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Der mittlerweile vier Wochen andauernde Aufstand gegen das Regime im Iran weitet sich immer weiter aus. Nach Streiks in der petrochemischen Industrie haben auch die Arbeiter in der Zuckerrohrindustrie von Hafttapeh in Solidarität mit dem Aufstand die Arbeit niedergelegt. Wir dokumentieren hier den Streikaufruf.

An die Weggefährten! An die Unterdrückten!

Der Protest und der Aufstand der Töchter der Sonne und der Revolution ist in seiner vierten Woche.

Die kämpfenden jungen Männer und Frauen haben mit der Parole „Zan, Zendegi, Azadi“ (Frau, Leben, Freiheit) die Straßen und die Gassen zum erbeben gebracht. Sie wollen sich im glorreichen Kampf für Emanzipation und Gleichheit, von Ausbeutung und Unterdrückung, von Diskriminierung und Ungleichheit befreien.

Unsere Kinder, die in den Straßen für die Befreiung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit einstehen, brauchen unsere Unterstützung!

In dieser Situation wo das Blut unserer Kinder den Asphalt der Straßen färbt, hat der Beginn des Streiks im petrochemischen Sektor dem Kampf neue Hoffnung und neues Leben eingehaucht.

Die gerechte Erwartung der Kinder der Arbeit und des Leides ist es, dass ihre ausgebeuteten Väter, Mütter, Brüder und Schwestern zu ihnen halten und die Zahnräder der Produktion zum stehen bringen.

Heute am 10.Oktober ist der erste Funken dieser Solidarität und Einheit mit der leidenschaftlichen Beteiligung der Arbeiter der Petrochemieanlage in Buschehr, Der Raffinerie von Abadan und der Raffinerie in Asaluye gefallen. Die Solidarität der Arbeiter mit ihren Kindern, ihren Brüdern und Schwestern auf der Straße ist das dringende Gebot der Bewegung!

Die Gewerkschaft der Zuckerrohrarbeiter von Hafttapeh begrüßt den Streik der Öl- und Petrochemie in Solidarität mit den Protestierenden auf den Straßen.

Unsere Kinder, unsere Brüder und Schwestern erwarten, dass alle anderen Sektoren der Produktion sich dem Streik anschließen und den Generalstreik ausrufen, da die Emanzipation von Unterdrückung und Ausbeutung nur durch Solidarität möglich ist.

Ehrbare und bewusste Arbeiter und Leidtragende!

Der Aufstand der Frauen muss unterstützt werden. Die Töchter dieses Landes haben sich entschlossen eine große (gesellschaftliche) Transformation zu vollziehen, eine Transformation die auch die Befreiung der Frauen in anderen Regionen mit sich bringen wird. Dieser würdevolle Aufstand muss mit dem Streik der Arbeiter in jeder Ecke dieses Landes verbunden werden!

Für die Befreiung von Diskriminierung und Unterdrückung, von Armut und Elend…für Brot und für Freiheit! Lasst uns die Töchter der Sonne und der Revolution nicht alleine lassen!

An euch Töchter der Sonne und der Revolution:

Im kommenden Morgen des Sieges, wird sich die Welt vor euch verneigen, denn ihr lehrt allen Aufrichtigkeit und Widerstand.

Es lebe die Klassensolidarität und Vereinigung der Arbeiter:innen für die Emanzipation.

Vorwärts zum Generalstreik!

10.10.2022

Gewerkschaft der Arbeiter von Hafttapeh

# Titelbild: anf

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Verónica Gago ist Theoretikerin und Aktivistin aus Argentinien. Anlässlich des Internationalen Frauenkampftags am 8. März haben wir mit ihr über den Stand der argentinischen feministischen Bewegung heute gesprochen – nach einem errungenen Sieg im Kampf um das Recht auf Abtreibung, zwei Jahren Pandemie und im sechsten Jahr des feministischen Streiks.

Mit der Feminismuswelle der letzten Jahre ist auch wieder ein liberaler Feminismus in Mode gekommen. Die breite Bewegung in Argentinien führt aber Diskussionen, die über die gläserne Decke hinausgehen und eine Klassenanalyse mit einschließen. Kannst du diesen Charakter der argentinischen Bewegung heute etwas beschreiben?

Die feministische Bewegung in Argentinien ist eine rebellische Bewegung, sie hat das Ziel wirklich etwas zu verändern. Sie ist eine Bewegung, die sich gegen Ungerechtigkeit, Missbrauch und Ausbeutung auflehnt. Wir sehen es in den Slogans, die sie hervorgebracht hat, die anti-neoliberale, anti-patriarchale und anti-koloniale Fragen zusammenbringen: „Keine einzige weniger! Wir wollen frei und schuldenfrei leben! Gegen die Prekarität des Lebens! Wir zahlen die Krise nicht mit unseren Körpern und Territorien! Wir Frauen gegen Verschuldung!“ um nur einige zu nennen. In diesen Slogans liegt eine genaue Diagnose davon, woher die Gewalt kommt, die Feminizide und Vergewaltigungen zulässt, strukturellen Rassismus ermöglicht, prekäre Arbeitsbedingungen und institutionelle Gewalt von Sicherheitskräften legitimiert. Anders gesagt, wenn wir über rassistische Gewalt sprechen, wenn wir „Nicht eine weniger ohne Wohnung” fordern, wenn die Auslandsschulden zu einem feministischen Slogan auf der Straße werden, dann machen wir die Materialität dessen deutlich, was man Gewalt nennt. Ihre Spitze findet diese Gewalt in Feminiziden, aber sie existiert auch als alltägliche Gewalt, die ein würdevolles und freies Leben verhindert.

Wie ist es euch gelungen, diese gesellschaftlichen Herausforderungen zu akuten Themen der feministischen Bewegung zu machen?

Das ist gelungen, indem der Feminismus als politische Bewegung aufgebaut wurde, in der verschiedene Konflikte und Protagonist*innen dieser Konflikte miteinander in Beziehung gesetzt werden. Das erfordert Koordination zwischen Gewerkschaften, Basisorganisationen, Studierenden, Migrant*innenkollektiven, Sexarbeiter*innen, prekär Beschäftigten, Sorgenetzwerken, Organisationen von Kleinbäuerinnen und Arbeiter*innen in der solidarischen und informellen Wirtschaft, Fridays For Future, den Kollektiven von Travestis, trans und nicht-binären Personen, den Kampagnen für das Recht auf Abtreibung und indigenen Frauenorganisationen. Die Tatsache, dass die feministische Bewegung in dieser politischen Zusammensetzung existiert, ermöglicht ihr eine praktische Interpretation der Aktualität, die sozioökonomisch, klassenbezogen und antiextraktivistisch ist – die aus verschiedenen Sprachen spricht und mit sehr diversen Strategien.

Was ist deine Analyse zu den liberalen Tendenzen, die wir heute überall sehen?

Natürlich gibt es Versuche, die Bewegung zu vereinnahmen und zu einer Mode zu machen, sie auf Themen zu reduzieren, die „ungefährlich“ für den Neoliberalismus sind. Aber ich glaube, die Mobilisierungsfähigkeit und der Wunsch nach Veränderung sind stärker, denn die feministische Bewegung geht auf eine Reihe sozialer Kämpfe zurück, die sich immer schon gegen den Status Quo gestellt haben.

Ich sehe den liberalen Feminismus ganz klar als konterrevolutionäre Aktion: er ist ein Versuch, die Kraft dieser queerfeministischen Transformation, die jetzt seit einigen Jahren schon eine beispiellose Präsenz auf globaler Ebene erreicht hat, zu begrenzen und sie in eine andere Richtung zu lenken. Es ist der Versuch, die Veränderung zu neutralisieren, die sich zeitgleich auf verschiedenen Ebenen vollzieht: in unserer Sensibilität, in der Art und Weise, unsere Körper und unser Begehren zu erleben, in der Fähigkeit, kollektive Forderungen zu stellen und in der Stärkung von Organisations- und Protestformen. Die feministische Bewegung ist eine Praxis des Ungehorsams, der täglichen Auflehnung, die gleichzeitig die Fähigkeit hat, strukturelle Gewalt zu hinterfragen und zu bekämpfen. Diese simultane zweifache Ebene ist es, die als Bedrohung empfunden wird. Das ist der Grund, warum ein Faschist wie Bolsonaro seine Präsidentschaft mit einer Rede gegen die „Gender-Ideologie” beginnt. Oder warum versucht wird, den Feminismus auf die Forderung nach Quoten zu reduzieren, ohne die bestehenden Hierarchien anzutasten. Und warum versucht wird, den Feminismus von anderen sozialen Forderungen abzukoppeln, weil es das ist, was wirkliche politische Bündnisse schafft. Und deswegen gibt es auch viele Versuche, ihn zu spalten und mit dem Neoliberalismus kompatibel zu machen.

Mit der Legalisierung der Abtreibung in Argentinien vor einem Jahr habt ihr ein lange gefordertes Recht erkämpft – ein Riesenerfolg. Die Kampagne war jahrzehntelang Motor der Bewegung und auch identitätsstiftendes und verbindendes Element zwischen den Generationen. Was kommt jetzt, wo der Kampf gewonnen wurde?

