Gerichtsvollzieherin, verschafft sich diese mitsamt Polizeiunterstützung einen völlig anderen Zugang zum Haus als die Blockierten. „Alle Innenhöfe zwischen der Dubliner und der Parallelstraße sind miteinander verbunden, beziehungsweise nur abgetrennt durch Zäune“, erklärt ein Aktivist vor Ort. So wird ein Maschendrahtzaun von den Bullen zerstört, die Gerichtsvollzieherin nutzt einen Eingang der Parallelstraße und räumt zusammen mit der Polizei gegen 7:30 Uhr die WG.

Die Räumung bleibt nicht unkommentiert. Gegen 8 Uhr zieht anschließend eine Spontandemonstration durch den Kiez Richtung Leopoldtplatz. Auch hier sind die Leute laut und wütend. Die Nachbarschaft wird über den Lautsprecher auf die Räumung hingewiesen, was Wirkung zeigt. Trotz der Uhrzeit schließen sich einige Passant*innen an und laufen bis zum Endpunkt mit.

Obwohl die WG heute geräumt wurde und in der Vergangenheit Repression erfahren musste, bereut sie ihren Kampf nicht, im Gegenteil. Es hat sich gezeigt, dass linksradikale nachbarschaftliche Organisierung sehr viel bringen kann. „Ein Mal stand auf einem „Verdrängt in Berlin Plakat“ mit Kuli geschrieben: ‚Weiter so – ihr seid stark!‘. Auch die Unterstützung und der Zuspruch beim Flyern war viel größer als wir dachten, was uns Mut gemacht hat. Ganz viele berichteten von eigenen Problemen durch die Gentrifizierung und haben uns Unterstützung zugesagt. Das fand ich cool!“., so Flo.

„Antikapitalistische Perspektiven müssen aber noch viel mehr in die aktuelle Mietenbewegung einfließen.“, so Alex. Diese sind im Wedding durch die WG der Dubliner. 8, dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ und „Hände weg vom Wedding“ heute auf jeden Fall schon einmal angekommen. Für zukünftige antikapitalistische und herrschaftsfeindliche Kämpfe, welche nicht in der linken Blase verharren wollen, kann das nur vom Vorteil sein. Linksradikale Stadtteilarbeit und nachbarschaftliche Organisierung sind bitter nötig. Laut dem Bündnis „Zwangsräumung verhindern“ gibt es in Berlin jährlich 5.000 Räumungsurteile, 30.000 Menschen leben in Notunterkünften, 10.000 auf der Straße. Aktuell sind Alex, Cora, Diesel A, Gerald, die Habersaathstraße, Lene, die Meuterei, Munir, der Oranien-Späti, die Potse, die Liebig 34, die Reiche 73 und das Syndikat von Zwangsräumung bedroht, wobei dass nur diejenigen sind, welche ihre Situation öffentlich gemacht haben.

Aber auch berlinweit werden, angesichts dieser zuspitzenden Wohnungspolitik, linksradikale antikapitalistische Positionen lauter. Kiezkommunen bilden sich, Aktivist*innen besetzen leere Häuser und Wohnungen, in Kreuzberg verhinderten Kiezinitiativen weltweit zum ersten Mal einen Google Campus und die Zahl der militanten Aktionen gegen Verdrängung und in Solidarität mit bedrohten Projekten nimmt stetig zu. „Für tatsächliche Veränderungen ist ziviler Ungehorsam notwendig. Davon braucht es auf jeden Fall noch mehr!“, so Alex.

Am Beispiel der Dubliner 8 zeigen sich beide Seiten wachsender linksradikaler Kämpfe: Wenn antikapitalistische Perspektiven in die Mietenbewegung einfließen, fühlt sich der Staat bedroht, „denn man könnte ja ein gemeinsames Klassenbewusstsein entwickeln und damit die herrschende kapitalistische Ordnung in Frage stellen, sich gegen sie organisieren und rebellieren“, sagt Alex zwinkernd. Infolgedessen schwingt der Staat die Repressionskeule, um es gar nicht erst zu einer Organisierung kommen zu lassen. Und manchmal funktioniert diese Keule auch ganz gut. „Durch die zunehmende Repression nehmen an unseren Aktionen zivilen Ungehorsams immer weniger Leute Teil. Da merkt man dann leider schon, dass deren Strategie ganz gut aufgeht“, so Alex.

