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Seit einigen Jahren bemüht sich der „linke Flügel“ der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) ihre Partei in neuem Glanz erscheinen zu lassen. Die zwei „linken“ Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken sollen der in der Wählergunst dramatisch abgesunkenen SPD einen neuen roten Anstrich verpassen. Und wo es ganz viel Glaubwürdigkeit braucht, um den ewig gleichen Kompromiss mit Staat und Kapital als jugendlich-rebellisch zu vermarkten, wird Juso-Chef Kevin Kühnert aus dem Hut gezaubert, der in sich selbst und alle Zuhörer*innen erniedrigenden Reden sogar die Ernennung von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten zur „linken“ Errungenschaft umdeutet.

Nun ist es zwar so billig wie richtig, einem Kühnert zu attestieren, er sei eine Art Sigmar Gabriel auf Speed – denn letzterer brauchte vom Antimilitarismus-Referenten bei den Falken bis zum Kriegstreiber und internationalen Waffendealer wenigstens noch ein paar Jahrzehnte. Oder eine Saskia Esken an ihre eigenen Versprechen zu erinnern – etwa, was die Kinder von Moria betrifft –, deren Ablaufdatum jedes Lidl-Gemüse in den Schatten stellt. Die Sozialdemokratie hat in weiten Teilen der Bevölkerung den Ruf, keinerlei Rückgrat zu haben. Wenn sie sagt, es kommt keine GroKo, weiß man, es kommt eine. Wenn sie sagt, Rüstungsexporte werden weniger, weiß man, sie werden steigen. Und wenn sie sagt, sie werde sich jetzt wieder mehr den Beschäftigten und Erwerbslosen widmen, bekommt man es mit der Angst zu tun.

Warum ist das so? Woran liegt es, dass eine Partei, die gerade nach eigenem Bekunden einen „Linksruck“ vollzogen hat, jemanden wie Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten macht? Woran liegt es, dass eine Partei, die sich „sozialdemokratisch“ nennt, Hauptverantwortlich für das größte Paket antisozialer Reformen der letzten Jahrzehnte ist? Warum pflegt eine Partei, die sich „internationalistisch“ nennt, wenn sie regiert, engste Beziehungen zu Faschisten wie Bolsonaro, Erdogan oder Trump? Oder gehen wir weiter zurück: Warum rief dieselbe Partei noch am Beginn des 20. Jahrhunderts die Arbeiterklasse aller Länder zur Einheit, während sie 1914 die Vaterlandsverteidigung für unumgänglich hielt und die deutsche Arbeiterklasse zum Morden und Sterben in den Weltkrieg führte? Warum ist es eine Partei, die behauptete, für den Sozialismus zu sein, die zusammen mit proto-faschistischen Freikorps rebellierende Arbeiter*innen ermorden und Räterepubliken niederschlagen ließ?

Es hat wenig mit dem jeweiligen Personal zu tun. Man kann Kevin Kühnert attestieren, ein witziger Typ zu sein, der wirklich glaubt, irgendwas für die Menschen in diesem Land tun zu können; und man kann Saskia Esken durchaus für eine sympathische Person halten – zumindest im Vergleich zu den Amthors und Scheuers des großen Gegners und Langzeitpartners CDU/CSU. Und dennoch braucht man weder von dem einen, noch von der anderen irgendetwas zu erwarten.

Denn das Problem der Sozialdemokratie liegt tiefer. Und es besteht seit weit über hundert Jahren. Es ist aber auch ein sehr interessantes Problem, denn es zeigt, wie eine Partei, die zur Befreiung des Proletariats und mit ihm der gesamten Menschheit antrat, eine Hauptstütze von Kapitalismus und Krieg wurde. Die Geschichte dieses Wandels sagt aber nicht nur etwas über die SPD; in ihr spiegelt sich die gewisse Zukunft jedes „reformistischen“ Politikansatzes.