Dass wir diesen Sieg errungen haben, ist fundamental. Das hat klargemacht, wie wichtig ein unermüdlicher Kampf ist, in dem Demonstrationen mit Lobbyarbeit im Parlament verbunden werden. Wie wichtig es ist, dabei eine feministische Pädadogik zu betreiben, um überhaupt diskutieren zu können, was Selbstbestimmung schwangerer Körper bedeutet. Das hat eine „grüne Welle” losgetreten, die über die Grenzen hinausging. Dabei wurde das öffentliche Gesundheitssystem diskutiert, die Sexualerziehung in Schulen, Schwangerschaftsabbrüche von Schuld gelöst und Mutterschaft entromantisiert. Die Diskussion wurde an Orten in Gang gebracht, an denen sie vorher tabuisiert war. Dieser Kampf war hier von zentraler Bedeutung, weil er sowohl eine sehr konkrete Forderung enthielt, als auch ein Türöffner zu vielen weiteren Problematiken war. Das Recht auf Abtreibung steht außerdem im Mittelpunkt neokonservativer Angriffe nicht nur in unserer Region: Das ist so in den USA, bei der neu gewählten Präsidentin des EU-Parlaments und bei den Rückschritten in Polens Gesetzgebung. Aber mit der Verabschiedung des Gesetzes in Argentinien ist der Kampf noch nicht beendet, er ändert nur seine Form. Jetzt müssen wir uns für die effektive Umsetzung des Gesetzes einsetzen, gegen medizinische und juristische Manöver, die vielerorts den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen blockieren und für die Verbreitung des Gesetzes selbst, da die Informationen nicht überall ankommen. Und obwohl das Gesetz bereits vor einem Jahr verabschiedet wurde, feiern wir es immer noch.

Es stimmt jedoch, dass das verbindende Moment dieser Forderung auf irgendeine Weise ersetzt werden muss. Wir sind gerade dabei, neu darüber nachzudenken, was wir wollen, wohin wir unterwegs sind und wie wir nach zwei Jahren Pandemie wieder Räume für Gespräche und Austausch schaffen können. Wir reden von einer Zeit, in der es viel schwieriger war, sich zu treffen, und in einer Zeit, in der ein „Ende“ der Pandemie mit einer brutalen Wirtschaftskrise einhergeht. Es ist also an uns, mit diesem Sieg im Rücken – aber auch mit dem, was die Bewegung bereits erreichen konnten als Horizont – zu überdenken, wie wir uns den kommenden Herausforderungen stellen können.

Was sind die Themen, die den Feminismus in Argentinien derzeit bewegen?

Im Fall von Argentinien ist die Frage der Schulden als ökonomische Gewalt ein Thema. Im Laufe der Jahre haben wir viel mit dem Slogan „La deuda es con nosotres” (Die Schulden habt ihr bei uns) gearbeitet. Es ist wichtig, dass der Feminismus das Thema Verschuldung wieder aufgreift, denn er hat es auf den Tisch gebracht und dabei öffentliche und private Schulden und Sparmaßnahmen miteinander in Verbindung gebracht. Wir bestehen darauf: ohne ökonomische Unabhängigkeit gibt es keine Möglichkeit, die machistische Gewalt zu stoppen. Dies bezieht sich auf die Auslandsverschuldung seit 2018 und auch darauf wie die Verschuldung der Haushalte angesichts einer immer schneller zunehmenden Verarmung „obligatorisch” wird. Hier ist für die antineoliberale Dynamik des Feminismus und seine Fähigkeit zur konkreten Intervention wichtig, die soziale Situation neu zu diskutieren, die durch die Verschuldung und die vom IWF auferlegten Bedingungen hervorgebracht wurde: Gas-, Strom- und Telefontarife, Lebensmittelpreise und Mieten, die in Folge der erzwungenen Kürzungen der öffentlichen Mittel erhöht wurden. Sie fördern Spekulationen und die Dollarisierung der Wirtschaft und lassen die Bevölkerung in beschleunigtem Tempo verarmen.

Der feministische Streik als Instrument der Bewegung ist in den letzten Jahren sehr wichtig gewesen. Jetzt ist es stiller geworden um den Streik als Aktionsform. Warum? Welche Rolle spielt der Streik bei den diesjährigen Mobilisierungen oder gibt es andere Strategien, die im Moment wichtiger sind?

Wir beginnen gerade, die Rolle des Streiks und andere Strategien für diesen 8. März zu diskutieren. Ich habe den Eindruck, dass es schwieriger ist, weil die Pandemie die Prekarität beschleunigt hat. Die Care-Arbeit hat zugenommen, die Arbeitszeiten haben sich verlängert und es gibt eine gewisse psychische Erschöpfung, wenn es darum geht, wieder rauszugehen und die Straßen einzunehmen. Es gibt aber ein gemeinsames Bedürfnis danach, dass die feministische Bewegung wieder eine führende Rolle auf der Straße einnimmt. Wir diskutieren hier sehr viel über diese Idee: Wir müssen zurückkehren und sind gleichzeitig nie weg gewesen. Auch in der Pandemie haben wir die Krise entprivatisiert, nur auf andere Art und Weise, aber auf jeden Fall in einem kollektiven Kraftakt. All dies müssen wir berücksichtigen, wenn wir über den Streik in der gegenwärtigen Situation nachdenken wollen. Das ist wichtig, weil, wie wir wissen, hat es der feministische Streik geschafft, die verschiedenen Formen der Arbeit, der Prekarität und der Gewalt in den Fokus zu nehmen.

Mein Eindruck ist, dass sich Streik und Demonstration verbinden werden, an manchen Orten wird die eine Dynamik stärker ausgeprägt sein als die andere, aber klar ist, dass der 8. März ein Kampftag ist, ein Datum, das wir nicht „hergeben“ werden, weil er ein Moment der Begegnung, des Austausches und der Arbeit am Programm der Bewegung ist. Das Wichtige an diesem 8. März ist, wieder eine Wucht zu werden.

Von Verónica Gago ist bei Unrast das Buch “Für eine feministische Internationale” erschienen. Foto: privat

# Titelbild: Proteste für das Recht auf  Abtreibung vor dem argentinischen Kongress 2018 (Foto: Prensa Obrera, CC BY 4.0)

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Die feministische Bewegung in Italien ist seit mehreren Jahren einer der stärksten Stützpfeiler linker Mobilisierungen im Land. Unter dem gemeinsamen Dach der Bewegung „non una di meno“ („Nicht eine weniger“) fanden sich unterschiedlichste Initiativen zunächst gegen Frauenmorde, Feminizide, zusammen, dehnten ihr Politikfeld aber rasch aus, um einen feministischen Blick auf die Gesamtheit sozialer und politischer Problemfelder zu popularisieren.

Wir haben mit Chiara vom Esc Atelier in Rom und Vanessa, aktiv bei dem autonomen Informationsportal Dinamopress, und beide von “non una di meno” über die Entwicklung der feministischen Bewegung in Italien und den Frauenstreik in Zeiten des Corona-Virus gesprochen.

Aktuell sind einige Gebiete Italiens wegen des Corona-Virus komplett abgeriegelt, landesweit gibt es zahlreiche Einschränkungen. Welche Auswirkungen hat das auf den diesjährigen Frauenkampftag?

Vanessa: Klar, dieses Jahr gehört das Coronavirus zu den Umständen, über die wir sprechen müssen. Schon davor gab es eine lange Diskussion über den Streik dieses Jahr, denn der 8. März fällt ja bekanntlich auf einen Sonntag. Im Rahmen einer nationalen Versammlung von „non una di meno“ entschied eine Mehrheit anwesender lokaler Strukturen sowie der radikalen Gewerkschaften, dass wir deshalb den Streik am 9. März durchführen.

Dann aber änderte sich alles. Schon eine Woche vor dem Streik teilte uns die staatliche Nationale Kommission für die Streiks mit, dass wir den Streik stoppen sollen. Sie haben es nicht direkt verboten, aber angedroht, jede streikende Arbeiterin mit einem Bußgeld zu bestrafen. Zu diesem Zeitpunkt war die Situation durch das Virus erst in zwei Regionen kritisch, in der Lobardei und in Veneto. Aber wir entschieden, den Streik ausfallen zu lassen, denn es existiert auch ein Dekret, das alle öffentlichen Aktivitäten einschränkt.

Chiara: Und wir hatten ja eine Demonstration zum 9. März geplant. Aber uns kamen Zweifel, ob sich überhaupt genug Leute zusammenfinden, nachdem die Kommission den Streik für unzulässig erklärt hatte. Und nach dem Dekret entschieden wir, die Demo sein zu lassen. Zum einen, weil wir die Auflagen dieses Dekrets – etwa den Mindestabstand zwischen Personen – nicht einhalten könnten, zum anderen aber auch, weil wir uns in einer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft sehen.

Vanessa: Deswegen gibt es, je nach Region, ein verkleinertes Programm. Im stark vom Virus betroffenen Norden wird es keine öffentlichen Veranstaltungen geben; im Süden kleinere, wie öffentliche Performance.