Die WG ließ und lässt sich aber nicht einschüchtern. „Wir machen auf jeden Fall weiter. Solange, bis alle in dieser Stadt leben können, unabhängig von ihrem Geld auf dem Konto.“

#Titelbild: Spontandemonstration nach der Zwangsräumung zum Leopoldtplatz

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Am Freitag den 12. April 2019 begannen sechs Internationalist*innen in Berlin einen dreitägigen Solidaritätshungerstreik mit der kurdischen HDP-Politikerin Leyla Güven, welche sich seit letztem Jahr im Hungerstreik befindet.

Es ist kalt, es schneit und es ist mitten im April 2019. Auf dem Kreuzberger Heinrichplatz, mitten in SO36, wird ein Zelt aufgebaut. In diesem begann am Freitag den 12. April der dreitägige Hungerstreik von Internationalist*innen in Solidarität mit dem Massenhungerstreik politischer Gefangenen in der Türkei. Sechs Aktivist*innen, alle organisiert im Berliner Widerstandskomitee – einem Zusammenschluss linker und revolutionärer Gruppen – nehmen Teil.

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Die Massenproteste gegen die Hamas und die israelische Besatzung im Gaza-Streifen sind Ausdruck einer Neubewertung der sozialen Frage in Palästina. Gespräch mit dem in der Westbank lebenden Aktivisten Hassan von der Palästinensischen Volkspartei (Hizb al-Sha’b al-Filastini, PPP).

In den vergangenen Wochen ist es zu größeren Demonstrationen in Gaza – auch gegen die dort regierende Hamas – gekommen. Wie würdest du diese bewerten? Was sind die Forderungen?

Wenn man die Situation in Gaza betrachten will, muss man das größere Bild analysieren. Die Menschen sind in den letzten zwei Wochen in Gaza auf die Straßen gegangen, weil sie nichts mehr haben und ihnen keine andere Wahl bleibt. Die Bevölkerung dort lebt seit 1967 unter der Besatzung und nun mehr als 15 Jahre in einem großen Gefängnis; jeder Kontakt zu Außenwelt ist de facto unterbunden. Man muss sich vorstellen, wie die Lage ist, wenn man zwei Millionen Menschen auf einem Landstreifen zusammen sammelt, in dem es keinen Zugang zu Medikamenten und nicht ausreichend Nahrung gibt.

Die Menschen sind auf die Straßen gegangen unter dem Motto: Wir wollen Leben!. Es ist verständlich, dass sie verzweifelt sind, da sie weder Chancen noch Möglichkeiten haben und auch gerade keine bessere Zukunft sehen. Diese Situation ist bedingt durch die Schließung aller Ein- und Ausgangspunkte zur Außenwelt, also dem Belagerungszustand durch Israel. Die Demonstrationen richteten sich zunächst gegen die Hamas beziehungsweise deren Milizen, die die Macht und die Kontrolle im Gazastreifen behalten wollen. Denn das ist jene Macht, die die Bevölkerung alltäglich mitbekommt. Der tiefere Grund hinter der Unzufriedenheit liegt in der israelischen Besatzung und dem Belagerungszustand. Es ist nicht die Hamas, die Gaza dicht gemacht hat, sondern die israelische Armee. Hamas organisiert nur die internen täglichen Angelegenheiten, kontrolliert aber nicht die Grenzen. Dass keine Lebensmittel oder Rohrmaterialien reinkommen, dass eine hohe Arbeitslosigkeit besteht, dass es keine Arbeit und Fabriken gibt, liegt an denjenigen, die Gaza belagern.