Vom gemeinsamen Band umschlungen

Am 4. August 1914 begründete der Fraktionsvorsitzende der SPD, Hugo Haase, im Reichstag die Zustimmung der Sozialdemokratie zu den Kriegskrediten. Wie? Das erste Element ist, den Krieg als ein „Verteidigungskrieg“ darzustellen und den „russische Despotismus“ als eine Gefahr für das gesamte deutsche Volk. In der Stunde der Not rücken alle zusammen, aber nicht etwa ohne Unterschied der Nation global alle Unterdrückten und Ausgebeuteten, sondern alle innerhalb einer Nation. „Unsere heißen Wünsche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei.“

Der Weg war frei für das millionenfache Sterben, für den Hurrapatriotismus, das Schlachten und Geschlachtetwerden in den Gräben von Verdun und an der Marne. Die Einheit der Weltarbeiterklasse gegen die Kapitalisten war anderen Slogans gewichen: Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos. Rosa Luxemburg, eine der schärfsten Kritiker*innen des Kriegskurses der SPD, merkte an: „Der welthistorische Appell des Kommunistischen Manifests erfährt eine wesentliche Ergänzung und lautet nun […]: Proletarier aller Länder, vereinigt euch im Frieden, und schneidet euch die Gurgeln ab im Kriege!“

Was war geschehen? Noch im ausgehenden 19. Jahrhundert und am Beginn des 20. hatte es an Friedensbotschaften aus der SPD wahrlich nicht gemangelt. Ähnlich wie andere sozialdemokratische Parteien sah sie die internationale Solidarität der Arbeiter*innenklasse als Garant dafür, dass die Bourgeoisie nicht willkürlich Massen gegeneinander in den Kampf schicken könne, um ihre eigenen Expansionsinteressen zu verwirklichen.

Reisen wir sechs Jahre in die Zukunft. Der Krieg ist vorbei, Deutschland hat verloren, war aber nun bürgerliche Republik. Heinrich Rieke, SPD-Alterspräsident des Reichtags, erklärt in der Sitzung vom 24. Juni 1920 an die Adresse der bürgerlichen Parteien: „Die gemeinsame Not unseres Landes wird uns manchmal enger zusammenschmieden – so hoffe ich – als der hinter uns liegende heftige Wahlkampf, als der traditionelle Zwiespalt der Parteien in Deutschland es vermuten lässt. Denn schon bisher hat am ehesten dann ein gemeinsames Band die äußerste Linke mit der äußersten Rechten umschlungen, dann, wenn es galt, irgendwo in unserem Lande plötzlich aufgetretene Not helfend zu lindern.“

Etwas mehr als ein Jahr war es da her, dass die „äußerste Linke“ in Gestalt des SPD-Politikers Gustav Noske zusammen mit der „äußersten Rechten“, proto-faschistischen Freikorpsmilizen, die beiden Kriegsgegner*innen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sowie hunderte weitere kommunistische Arbeiter*innen ermordet hatten, weil diese eine Räterepublik erkämpfen wollten. Diese Art des Zusammenstehens in der „gemeinsamen Not“ wird sich in den folgenden Jahrzehnten wiederholen: Die SPD wird maßgeblich an der Zerschlagung der bayerischen Räterepublik mitwirken, im Blutmai 1929 dutzende unbewaffnete Arbeiter*innen niederschießen lassen und die Notstandsdiktatur Heinrich Brünings stützen.

Seit 1914 ergibt sich ein sehr klares Bild der Sozialdemokratie: Sie sieht in dem deutschen Staat etwas, das man verteidigen muss – ob gegen den äußeren Feind im Weltkrieg oder gegen den inneren Feind in Gestalt kommunistischer oder anarchistischer Arbeiter*innen. Natürlich streitet sie gelegentlich weiterhin mit bürgerlichen Parteien; und natürlich sieht sie auch in den Faschisten einen Gegner. Aber letztlich hat sie sich eingerichtet und meint, der bestehende Staat sei derjenige, der ihrem politischen Projekt schrittweiser Reformen den besten Spielraum bietet.

Der Proletarier hat doch ein Vaterland

Vorangegangen war diesem Schwenk schon in den 1890er-Jahren eine breite Debatte über die „Revision“ der marxistischen Theorie. Eduard Bernstein, der prominenteste Theoretiker dieser Strömung, unterlag zwar scheinbar mit seinem Anliegen, den revolutionären Marxismus durch eine Theorie der Sozialreform zu ersetzen – aber viele seiner Thesen lagen in der Luft des Zeitgeistes und gingen Schritt für Schritt in den common sense der Sozialdemokratie über. Jahrzehnte später, im Jahr 1964, wird der SPD-Funktionär Carlo Schmid zurecht feststellen: „Eduard Bernstein hat auf der ganzen Linie gesiegt.“