Chiara: Wichtig ist es aber auch, darüber zu sprechen, welche drastischen Auswirkungen die aktuelle Situation auf Frauen hat. Die Schulen sind geschlossen. Das heißt, dass sich jetzt eine Menge Frauen den ganzen Tag um ihre Kinder kümmern müssen. Sie können nicht zur Arbeit, was wiederum große Auswirkungen auf die ökonomische Situation all dieser Familien hat.

Tut der Staat etwas, um diese Probleme abzumildern?

Vanessa: Im Moment nicht, nein. Alles ist durcheinander, die Situation ist neu. Sie haben erst kürzlich die Dekrete zur Einschränkung der öffentlichen Veranstaltungen und zur Schließung der Schulen verabschiedet und fangen jetzt langsam an, die ökonomischen Auswirkungen zu diskutieren. Unterstützung könnte für größere Betriebe und Familien kommen, aber was wir schon jetzt sagen können ist, dass der Staat sicher nichts für die Gelegenheitsarbeiterinnen, Arbeiterinnen ohne Verträge, die Prekarisierten und so weiter tun wird – denn das hat er noch nie.

„Non una di meno“ hat auf drei Ebenen reagiert: Zuerst, indem wir unsere Verantwortung wahrgenommen haben und gesagt haben, okay, das ist kein Witz, sondern ein soziales und Gesundheitsproblem. Zum anderen haben wir eine öffentliche Debatte über die Doppelbelastung von Frauen und prekarisierten Arbeiterinnen in dieser Situation begonnen. Und zum Dritten überlegen wir, wie wir Frauen und andere Identitäten unterstützen können, die Unterstützung brauchen.

Eine letzte Idee, die wir noch nicht besprochen haben, die aber zirkuliert, ist die einer Kampagne für eine Verbesserung des öffentlichen Gesundheitssystems. Denn das System ist mangelfinanziert, es wird seit Jahren zusammengestrichen und gekürzt. Und das macht sich jetzt bemerkbar.

Ich würde aber sagen, dass das wichtigste ist, was wir insgesamt sagen können: Durch „non una di meno“ und die feministische Bewegung haben wir einen neuen Blick auf soziale und politische Krisen wie diese geöffnet. Diese transfeministische Perspektive ist in den vergangenen vier Jahren herausgebildet worden – und das ist eine wirkliche Errungenschaft.

Lasst uns hier gleich anknüpfen: Könnt ihr die wichtigsten Stationen dieser letzten vier Jahre kurz zusammenfassen? Wie seid ihr dahin gekommen, wo ihr heute steht?

Chiara: Schon vor „non una di meno“ gab es eine große Anzahl feministischer Kollektive im ganzen Land. Aber sie waren nicht miteinander verbunden. Vor vier Jahren dann begannen wir eine Debatte über männliche Gewalt gegen Frauen wegen der Morde und Feminizide. Im Mai 2016 wurde Sara Di Pietrantonio in Rom von ihrem Exfreund ermordet und angezündet. Da haben alle verschiedenen Teile des römischen Feminismus angefangen, sich gemeinsam zu treffen. Wir haben gesagt, okay, das ist eine Situation von großer Dringlichkeit und angefangen zu überlegen, auch andere landesweite Organisationen einzubeziehen. Zur selben Zeit haben wir natürlich auf Lateinamerika und all die Mobilisierungen von Frauen dort geschaut, bei denen es um das Recht auf Abtreibung und die Notlage durch Vergewaltigungen und Gewalt an Frauen ging.

Wir haben also für Oktober zu einer nationalen Versammlung aufgerufen, mit dem Plan, zum 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, zu einer Demonstration aufzurufen. Zu der Vollversammlung kam eine Menge an Frauen – eine Menge an Erfahrungen, Organisationen. Die meisten kamen aus nicht-parlamentarischen Kollektiven und Initiativen; aber es beteiligten sich auch das Netzwerk der Frauenschutzhäuser.

Vanessa: Letzteres stammt aus den feministischen Kämpfen der 1970er-Jahre. Genauso wie die Frauengesundheitskliniken, auch sie waren zunächst selbstorganisiert und wurden später institutionalisiert. Wir setzen uns also im Oktober 2016 aus diesen eher institutionalisierten Netzwerken und einer Masse an selbstorganisierten Initiativen zusammen.

Chiara: Und das bedeutete eine Stärke, denn wir haben Mitstreiterinnen aller Altersgruppen, von Schülerinnen bis Frauen, die schon in den 70ern gekämpft haben. Das ist manchmal schwierig, weil wir aus ganz unterschiedlichen politischen Traditionen kommen, aber es ist sehr interessant und wir bringen das alles auf einen Nenner. Und das Beste, was wir tun, ist, dass wir dabei ein neues Denken über Gewalt entwickeln. Da geht es nicht allein um dich und mich und einen Kampf gegeneinander, weil wir vielleicht zusammen sind und du Gewalt gegen mich ausübst, weil du ein Mann bist und ich eine Frau. Gewalt ist ein strukturelles Problem in unserer Gesellschaft und wir stehen ihr auf jeder Ebene unseres Lebens gegenüber. In den Beziehungen, im Gesundheitssystem, etwa wenn es um Abtreibungen geht, am Arbeitsplatz, bei der Bezahlung. Oder die Medien, die jedes Mal, wenn eine Frau ermordet wird, zum Problem machen, wie sie sich angezogen hat. Und diese Schuldumkehr setzt sich dann vom den Mainstreammedien bis in die Gerichtssäle und das Justizsystem fort.

Vanessa: Im Oktober 2016 hatte Italien die Renzi-Regierung und die führte ein Referendum zur Verfassungsreform durch. Italien sprach nur über das. Es gab kein anderes Thema. Es gab für unsere landesweite Demo keine Artikel, keine Fernsehzeit, nichts. Und dennoch war die Demonstration riesig. 80 000 Menschen kamen. Dann war klar, die nächste Station war der 8. März.

Und auch der erste Frauenstreik wurde ein Erfolg. 20 Städte nahmen Teil, aber leider verweigerte die größte Gewerkschaft, CGIL, jegliche Unterstützung.

Auch nicht die „linkeren“ Teile wie die Metallgewerkschaft FIOM?

Vanessa: Nein. Wir haben Gespräche mit ihnen geführt, aber ohne Ergebnis.

Chiara: Ich meine, wir wussten es ja schon zuvor, aber offenkundig stehen sie nicht im Dienst der Arbeiterinnen.

Vanessa: Also im ersten Jahr haben wir nicht erwartet, dass sie teilnehmen. Dann haben wir über die Jahre versucht, eine bessere Verbindung herzustellen. Die letzten beiden Jahre waren wir hoffnungsvoll, auch weil in Spanien eine solche Verbindung besteht, weshalb der Streik dort so stark ist. Oder in Argentinien, wo alle Gewerkschaften mitmachen. Aber leider hat es hier nicht geklappt. Und das obwohl wir ja jetzt z.B. letztes Jahr eine rechtsradikale Regierung hatten, gegen die es ihnen vielleicht hätte leichter fallen müssen zu streiken. Und auch, obwohl jetzt Landini von der FIOM Gesamtsekretär von CGIL ist. Mit dem haben wir an der Uni noch gemeinsam zusammengearbeitet. Also der linke Teil, aber dennoch …

Chiara: Und dennoch wuchs der Streik Jahr für Jahr. Was wir also sagen können ist: wir haben sicher keine glückliche Situation für Frauen oder Transgender-Menschen in Italien. Italien ist eine machistische Gesellschaft, katholisch, nur jede dritte Frau im Süden arbeitet. Frauen sind unterbezahlt, haben die Doppelbelastung, im Haus und im Betrieb. Und das Level von Belästigung ist immens. Ich meine, schon im Kleinen, in der Alltagsprache ist das immens, das kann ich dir gar nicht ins Englische übersetzen. Das Level an Machismus in unserer Gesellschaft können vielleicht nur Spanische und Lateinamerikanische Freundinnen nachvollziehen.

Aber dennoch sind wir in den vergangenen Jahren näher zusammengerückt. Und das ändert viel. Wenn ich jetzt im Bus bin und mich irgendein Typ anfasst, weiß ich, dass ich mich auf andere Frauen verlassen kann. Und das ist eine wirkliche Errungenschaft. Wir haben eine gemeinsame Identität geschaffen.

Vanessa: Ebenfalls noch hervorzuheben ist, dass wir ein Jahr lang alle zusammen das „Manifest gegen männliche Gewalt an Frauen“ erarbeitet haben, in dem wir die Idee struktureller Gewalt entwickeln: Gewalt in der Bildung und Ausbildung, Gewalt in der Sprache, Gewalt gegen den Körper, Gewalt im Rechtssystem und so weiter. Das war ein großer Schritt, um gemeinsame Gedanken zu entwickeln.

War es einfach, diesen Konsens zwischen so vielen Gruppen herzustellen?

Vanessa: Nein. Das war super schwierig.