Die Menschen haben in ihren Forderungen völlig recht. Das sind Leute, die sich ein menschliches Leben wünschen. Sie schaffen es jedoch nicht, gegen die Israelischen Besatzung etwas auszurichten, da sie nicht mit denen im täglichen Kontakt sind. Deswegen bleibt die Hamas übrig, die unfähig ist, radikale Veränderungen zu erwirken.

Die Bewegung, die heute auf der Straße steht und sich Wir wollen leben! nennt, ist die Kontinuität einer Bewegung, die es schon seit mehr als eineinhalb Jahren gibt und die damals auf die Grenzen zum israelisch besetzten Teil Palästinas zugelaufen ist. Seitdem gibt es jede Woche und fast jede Nacht Demonstrationen, widerständige Aktionen und den Versuch, dieses Gefängnis zu verlassen. Es ist eine komplexe Lage. Die Menschen leben unter Besatzung, sie brauchen Essen, Medikamente und sie wollen frei leben.

Wie siehst du die Rolle linker und revolutionärer Organisationen in diesen Entwicklungen?

Eine wichtiger Punkt in den letzten Bewegungen, der auch als ein positives Zeichen für die palästinensische Gesellschaft erwähnt werden muss, ist, dass die Organisatoren dieser Demonstration, die von der PA [Palästinensische Autonomiebehörde, A.d.R.] und der Hamas in Gaza verhaftet wurden und Repressionen erlitten haben, hauptsächlich aus den drei größeren politischen linken Parteien, PFLP [Volksfront zur Befreiung Palästinas, A.d.R], DFLP [Demokratische Front zur Befreiung Palästinas, A.d.R] und PPP, und anderen neueren linken und demokratischen Kräften kommen.

Diese bringen, und das ist sehr wichtig, den sozialen Aspekt in den Vordergrund. Oft wird dieser durch den Kampf gegen die Besatzung unbeachtet gelassen und zurück gestellt. Im Namen des Kampfes gegen die Besatzung wurden Fragen nach dem demokratischen Umgang miteinander, faschistischen Tendenzen, die Versorgungslage und die soziale Lage umgangen. Diese Bewegung jetzt ist für uns wichtig, weil sie diese Themen wieder angeht und ein gesellschaftliches Bewusstsein schafft.

Die Demonstrationen heute sind Teil des 70-jährigen Kampfes des palästinensischen Volkes für ihre Rechte auf Selbstbestimmung und gegen die Besatzung. Wir haben gelernt, nie aufzugeben und wir werden auch nie aufgeben. Deswegen werden die Palästinenser sich gegen jede Macht verteidigen, die sie entrechtet, sei es die Besatzung oder reaktionären Gruppierungen, die die Gesellschaft unterdrücken wollen. Wir haben gesehen, dass sich die Demonstrationen auch gegen die Hamas-Kräfte richten. Ohne damit die Hamas in irgendeiner Form in Schutz nehmen zu wollen, darf allerdings auch nicht aus den Augen verloren werden, dass die Belagerung Gazas der Hauptauslöser ist.

Jede Bewegung hat lang- und kurzfristige Effekte. Wir erhoffen uns von diesen Bewegungen, die von linken Kräften geführt wurden, dass sie einen positiven Effekt gegen die islamische Regierung in Gaza haben. Wir als Palästinenser sind nicht gegen das politische Handeln der Hamas, denn wir sind der Überzeugung, dass wir das Recht haben, gegen Israel Widerstand zu leisten. Besonders die Menschen in Gaza, die de facto in einem Gefängnis leben. Allerdings sind wir gegen die soziale Politik der Hamas, ihre islamische Regierung ist für Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Sie verhindert die Entstehung einer demokratischen Gesellschaft.

Deswegen können solche Bewegungen der Rolle linker Politik in Palästina neues Leben einhauchen und zu ihrer Erneuerung beitragen. Darauf hoffen wir. Die Linke kämpft für die Armen und unterdrückten Menschen und ihr Recht auf Arbeit, Gleichheit und für ein gutes Leben. Das muss man als soziale Frage sehen und man darf die Augen davor nicht verschließen. Durch die Belagerung von Gaza und den Kampf der Hamas gegen die Besatzung wurde dieser Aspekt zum Teil ignoriert.