Bernsteins Angriff auf den Marxismus hat dabei eine innere Stringenz: Er setzt an Marxens Analyse der immanenten Widersprüche des Kapitalismus an, verwirft sie, um Platz zu machen für seine These, dass noch innerhalb des Kapitalismus und unter Herrschaft des bürgerlichen Staates ein schrittweises Voranschreiten durch Reformen in Richtung Sozialismus möglich ist. War das objektive Interesse des Proletariats im Marxismus noch unversöhnlich dem von Kapital und bürgerlichem Staat entgegengesetzt, betritt mit Bernstein die bis heute gängige „Standortpolitik“ die historische Bühne. Wenn die (kapitalistische) Gesellschaft im Ganzen reicher wird, wird der Spielraum für Reformen im Dienst der Arbeiter*innenklasse größere. „Je reicher die Gesellschaft, um so leichter und sicherer die socialistischen Verwirklichungen“, behauptet Bernstein.

Der Arbeiter ist nun organisch verbunden mit „seiner“ Nation, weshalb Bernstein den berühmten Satz von Karl Marx, der Proletarier habe kein Vaterland, für veraltet erklären muss. „Indeß dieser Satz konnte allenfalls für den rechtlosen, aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossenen Arbeiter der vierziger Jahre zutreffen, hat aber heute, trotz des enorm gestiegenen Verkehrs der Nationen miteinander, seine Wahrheit zum großen Theile schon eingebüßt und wird sie immer mehr einbüßen, je mehr durch den Einfluß der Sozialdemokratie der Arbeiter aus einen Proletarier ein – Bürger wird“, schreibt er in Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie im Jahr 1899.

Kolonien, Kriege, Standortsicherung

Es ist zwar kein Monopol der Sozialdemokratie, aber mit der Verengung der Klassenanalyse auf das „nationale“ Proletariat ist der Weg in den Untergang beschlossene Sache. Die deutschen Proletarier sind nun nicht in erster Linie ein Segment der Weltarbeiter*innenklasse, sondern „Bürger*innen“ Deutschlands, die eben auch noch Arbeiter*innen sind und deshalb in ihrer Nation für Reformen zu kämpfen haben.

Es ist logisch, dass aus dieser Sicht etwa Kolonien nicht grundsätzlich abzulehnen sind. Bernstein befürwortet den Kolonialismus gelegentlich zur Hebung der „Kultur“ der „unzivilisierten“ Völker, an einer Stelle allerdings spricht er auch den Kern der Sache aus: „Die Ausdehnung der Märkte und der internationalen Handelsbeziehungen ist einer der mächtigsten Hebel des gesellschaftlichen Fortschritts gewesen. Sie hat die Entwicklung der Productionsverhältnisse in ausserordentlichem Grade gefördert und sich als ein Factor der Steigerung des Reichtums der Nationen bewährt. An dieser Steigerung haben aber auch die Arbeiter von dem Augenblick an ein Interesse, wo Coalitionsrecht, wirksame Schutzgesetze und politisches Wahlrecht sie in den Stand setzen, sich steigenden Anteil an derselben zu sichern.“ Logo, wenns der Nation gut geht, geht‘s den Arbeitern gut, und damit es der Nation gut geht, dürfen sich die primitiven Länder nicht ihrer Einbindung in den Weltmarkt widersetzen.

Von hier an ist es nicht mehr weit zur „Vaterlandsverteidigung“, die von Verdun bis zum Hindukusch in der DNA der deutschen Sozialdemokratie verblieb. Bernstein: Klar, man sei für Frieden, aber nichts gebiete der SPD, „dem Verzicht auf Wahrung deutscher Interessen der Gegenwart oder Zukunft das Wort zu reden, wenn oder weil englische, französische oder russische Chauvinisten an den entsprechenden Maßnahmen Anstoß nehmen.“ Und mehr noch: Die „Internationalität [kann] kein Grund schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber den Prätensionen ausländischer Interessenten sein.“

Wer Bürger einer Nation ist, die beständigen Fortschritt garantiert, muss sich aber nicht nur gegen Bedrohungen von außen, sondern auch gegen die von innen stemmen. Und das sollten, was Bernstein noch nicht wissen konnte, nach dem von der SPD mit befeuerten Ersten Weltkrieg vor allem kommunistische Arbeiter*innen werden.