Aber habt ihr es geschafft, ohne dass sich Teile der Bewegung rausgezogen haben, oder sind welche gegangen?

Vanessa: Naja, vielleicht ein paar Kollektive. Aber die überwiegende Mehrheit blieb. Klar, es gab einige sehr problematische Punkte, aber am Ende beteiligte sich die Mehrheit der Versammlung und jetzt hat jede das Gefühl, das ist unser Manifest.

Sprechen wir noch einmal kurz über den Streik. Welche Segmente der Klasse sind besonders aktiv, welche erreicht ihr weniger?

Vanessa: Die kleinen, radikalen Gewerkschaften haben sehr gut gearbeitet.

Chiara: Cobas und USB.

Vanessa: Schulen, also der Bildungssektor ist stark im Streik. Und Arbeiterinnen aus dem Gesundheits- und Pflegebereich. Interessant ist aber auch, dass wir jedes Jahr Hunderte Mails bekommen, in denen Frauen uns schreiben: Ich will am Streik teilnehmen, was kann ich tun? Die Gewerkschaft in meinem Betrieb sagt mir, ich kann nicht, weil sie nicht streiken. Und das ist einfach falsch. Wir haben da einen Ratgeber zusammengestellt, in Zusammenarbeit mit Anwältinnen.

Aber insgesamt müssen wir sagen, dass wir die Zahlen wie in Spanien nicht erreichen, aus dem vorher genannten Grund, dass die größten Gewerkschaften dieses Landes den Streik nicht unterstützen. Dennoch werden die Demonstrationen jedes Jahr am 8. März und zum 25. November größer und größer.

Zum Abschluss vielleicht: Wie war die Reaktion der männlichen Genossen? Und welche Rolle können sie spielen, um zu unterstützen?

Chiara: Vielleicht solltest du lieber unsere Genossen fragen. Weil manchmal reden wir an ihrer Stelle und ich weiß nicht, ob es das bringt. Aber wir können dir unsere Perspektive darstellen. In den Kollektiven, in denen wir beide aktiv sind, haben wir einen guten Austausch von Ideen miteinander. Und auch, wenn wir uns manchmal nicht alles erlauben, gibt es einen Prozess. Aber dasselbe kann ich nicht für andere Orte in Italien behaupten.

Vanessa: Zudem können wir sagen, dass die Demonstrationen von „Non una di meno“ generell offen sind für die Teilnahme von Männern. Sie müssen nicht ganz vorne sein oder im Mittelpunkt stehen, aber sie können teilnehmen. „Non una di meno“ ist keine reine Frauenangelegenheit, sondern offen für alle Identitäten.

Wenn wir über unsere Genossen reden, dann können wir schon sehen, dass sie über die Jahre anfangen, in Frage zu stellen, was männliche Privilegien sind. Aber es ist eine Debatte, die erst beginnt.

Chiara: Was wir vermitteln wollen ist: Da ist dieses riesige Problem von Gewalt gegen Frauen. Und wir sind die einzigen, die sich die Frage stellen, warum das so ist. Wir wollen, dass Männer auch mal anfangen, von ihrer Seite aus die Frage zu stellen.

#Titelbild: Dinamopress

# Interview: Peter Schaber

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Am 14. Juni 2019 fand in der Schweiz ein landesweiter Frauen*streik statt. Zwischen 200.000 und einer halben Million Menschen wurden auf die Straße mobilisiert. Insbesondere in Zürich, wo laut offiziellen Angaben 160.000 Menschen demonstrierten, fand die größte Demonstration in der jüngeren Schweizer Geschichte statt. Noch nie haben linke Kräfte etwas ähnlich Großes erlebt. Ein Monat nach dem Streik, sprach unsere Autorin mit einer Aktivistin vom Revolutionärem Aufbau Zürich (Aufbau). Unsere Interviewpartnerin ist seit 30 Jahren politisch aktiv und fast genauso lang im Aufbau organisiert. Der Aufbau hat den Frauen*streik von Beginn an, seit Oktober 2018, in Zürich mitorganisiert. Das Interview gibt einen ersten, eher deskriptiven Einblick in die Dynamik und den Ablauf dieser großen Kampagne. Eine vertiefte Analyse und strategische Einordnung der Erfahrungen ist in Arbeit.

Für den Hintergrund: Der internationale Frauenkampftag wird seit über 100 Jahren weltweit immer am 8. März begangen. Warum ist es in der Schweiz der 14. Juni?
In Zürich führen wir seit gut 30 Jahren am internationalen Frauenkampftag eine unbewilligte revolutionäre Frauendemonstration durch, dieses Jahr mit ca. 3000 Frauen. Wir hatten also zusätzlich den Frauen*streik. Der 14. Juni ist das historische Datum des Frauenstreiks 1991, als völlig überraschend eine halbe Million Frauen schweizweit auf der Straße waren. Ausgelöst hatten ihn Uhrenarbeiterinnen. Insofern ist das Datum im kollektiven Gedächtnis verankert

Ab wann wurde in der Schweiz für einen Frauenstreik am 14. Juni 2019 mobilisiert und wie fand dies statt?
Die Initiative wurde im Sommer 2018 in der französischen Schweiz von der Gewerkschaftslinken ergriffen. Die einberufenen Sitzungen – offene Plena – wuchsen sprunghaft, bald gab es in allen französischsprachigen Kantonen Streikkollektive. In der Deutschschweiz wurde das kopiert. In Zürich war das monatliche Vernetzungstreffen der zentrale Ort, wo Gruppierungen und Einzelpersonen zusammen kamen. Die Plena waren sehr wichtig, sie hielten das Thema am Leben, als sich noch nicht alle dafür interessierten. Aus ihnen heraus wurde Öffentlichkeitsarbeit geleistet, Texte verfasst, wir haben dem Tag einen Rahmen gegeben, in welchem die Aktivist*innen ihre Aktionen durchziehen konnten.

Die große Beteiligung verdankt der 14. Juni aber natürlich der Tatsache, dass überall über den Frauenstreik diskutiert wurde; bei geschlossenen Sitzungen zwischen Arbeitskolleg*innen oder Schüler*innen und Studierenden wie auch in den öffentlichen Verkehrsmitteln. Je näher der Tag selber kam, desto dezentraler wurde im eigenen Nahbereich organisiert. Der Streik-Vorschlag wurde gehört, nicht unbedingt befolgt, aber thematisiert, z.B. sahen sich fast alle Bosse genötigt, Stellungsnahmen verlauten zu lassen. Wir denken, dass diese Vorfeld-Phase die eigentliche Qualität des Frauen*streiks ausmacht.

In Zürich organisierten zunächst Einzelpersonen, Gruppen und Zusammenhänge mehrheitlich aus der außerparlamentarischen Linken die Vernetzungstreffen – bei den ersten Treffen kannten sich die meisten Anwesenden untereinander. Die Gewerkschaften haben schnell pragmatisch entschieden, diese Arbeit dem Bündnis zu überlassen und selber auf Betriebsebene zu arbeiten. Sie waren inhaltlich äußerst zurückhaltend und haben sich nur an der praktischen Arbeit beteiligt. Es gab auch eine überregionale Vernetzung, es wurde jedoch lokal gearbeitet und überregional nur informiert.

Du bist Mitglied einer revolutionären Organisation. Wie sah eure Arbeit im Bezug auf den 14. Juni in der Schweiz aus? Welche Schwerpunkte haben sich für euch ergeben? Auf was habt ihr euch am meisten konzentriert?
Positiv gesagt, hatten wir einen sehr mobilisierten Rahmen, in dem viel möglich war. Negativ gesagt, war es schwierig, alles zu leisten. Wir hätten den Anspruch, wo wir leben und arbeiten zu organisieren, ebenso im Rahmen der revolutionären Kräfte und auf Ebene des Vernetzungstreffens. Außerdem war die Kadenz 8. März, 1. Mai, 14. Juni unangenehm eng und natürlich kann eine kommunistische Organisation nicht jedes andere Thema einfach fallen lassen, weil ein Frauen*streik kommt. Insofern ist unvermeidlich, dass Anspruch und Wirklichkeit auseinander klaffen.

Wir haben die Arbeit generell auf zwei Ebenen entwickelt. Sozusagen auf der klassisch politischen Ebene im Bereich des Frauenkampfs zusammen mit anderen revolutionären Kräften und dann auch auf der betrieblichen Ebene im eher gewerkschaftlichen Bereich. Wir können in beiden Bereichen auf eine lange Kontinuität entsprechender Strukturen innerhalb der Organisation zurückgreifen. In den Wochen vor dem Frauen*streik und dann schließlich am Tag selber ist es uns gut gelungen, eine revolutionäre Präsenz zu haben, die nicht ignoriert werden konnte. Insbesondere durch die Blockade des Verkehrsknotenpunktes „Central“ zusammen mit den Student*innen. Bei der Demo selbst waren dann natürlich so viele, dass alles unterging.