Was erwartest du von der internationalen Linken?

Dieser Punkt ist sehr wichtig und sollte gut analysiert werden. Die Rolle der internationalen Linken war für uns als Palästinenser stets sehr wichtig. Die Linke und damit auch die palästinensische Linke hatte stets die Position, dass der Konflikt kein religiöser/historischer ist, sondern ein kapitalistischer beziehungsweise ein Klassenkonflikt. Die zionistische Bewegung ist als eine kapitalistische, imperialistische Bewegung nach Palästina gekommen, hat das Land ihren lokalen Besitzern geraubt und sie vertrieben. Mit Geldern großer imperialistischer Staaten, die hier investiert haben, wurden Firmen aufgebaut und eine Macht im Nahen Osten geschaffen, die den Einfluss der Imperialisten ausweiten soll.

Die Rolle der internationalen Linken zusammen mit der palästinensischen ist es diesen Analysepunkt in diesem System immer wieder festzuhalten. Wir müssen diesen Standpunkt verteidigen und die Menschen davon überzeugen, dass das die Hintergründe des Konflikts sind. Dass dieser Konflikt ein Klassenkampf ist: zwischen den wohlhabenden Klassen, die Interessen der westlichen Staaten vorantreiben und der lokalen indigenen Bevölkerung, die zum Großteil Bauern waren, denen das Land geraubt wurde. Wenn wir es nicht schaffen, dies klarzustellen, wird der Narrativ des religiösen Konflikts immer stärker, was zur Unlösbarkeit der Probleme und Erstarkung faschistischer und zerstörerischer Ansätze führt.

Es ist ein Klassenkampf, es ist eine Frage der Globalisierung, es ist eine Frage der Expansion kapitalistischer Staaten und des US-Imperialismus gegen die Völker – genauso, wie damals in Vietnam und Nicaragua und heute in Kurdistan. Nur mit linken Ansätzen und Ideen können wir die gesellschaftliche und soziale Freiheit des palästinensischen Volkes erkämpfen. Gerade deshalb brauchen auch jetzt die Palästinenser die Solidarität internationaler linker Kräfte. Verbunden mit den Demonstrationen in Gaza als einem Aufstand der Armen ist es die Aufgabe linker Organisation eben jene zu verteidigen und zu unterstützen.

# Interview und Übersetzung: Heyder Paramaz

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Minerva, 28, ist marxistische Feministin aus dem Iran. Sie hat an verschiedenen linken Kampagnen teilgenommen und arbeitet mit einer Organisation, die Bildungsangebote für Arbeiter*innenkinder und Kinder aus Familien, die aus Afghanistan in den Iran geflohen sind, organisiert. Zu ihrer Sicherheit benutzt sie ein Pseudonym, da ihr Inhaftierung und Folter drohen, sollte die iranische Regierung von ihrem Kontakt zu linken oder feministischen Organisationen oder Medien erfahren. Minervas echter Name ist der Autorin bekannt.

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Während sich die Gilets Jaunes in Frankreich seit vier Monaten jeden Samstag die Straße nehmen und die Regierung in eine Krise gestürzt haben, war die Bewegung in Belgien zwar heftig, aber nur kurz. Nach starken Mobilisierungen ab dem 30. November, dauerte sie noch bis ins neue Jahr im kleineren Maßstab an. Sascha Donati vom Revolutionärem Aufbau Schweiz hat im Januar ein Interview mit einem Genossen der Roten Hilfe International aus Brüssel zu seinen Erfahrungen mit der Bewegung geführt. Dabei sprachen sie über die allgemeine Situation in Belgien, faschistische Mobilisierungen, Polizeirepression und eine revolutionäre Perspektive auf die Gilets Jaunes.

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Der Internationale Frauenstreik hat durch monatelange massive Mobilisierung auch in Deutschland tausende Menschen auf die Straßen gebracht. Unsere Autorinnen bieten einen Überblick über die Aktionen am vergangenen Freitag, sowie eine politische Einordnung und zeigen auf, welche Zielsetzungen erreicht wurden.

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