Unsere Arbeit auf der betrieblichen Ebene fand nicht öffentlich statt,
sondern in der Unterstützung von Basisorganisationen und in der Organisierung am eigenen Arbeitsplatz. Wir haben dabei schon früh betont, dass die Kapazitäten auf die Bereiche konzentriert werden sollten, bei denen schon Selbstorganisierungsprozesse vorhanden sind.
Auch die konkrete Organisierungsarbeit vor Ort sollte schnell beginnen.

Am Streik nahmen vor allem KiTas, Horte, Kindergärten, Schulen
und die Gastrobranche teil. Zu Streiks als konfrontativer Arbeitsniederlegung ist es aber praktisch nicht gekommen. Die Bosse haben in vielen Fällen den Konflikt gescheut und Betriebe früher schließen lassen. Die Spitäler wurden im Raum Zürich von der Verband des Personals öffentlicher Dienste, der VPOD, praktisch alleine gelassen. Es konnten dort aber kleinere selbstorganisierte Aktionen von Angestellten durchgeführt werden. Unter anderem wurden zeitgleich an vier Spitälern riesige Transparente gehängt. Besonders zu erwähnen ist die gelungene Organisierung und aktive Solidarität von KiTa-Eltern, um Druck auf die KiTas aufzubauen.

Wie war die Zusammenarbeit mit Reformistinnen und Liberalen? Wie haben die Gewerkschaftsbürokratien reagiert?
Die Vernetzungstreffen waren für bürgerliche Frauen nicht einladend, sie waren in Zürich klar von linken Kräften dominiert, auch seitens der vielen unorganisierten Frauen, war der Konsens radikaler, als zu erwarten gewesen wäre. Mit Liberalen hat es entsprechend keine Zusammenarbeit gegeben. Mit Reformist*innen war sie überraschend problemlos. Die Gewerkschaften haben den Frauenstreik als Kampagne beschlossen und waren von Anfang an dabei, sie haben sich aber auf sich selber konzentriert. Medial ist das schwer erkennbar, das liegt aber an den Medien, die ihnen unhinterfragt die Hegemonie zusprechen.

Generell kann gesagt werden, dass es eine sehr harmonische, enthusiastische Kampagne war, in welcher alles begrüßt wurde, was lief, große wie kleine Aktivitäten, militante wie parlamentarische. Die Zusammenarbeit hat also sehr den Charakter einer Aktionseinheit bekommen, die politische Differenzen stark in den Hintergrund rückte und sich auf die Umsetzbarkeit des Streiks konzentrierte. Die Kehrseite davon ist natürlich, dass durch das Ausbleiben jeglicher Kritik die inhaltliche Auseinandersetzung einfach vermieden wurde. Den in der Kampagne und den organisierenden Kräften schon angelegte Bruch mit neoliberaler Vereinnahmung und die Verknüpfung von Frauenkampf und Klassenkampf hätten wir in gewissen Momenten noch stärker akzentuieren können. Wenn zum Beispiel der sozialdemokratische Bundesrat Alain Berset, der seit Jahren die Erhöhung des Frauenrentenalters vorantreibt, auf den Frauen*streik-Zug aufspringt, hätte die reformistische Politik stärker entlarvt werden können. Oder als die Grüne Polizeivorsteherin die 8. März-Demo angreifen ließ, hätte die Bewegung die Integration reformistischer Kräfte in den Repressionsapparat stärker für einen Bruch mit dem Reformismus nutzen können. Als die Gewerkschaft VPOD plötzlich schweizweit propagiert hat, streiken sei legal, wenn es legitim sei, hätten wir den Finger drauf drücken müssen und die jahrzehntelange sozialpartnerschaftliche Gewerkschaftspolitik des tariflichen Arbeitsfriedens thematisieren können.

Es bleibt offen, wie viel mehr an politischer Positionierung diese Aktionseinheit also vertragen hätte. Es geht hierbei vor allem auch um eine Dynamik der Zusammenarbeit. In praktischen Fragen, war der Konsens durchaus militant und geeint. Der präventiv beschlossene Konsens war: Keine Distanzierung! Wenn wir das einfordern, müssen wir uns halt auch daran halten. Und inhaltliche Debatten hätten zu szenigen unfruchtbaren Schließungsmechanismen führen können. Es gibt leider auch eine linke, unproduktive Debattenkulturen, die es proletarischen Frauen unattraktiv macht mitzuarbeiten. Diese Dynamik wollten wir verhindern und die Stärke auf die Solidarität und Vielfalt in der Praxis legen. Aber natürlich hätte das auch anders kommen können, wenn Reformistinnen einen Hegemonialanspruch entwickelt hätten.

Erzähl uns vom 14. Juni selber: Wie sah der Frauen*streik 2019 in der Schweiz aus?
Ich kann nur für Zürich sprechen. Hier waren den ganzen Tag hindurch unzählige Aktivitäten angekündigt, diese sind nach wie vor online nachzulesen und bilden den Tag gut ab. Kleinere und größere Gruppierungen haben sich selbst organisiert und ihr Ding durchgezogen.
Wir revolutionären Kräfte haben mit den Student*innen zusammengearbeitet und am Mittag den Verkehrsknotenpunkt „Central“ unterhalb der Uni lahm gelegt. Ziel war es, den städtischen öffentlichen und kommerziellen Verkehr an einer neuralgischen Stelle zum erliegen zu bringen und den öffentlichen Raum militant zu besetzen. Das hat Freude gemacht, weil es gut organisiert war und funktioniert hat.

Offenere Mobilisierungen kamen jeweils von politischen Aktivist*innen und einem Teil der Gewerkschaften. Als Ausgangspunkt diente der Helvetiaplatz, auf dem auch die große Bühne stand. Und die Akzeptanz militanter Aktionen war groß.

Der zweite Teil des Tages war dann die Großdemo um 17 Uhr. Sie war bekanntlich unfassbar groß, die größte Demo, die Zürich in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Auch wenn du weißt, dass genau genommen sehr viele Menschen dabei sind, mit denen du wohl gar keine politische Gemeinsamkeit hast, war es natürlich überwältigend, einen solchen Mobilisierungserfolg zu erleben.

Kritik gab es unter anderem wegen der fehlenden Agitation unter migrantischen Frauen, und vor allem migrantischen Arbeiterinnen in der Schweiz (siehe Artikel von Çagdas Akkaya und Meral Çinar in der Analyse & Kritik 650). Wie seht ihr das Thema Rassismus in der Schweizer Frauenbewegung und welche Schlüsse zieht ihr für eure Arbeit?
Rassismus ist in der Schweiz ein großes Problem und ein Thema, mit welchem wir auf jeder Ebene konfrontiert sind. Doch ist die Kritik falsch formuliert und voluntaristisch. Der darin enthaltene Anspruch unterstellt, wir könnten Flugblätter verteilen und so „die Migrant*innen“ ansprechen. Sie entspricht auch nicht dem, was diese Bewegung war. Agitation gab es durchaus und der Anlass war inkludierend so weit es uns möglich war, z.B. wurde enorm viel Übersetzungsarbeit geleistet. Aber für Streik braucht es viel mehr als nur Agitation. Es haben sich vor allem soziokulturelle Schichten des Proletariats mobilisiert, klassenanalytisch also genau jene, die eine Arbeitslogik der Sorge-Arbeit verkörpern, was ja zur inhaltlichen Ausrichtung des Streiks passt. Das Ausbleiben des ebenfalls stark feminisierten und zusätzlich stark migrantischen Verkaufssektors war auffällig. Aber jede Person mit organisatorischer oder etwas gewerkschaftlicher Erfahrung weiß doch, dass gerade dieser Sektor generell schwer zu organisieren ist. Wir machen es uns wirklich zu einfach, wenn wir denken, Verkäuferinnen streiken nicht, weil Linke sie nicht antirassistisch anrufen.

Die Stärke des Streiks bestand gerade darin, dass sich Frauen selber organisierten. Die Kritik hält deshalb auch jenen Kampf von Migrant*innen klein, den es eben auch gegeben hat. Der wohl konfrontativste Streik des Tages fand in einer Reinigungsfirma statt, nur proletarische Migrant*innen mit einem Gewerkschaftssekretär. Das war ja das Überraschende am Streik, dass er sich verselbstständigt hat. Viele haben die Gelegenheit genutzt und gekämpft, das gilt es hoch zu halten und zu würdigen. Die Kritik läuft generell Gefahr, proletarische Menschen zu Objekten zu degradieren, die hilflos auf unsere rettenden Flugblätter warten. Wir versuchen uns an Orten zu bewegen, wo wir uns auskennen, in denen wir glaubwürdig auftreten können, ohne anmassend zu sein.

Wir sind nicht so viele, dass wir von einer Verankerung im Proletariat sprechen könnten. Im Verkauf oder in der Reinigung müssten wir von außen intervenieren, was wir nur mit Vorsicht machen. So haben wir z.B. am 14. unter dem Motto „Pause für die arbeitenden Verkäuferinnen“ einen Supermarkt zehn Minuten lang lahm gelegt und Gutscheine für ein Getränk an der Solibar des Frauen*streik Kollektivs auf dem zentralen Helvetiaplatz verteilt. Den Verkäuferinnen war es äußerst unangenehm, so im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, aber sie haben sich außer Sichtweite des Chefs über die Geste gefreut. Ich habe früher viele Jahre in dieser Supermarkt-Kette gearbeitet, sonst hätte ich das nicht gemacht, solche Aktionen erfordern Feingefühl und Kenntnisse, ansonsten sind sie wohlmeinend, im schlechtesten Fall aber kontraproduktiv.

Wird es 2020 wieder einen Frauenstreik geben?
Es gibt Stimmen, die das wünschen, die Vernetzungstreffen gehen auch weiter, aber es ist zu früh, ernsthaft darüber zu sprechen. Wir nehmen nicht an, dass die gleiche Mobilisierung einfach so nochmals erfolgreich sein kann. Es müsste von sehr vielen Basisarbeit geleistet werden. Wie gesagt, wir waren mit einer schwungvollen Selbstorganisierung konfrontiert. Diese nun zu organisieren, wäre anspruchsvolle Kleinarbeit, die Strukturen, die das leisten könnten, gibt es noch nicht.

# Interview: Eleonora Roldán Mendívil
# Titelbild: Blockade und Besetzung des Verkehrsknotenpunktes „Central“ , Revolutionärer Aufbau Zürich

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Der Internationale Frauenstreik hat durch monatelange massive Mobilisierung auch in Deutschland tausende Menschen auf die Straßen gebracht. Unsere Autorinnen bieten einen Überblick über die Aktionen am vergangenen Freitag, sowie eine politische Einordnung und zeigen auf, welche Zielsetzungen erreicht wurden.

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Am 8. März streiken auch wir. Wir unterstützen den Aufruf linker Journalist*innen zum Frauen*streik 2019, den wir hier dokumentieren:

Ein anderer Journalismus ist möglich!

Am 8. März 2019 werden Frauen und Queers weltweit streiken (1). Die Streikenden setzen sich gegen all die Formen von Unterdrückung und Ausbeutung zur Wehr, die Frauen betreffen: weil sie übermäßig häufig prekär beschäftigt sind – etwa in Teilzeit oder im Niedriglohnbereich; weil sie sexualisierte und körperliche Gewalt und Belästigung erfahren; weil sie von klein auf mit massiv abwertenden Geschlechterbildern konfrontiert sind; weil von Frauen erwartet wird, den Großteil der Hausarbeit, Familienpflege und Kindererziehung unbezahlt zu leisten. Und nicht zuletzt, weil sie sich dagegen wenden, dass einige Wenige sich ihre Arbeit aneignen und zugleich patriarchale Machtverhältnisse am Leben halten. Ihre Arbeit ist für den Staat und die Unternehmen unersetzlich: Wenn Frauen und Queers all ihre bezahlte und unbezahlte Arbeit niederlegen, steht die Welt still!

Wir wollen den Streik unterstützen und daher ebenfalls am 8. März unsere Arbeit niederlegen. Als Medienschaffende haben wir die Möglichkeit, viele Menschen zu erreichen. Wir stehen mit diesem Aufruf für die Forderungen aller streikenden Frauen und Queers am 8. März ein und wollen zudem die bestehenden Ungleichheiten in unserer eigenen Branche sichtbar machen.

Die schlechte Bezahlung und hohe Belastung in der Medienbranche trifft Frauen in besonderem Maße. Als Frauen leisten wir zusätzlich zu unserer bezahlten Arbeit wesentlich mehr unbezahlte Haus- und Erziehungsarbeit als Männer. Auch wir Journalistinnen sind auf allen Ebenen benachteiligt: als Festangestellte, als freie Mitarbeiterinnen, als Mütter und unbezahlte Hausarbeiterinnen. Im Medienbereich gibt es wie in allen anderen Bereichen strukturellen Sexismus: Er offenbart sich in sexistischen Sprüchen, die Einzelnen von uns signalisieren, dass sie nicht ernst zu nehmen seien, in männerbündischen Netzwerken auch in unserer Branche, der Abwertung unserer Themen, der Geringschätzung unserer Arbeit, niedrigeren Honoraren und Gehältern oder auch darin, wer befördert wird. Auch Belästigung und Gewalt im Arbeitskontext gehören für viele von uns zur »Berufserfahrung«. Hinzu kommt die Arbeitsverdichtung, die Redaktionen und Freie zunehmend in Zeitnot bringt.

Wir bestreiken am 8. März Arbeits- und Geschlechterverhältnisse im Journalismus und fordern ohne Wenn und Aber:

  • das Ende der Lohndiskriminierung: Abseits von Symbolpolitiken und zahnlosen Tigern wie dem Entgeltgleichheitsgesetz fordern wir umfassende Transparenz bei Gehalts- und Honorarverhandlungen – sowohl für Festangestellte in unterschiedlichen Positionen als auch für freiberufliche Journalistinnen.
  • Gewalt als strukturelles Problem zu behandeln: Laut einer Umfrage von 2015 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes kennen 60 Prozent der befragten Personalverantwortlichen und Betriebsrät_innen keine Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in ihrem Unternehmen beziehungsweise ihrer Verwaltung; in fast der Hälfte der Betriebe gibt es keine Beschwerdestelle für diese Fälle. Wir fordern von den Gewerkschaften, den Einsatz gegen Diskriminierung und Gewalt am Arbeitsplatz zum Gegenstand von Tarifverhandlungen machen.
  • Arbeitszeitverkürzung: Als Frauen tragen Journalistinnen weiterhin die Hauptlast in der Haus- und Fürsorgearbeit. Wir fordern daher Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich.
  • Durchsetzung der Tarifbindung: Wir fordern eine generelle Tarifbindung für Journalist_innen und damit verbunden ein Ende des Ausspielens von oft noch prekäreren Freien, die als Druckmittel genutzt werden, damit Kolleg_innen Verträge mit schlechteren Konditionen annehmen.
  • Gute Arbeit auch in Haushalt und Fürsorge: Wir fordern eine öffentliche Infrastruktur mit ausreichenden und hochwertigen Pflegeeinrichtungen, Kindertagesstätten, Horten und Ganztagsschulen, damit Kolleginnen, die Kinder haben und/oder Angehörige versorgen, entlastet werden.
  • Outsourcing zu beenden: Damit wir als Journalistinnen überhaupt arbeiten können, brauchen Medienhäuser Reinigungspersonal, Kantinenpersonal, Gebäudesicherheit und Menschen am Empfang. Zusteller_innen bringen die gedruckte Zeitung zu den Leser_innen. Beschäftigte in diesen Bereichen werden immer häufiger outgesourct und verdienen besonders wenig. Doch unsere Kämpfe sind nicht begrenzt durch unsere Position in einem Gebäude; wir gehören alle zusammen. Wir fordern die Eingliederung von outgesourctem Personal in die jeweiligen Unternehmen.
  • feministischen Journalismus: Wir fordern einen Ausbau der Strukturen für guten Journalismus! Das heißt: Schluss mit Geschlechterstereotypen in den Medien und dem Desinteresse gegenüber Problemen, die Frauen betreffen, Schluss mit der inhaltlichen Verflachung. Gegen Ignoranz und Einzelkämpfertum, gegen elitären Journalismus! Für einen anderen, feministischen Journalismus!

Anmerkung:

1) Queer kommt aus dem Englischen und beschreibt Dinge, Handlungen oder Personen, die von der heterosexuellen, zweigeschlechtlichen Norm vermeintlich oder tatsächlich abweichen. Ab den 1980er Jahren wurde der Begriff zunehmend zur positiven Selbstbezeichnung, die einige Schwule und Lesben sowie bisexuelle und intergeschlechtliche Menschen und trans-Personen verwenden. Wenn wir von Frauen reden, meinen wir damit selbstverständlich auch trans Frauen. Darüber hinaus sind wir uns bewusst, dass nicht alle Menschen sich selbst als Frau identifizieren, nur weil sie von außen so eingeordnet werden.

Unsere Arbeitsbedingungen: Lohndiskriminierung, Belästigung und Gewalt

Der Journalistinnenbund fordert Journalistinnen auf, Lohndiskriminierung nicht als »nervig« abzutun, sondern ihre Rechte einzufordern. Und an dieser Stelle endet die Benachteiligung von Frauen in Medienberufen noch lange nicht.

Die Lage von Redakteurinnen

Ein paar wenige Journalistinnen in Leitungsfunktionen sind oft das Feigenblatt der männlich geprägten Redaktionen. Befristete Verträge, konstanter Stress und unbezahlte Überstunden – die Arbeitsbedingungen sind ohnehin mies, doch noch mieser für Frauen, die Kinder haben, einen Großteil der Haushaltsarbeit erledigen müssen und kranke Angehörige zu versorgen haben. Journalistinnen verdienen durchschnittlich 5,6 Prozent weniger als Journalisten – selbst wenn sie die gleiche Berufserfahrung haben und immer Vollzeit arbeiten. Auch innerhalb der Redaktionen ist männliche Dominanz tagtäglich zu spüren – zum Beispiel, wenn es darum geht, wer die Themen setzt, wessen Beitrag einen prominenten Platz erhält oder wer als kompetenter gilt, ein Thema zu kommentieren. Hinzu kommt, dass feministische Themen und Themen, die Frauen betreffen, mitunter so behandelt werden, als ob sie keine Expertise voraussetzten. Doch Feminismus und Genderthemen sind keine Kleinigkeit, die man sich mal eben nebenbei aneignet. Auch diese Themen setzen jahre- und jahrzehntelange Beschäftigung und Erfahrung voraus. Auch hierdurch wird die Arbeit von Frauen und Queers unsichtbar gemacht, ihre Kenntnisse abgewertet.

Die Lage von freien Journalistinnen

Es ist bekannt, dass die soziale Lage freier Journalistinnen schlecht ist, weil auch Medienunternehmen sich bei Honoraren immer weiter gegenseitig unterbieten. Weniger bekannt ist der Gender Pay Gap, also die unterschiedliche Bezahlung nach Geschlecht, unter freiberuflichen Journalistinnen: Rund 35 Prozent der weiblichen Freelancer sind Geringverdienende, bei ihren männlichen Kollegen sind das nur etwa 23 Prozent. Freiberuflichkeit trifft Frauen also härter. Honorare sind außerdem häufig intransparent, was Raum für Diskriminierung lässt. Außerdem werden in vielen Redaktionen bei der Auftragsvergabe Männer bevorzugt.

und darüber hinaus als Frau

Eine Journalistin in Deutschland verdient durchschnittlich 2.436 Euro netto, ein Journalist 3.151 Euro. Der Unterschied liegt somit bei 22,7 Prozent. Ein Grund: Frauen »setzen aus«, weil sie Menschen versorgen müssen, oder sie arbeiten in Teilzeit. Wenn sie dann wieder voll in den Beruf einsteigen, haben Männer, die ohne Unterbrechung gearbeitet haben, einen Vorsprung. Doch dass Frauen am Ende ihrer Berufslaufbahn als Journalistinnen durchschnittlich 600 Euro weniger verdienen, hat auch damit zu tun, dass sie nicht die gleichen Chancen haben – selbst wenn sie, wie viele es tun, kinderlos bleiben und durchgängig Vollzeit arbeiten.

Ob in der Redaktion oder als Freie: Wir Frauen tragen die Hauptlast nicht nur für Kindererziehung, sondern auch für Hausarbeit und Fürsorge für ältere und kranke Menschen. In heterosexuellen Paarhaushalten, in denen beide Vollzeit berufstätig sind, arbeiten Frauen laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung pro Tag etwa drei Stunden mehr. Da Männer in heterosexuellen Beziehungen immer noch weniger Haus- und Fürsorgearbeit verrichten als Frauen, und dies immer häufiger zu Konflikten führt, wählen finanziell besser gestellte Paare oft den Weg, Haus- und Fürsorgearbeit an migrantische Frauen auszulagern. Durch diesen Kompromiss wird das Konfliktpotenzial von Hausarbeit in Partnerschaften abgemildert. Dass die öffentliche Infrastruktur aus Kindertagesstätten, Horten oder Ganztagsschulen unzureichend ist, verstärkt diesen Trend zur Auslagerung an Migrantinnen, die Tätigkeiten wie Kinderbetreuen, Waschen, Putzen oder Pflegen zu geringen Löhnen und häufig illegal erledigen. Doch Emanzipation für reichere, die mit der Benachteiligung und geringerem Lohn für migrantische Frauen einhergeht, kann nicht das Ziel von Feminismus sein. Die Kämpfe von illegal und prekär Beschäftigten, etwa Haus- und Pflegearbeiterinnen, hängen mit unseren Kämpfen als Journalistinnen zusammen; Erstere ermöglichen unsere journalistische Arbeit oft erst. In diesem Sinne fordern wir: ein bedingungsloses Aufenthaltsrecht für alle Menschen, die in Deutschland leben, sowie bessere Bedingungen auch in diesen Arbeitsbereichen.

Gewerkschaften müssen sich stärker politisch positionieren

Angemessener Lohn ist die Grundlage für guten Journalismus. In letzter Zeit gehen immer mehr Medienhäuser dazu über, die Tarifbindung und vormals vereinbarte Tarifstandards zu umgehen (eine Liste dieser Verlage findet man etwa bei ver.di). Redakteur_innen werden in eigenständige, nicht tarifgebundene Gesellschaften ausgelagert, Leiharbeit wird außertariflich geregelt und Personen im Volontariat werden nicht mehr direkt beim Verlag oder Medienhaus angestellt. Ver.di wirft zudem dem Bundesverband Druck und Medien vor, durch die Möglichkeit der »OT-Mitgliedschaft« (ohne Tarifbindung) an der Tarifflucht beteiligt zu sein.

Weil Frauen nicht nur von Sexismus betroffen sind, sondern viele von uns auch aufgrund von Rassismus, Behindertenfeindlichkeit, Homofeindlichkeit, Transfeindlichkeit oder Abwertung aufgrund der sozialen Herkunft Diskriminierung erleben, fordern wir, dass alle Benachteiligungen, die Frauen erleben, ernst genommen werden, und dass Gewerkschaften diese zum Gegenstand von Tarifverhandlungen machen. Sexuelle Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz müssen als allgemeines und strukturelles Problem behandelt werden.


Gegen die geltenden »Standards« und die Strukturen der Branche

Gegen Geschlechterstereotype in den Medien und gegen das Desinteresse an Problemen von Frauen

Wenn über Gewalt gegen Frauen, Strafprozesse wegen sexualisierter Gewalt oder familienrechtliche Fragen berichtet wird, sind sexistische Stereotype omnipräsent. Frauen werden wahlweise dargestellt als stumme Opfer, als intrigante Lügnerinnen oder als rachsüchtige Mütter, die ihren Ex-Ehemännern oder Ex-Partnern die Kinder vorenthalten wollten. Einzelfälle sexualisierter Gewalt werden von antifeministischen rassistischen Kräften instrumentalisiert und medial umfassend begleitet. Medial ignoriert werden dagegen häufig die Erfahrungen von Frauen, die als Reinigungskräfte in Hotels, in der Gastronomie, als Angestellte in Massagesalons oder als Sexarbeiterinnen tätig sind und kaum Schutz vor sexualisierter Gewalt erfahren.

In vielen journalistischen Formaten, etwa im Fernsehen, sind Frauen und Queers extrem unterrepräsentiert. Laut der Studie »#frauenzählen« der Universität Rostock präsentieren etwa 80 Prozent aller non-fiktionalen Unterhaltungsprogramme Männer. Ab Mitte 30 werden Journalistinnen hier quasi aussortiert. Auch auf Bildern sind Frauen und Queers systematisch unterrepräsentiert. Wenn Frauen gezeigt werden, dann oft auf klischeehafte Weise. Die Unterrepräsentanz von Frauen im Zusammenhang mit einer beruflichen Funktion ist ebenso untragbar wie die Ergebnisse des Global Media Monitoring Projects, demzufolge drei von vier Personen, die in den Nachrichten Erwähnung finden, Männer sind. Wir fordern mediale Inhalte und eine Bebilderung, in denen Frauen und Queers der Realität entsprechend divers und differenziert vorkommen.

Dass sich im Journalismus rassistische, sexistische, bürgerliche und weitere Ausschlüsse widerspiegeln, scheint fast schon ein Allgemeinplatz. Gerade aus diesem Grund müssen Redaktionen stärker sensibilisiert werden und kritischer, feministischer, antirassistischer Journalismus gestärkt werden. Wir fordern mehr Ressourcen, um Ausmaß und Folgen sexistischer, rassistischer und sozialchauvinistischer Medienberichterstattung zu analysieren und öffentlich zu machen. Hierfür sind grundlegende Veränderungen in den Redaktionen nötig, auch personelle. Es braucht zudem klare Mechanismen, um mit Konkurrenz- und Dominanzverhalten umzugehen, ebenso wie gewerkschaftlich oder anderweitig abgesicherte Räume, in denen Frauen ihre Forderungen als Lohnarbeitende artikulieren können und Konsequenzen daraus gezogen werden.

Gegen Ignoranz und Einzelkämpfertum

Dieser Punkt richtet sich insbesondere an die Ressortleiter_innen und Chefredakteur_innen: Wenn über feministische Forderungen berichtet wird, konzentrieren sich Journalist_innen oft auf Forderungen nach Repräsentation oder andere Aspekte, die besonders griffig sind – wie die Einführung des 8. März als Feiertag in Berlin. Wir weisen darauf hin, dass feministische Kritik schon immer darin bestand, den männlichen Standard in allen Bereichen der Gesellschaft – ob Ökonomie, Kultur, Politik, Psychologie oder Wissenschaft – aufzudecken, zu hinterfragen und ihm andere, eigene Werte entgegenzusetzen. Für den Journalismus heißt das: Einzelkämpfer_innen, die sich durch Dominanz und männlich dominierte Netzwerke durchsetzen, sind von gestern. Der Fall Relotius sollte gezeigt haben, dass ein Journalismus, der die Genialität von Einzelnen als preiswürdig betrachtet, keine Zukunft hat. Statt also diejenigen zu feiern, die angeblich alleine und unter großem Zeitdruck scheinbar geniale Texte produzieren, sollten eher langfristig angelegte, kollaborative Recherchen, hinter denen tiefgehende Einblicke stehen, Anerkennung erfahren. Das heißt zum Beispiel, solidarische Netzwerke mit feministischem Anspruch verstärkt zu fördern und anderen Journalistinnen gegenüber zu öffnen. Wir kritisieren zudem Auslandsberichterstattung, die zuarbeitenden einheimischen Reporter_innen die Anerkennung verweigert; dies geschieht allzu häufig, etwa indem die Namen dieser Mitautor_innen nicht erwähnt werden oder deren Arbeit nicht vergütet wird.

Gegen elitären Journalismus

Die Inhalte, die Menschen in Deutschland über Medien rezipieren, werden bestimmt von einer kleinen Elite, die hauptsächlich aus Männern besteht, und die häufig dieselben politischen Perspektiven und Ziele teilen. Journalismus wird mehr und mehr zum Elitenjob, den sich nur leisten kann, wer finanzielle Unterstützung durch Eltern, Großeltern, Lebenspartner, den Ehemann oder die Ehefrau erhält.

Gegen die inhaltliche Verflachung des Journalismus und gegen die Monopolisierung

Eine weitere Folge der schlechten Arbeitsbedingungen und niedrigen Löhne ist: Qualitätsverlust. Der Journalistinnenbund beobachtet etwa eine »Orientierung am Mainstream und oberflächliche Recherche, Nachrichtenfaktoren, die die Perspektive von Frauen ausblenden, und einseitige Interpretationen von Fakten«. Gleichzeitig leben wir in einer Zeit gesellschaftlicher Polarisierung, der mit kritischer, seriöser und gründlich recherchierter Berichterstattung begegnet werden sollte.

Dafür braucht es Zeit und Geld. Wir fordern ausreichend Ressourcen, um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, insbesondere auch für eine feministische Berichterstattung. Derzeit dominieren einige wenige mächtige Medienhäuser den medialen Diskurs. Unterdessen geht das Zeitungssterben weiter und die Medienkonzentration wächst. Doch Medien sind für Demokratie essenzielle Mittel der Kritik und Kontrolle. Es braucht neue medienpolitische Strategien, um der gefährlichen Monopolisierung etwas entgegenzusetzen: Die Medienförderung darf nicht dem Markt überlassen werden.

Ein anderer, feministischer Journalismus ist möglich! Dafür streiken wir am 8. März 2019!

Unterzeichnerinnen:

Katharina Alexander, ze.tt

Kersten Artus, freie Journalistin

Maayan Z. Ashash, freie Journalistin

Jennifer Beck, Missy Magazine

Cornelia Berger, Geschäftsführerin der der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di

Marion Bergermann, neues deutschland

Birthe Berghöfer, freie Journalistin, Auslandsreporterin in Schweden

Edna Bonhomme, freie Journalistin

Melina Borčak, freie Journalistin und Filmemacherin, Deutsche Welle-Korrespondentin für Bosnien

Johanna Bröse, re:volt magazine

Maike Brülls, taz

Susanne Brust, Lateinamerika Nachrichten

Teresa Bücker, EDITION F

Haidy Damm, neues deutschland

Mareen Butter, freie Journalistin

Dimitra Dermitzaki, freie Journalistin

Sarah Diehl, freie Autorin und Aktivistin

Inga Dreyer, freie Journalistin

Hannah Eberle, analyse & kritik

Astrid Ehrenhauser, freie Journalistin

Helke Ellersiek, freie Journalistin

Lea Fauth, freie Journalistin, Lateinamerika Nachrichten

Vanessa Fischer, neues deutschland

Marie Frank, neues deutschland

Jana Frielinghaus, neues deutschland

Julia Fritzsche, freie Journalistin und Autorin

Sonja Gerth, CIMAC Mexiko

Tina Groll, Zeit Online, Bundesvorsitzende der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di

Jelena Gučanin, freie Journalistin

Eva Gutensohn, freie Journalistin, SWR, Radio Dreyeckland

Marlene Halser, taz

Patricia Hecht, taz

Florence Hervé, freie Journalistin

Mareice Kaiser, ze.tt

Jasmin Kalarickal, taz

Caroline Kassin, Lateinamerika Nachrichten

Mina Khani, freie Journalistin, Bloggerin, 6RANG

Caroline Kim, Lateinamerika Nachrichten

Elsa Koester, Freitag

Chris Köver, Netzpolitik und Missy Magazine

Claudia Krieg, analyse & kritik

Anja Krüger, taz

Ulrike Kumpe, neues deutschland

Șeyda Kurt, ze.tt

Juliane Lang, freie Journalistin

Lotte Laloire, neues deutschland

Anna Lehmann, taz

Alina Leimbach, neues deutschland

Anna Mayrhauser, Missy Magazine

Caren Miesenberger, freie Journalistin

Johanna Montanari, freie Journalistin

Carmela Negrete, freie Journalistin

Samuela Nickel, neues deutschland

Laila Oudray, freie Journalistin

Rebecca O'Dwyer, freie Journalistin

Dinah Riese, taz

Eleonora Roldán Mendívil, Lower Class Magazine und freie Journalistin

Mithu Sanyal, freie Journalistin und Autorin

Nadine Schildhauer, freie Journalistin

Eva Schmid, freie Layouterin, Jungle World

Nina Scholz, freie Journalistin

Andrea Schöne, freie Journalistin

Beke Schulmann, NDR Info

Hannah Schultes, analyse & kritik

Krystyna Schreiber, freie Journalistin

Ines Schwerdtner, Ada Magazin

Katharina Schwirkus, neues deutschland

Bahar Sheikh, analyse & kritik und Missy Magazine

Leonie Sontheimer, collectext

Margarete Stokowski, freie Journalistin, Spiegel Online

Barbara Streidl, freie Journalistin, Bayerischer Rundfunk

Lea Susemichel, an.schläge

Miriam Suter, freie Journalistin, NZZ, WOZ

Ann-Kristin Tlusty, ZEIT ONLINE

Meşale Tolu, freie Journalistin

Johanna Treblin, neues deutschland

Nelli Tügel, neues deutschland

Margarita Tsomou, Missy Magazine, HAU Hebbel am Ufer

Hannah Vögele, freie Journalistin

Sylvia Vogt, Tagesspiegel

Anna-Maria Wagner, Medien- und Diversityexpertin

Ulrike Wagener, neues deutschland

Julia Wasenmüller, Lateinamerika Nachrichten

Tanja Wassiljev, Lower Class Magazine

Eva Werner, freie Journalistin

Carolin Wiedemann, freie Journalistin

Claudia Wrobel, freie Journalistin

Hengameh Yaghoobifarah, Missy Magazine

Chandrika Yogarajah, freie Journalistin

Vina Yun, freie Journalistin und Redakteurin

Milan Ziebula, freie Journalistin bei collectext

Maike Zimmermann, analyse & kritik

Erica Zingher, freie Journalistin

Lou Zucker, neues deutschland und collectext

Wer diesen Aufruf unterzeichnen möchte, meldet sich bitte mit Name und Medium unter: journalistinnenstreik@gmail.com

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Gegen Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus – am Frauen*kampftag geht es ums Ganze. Gespräch mit Friederike Benda

Friederike Benda, 31 Jahre alt, hat das Bündnis Frauen*kampftag mit ins Leben gerufen, ist im Frauenstreik Komitee Berlin und in der LINKEN aktiv.

Was ist das Frauen*kampftag-Bündnis in Berlin?

Vor sechs Jahren haben wir versucht, trotz notwendiger Benennung aller Differenzen und Widersprüche innerhalb der feministischen Bewegung unsere Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu stellen. Nicht, weil wir Frauen alle gleich wären, sondern weil sich unser Wir über gemeinsame Forderungen herstellt. In Zeiten, in denen Feminismus zum Teil selbst zu einem neoliberalen Projekt geworden ist – etwa der »Hillary Clinton Feminismus« -, wollen wir deutlich machen, dass wir uns nicht mit Verbesserungen für wenige Frauen abgeben. Wir wollen ein sorgenfreies Leben für alle Menschen. Wir lassen uns nicht durch Frauenquoten und Antidiskriminierungsstellen ruhig stellen, auch wenn wir deren Notwendigkeit nicht in Frage stellen.

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Nach einem brutalen Mord an einer jungen Frau formierte sich im Juni 2015 in Argentinien die Bewegung »Ni Una Menos«. Sie fordert mit ihrem Namen: Keine einzige weitere Frau soll getötet werden! Die Bewegung wuchs und wuchs. Ni una menos weitete sich von Südamerika über Italien und Spanien bis nach Deutschland aus, wo unter dem Titel »#keinemehr« mobilisiert wird. In Italien heißt die Bewegung »Non una di meno«. Der Blick nach Italien lohnt sich: Non una di meno ist eine erfolgreiche Massenbewegung im politisch düsteren Klima und kann vielleicht auch die feministische Basisbewegung in Deutschland inspirieren.

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