Es liegt durchaus auf der Linie derselben Theorie, wenn Gustav Noske nach der von ihm befehligten Ermordung hunderter Arbeiter*innen im Jahr 1919 stolz von der Niederschlagung des Aufstands erzählt, den „wackeren Truppen“ dankt und sich rühmt, „Ruhe und Sicherheit“ wiederhergestellt zu haben. Die Arbeiter*innen nennt er „Bestien in Menschengestalt“ und „Amokläufer“. Seinen Schießbefehl rechtfertigt der SPD-Politiker mit den Worten: „Die Staatsnotwendigkeit gebot, so zu handeln, dass so rasch wie möglich Ordnung und Sicherheit wiederhergestellt wurden. […] Getan habe ich, was gegenüber dem Reich und dem Volk für meine Pflicht gehalten wurde.“

Von der „Volkspartei“ zur Partei des Neoliberalismus

Der Wandel der SPD von der Klassenpartei zur „Volkspartei“ und Stütze der deutschen Nation setzte sich von da an unaufhaltsam fort, bis sie sich in ihrem Godesberger Programm von 1959 endgültig von allen Überbleibseln einer marxistischen Vergangenheit verabschiedete. „Kapitalismus“ kommt in dem Programm nicht mehr vor, der Adressat des Dokuments sind „die Menschen“ oder „das deutsche Volk“, nicht die Arbeitenden und Erwerbslosen. Der Begriff „demokratischer Sozialismus“ kommt als inhaltsleere Phrase zwar noch vor, aber die wirklichen Bezugspunkte sind andere: „Der Staat“ – völlig klassenneutral und überhistorisch –, der allerlei Freiheitsrechte und Versorgung gewährleisten soll und „die Demokratie“, die ebenfalls nicht mehr als „bürgerliche“ oder „sozialistische“ ausdifferenziert wird. Das ganze Programm ist ein Treueschwur zur kapitalistischen BRD und ihren Interessen.

Als Partei mit Arbeiter*innen-Anhang aber pro-kapitalistischem Programm erfüllt die SPD künftig eine immens wichtige Rolle bei der Stabilisierung kapitalistischer Verhältnisse. Insbesondere als im Gefolge der Ausgliederung großer Teile der Industrie in den Trikont seit den 1970er-Jahren, dem Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus und dem Auftreten eines neuen Krisenzyklus der scheinbare Klassenkompromiss der „Sozialpartnerschaft“ durch das Kapital aufgekündigt wird, erfüllt die SPD ihre Rolle mustergültig. Sie wird zur Haupttriebkraft der neoliberalen Umgestaltung.

Das sogenannte Schröder-Blair-Papier markiert den Wandel hin zu einer Partei, die nicht mehr der Illusion anhängt, durch Reformen den Arbeiter*innen im Kapitalismus zur Verbesserung ihres Lebensstandards zu verhelfen, sondern die den Kapitalismus durch Reformen gegen die Werktätigen und ihre erwerbslose Reservearmee „retten“ will. Die Ergebnisse sind bekannt: Eine weitgehende Zerschlagung von sozialer Absicherung, die immense Ausdehnung des Niedriglohnsektors, das Wuchern von Leiharbeit und Werkvertragsunwesen.

Die allgemeine Tendenz vieler sozialdemokratischer Parteien zu Hauptstützen des Neoliberalismus war einer der Faktoren, die den länderübergreifenden Niedergang der einstigen „Volksparteien“ auslöste. Die SPD verlor in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder, sank von 943 402 im Jahr 1990 auf 419 300 im vergangenen Jahr ab. In der Wählergunst sah die Entwicklung ähnlich dramatisch aus. Von 40,9 Prozent 1998 auf derzeit um die 20 Prozent.

Und täglich grüßt das Murmeltier …

Allerdings bedeutet der Glaubwürdigkeitsverlust einer bestimmten Partei nicht, dass der Reformismus als gesellschaftliche Kraft ausgedient hat. In dem Maße, in dem der „Platz“ der SPD frei wurde, bemühte sich die Partei „Die Linke“ nun diejenigen einzusammeln, die zwar von der Sozialdemokratie, aber nicht von der Illusion eines durch Koalitionsregierungen ausverhandelten gemächlichen Fortschritts innerhalb des Kapitalismus genug haben.

Die „neue“ Sozialdemokratie mag sich gelegentlich noch ungestümer benehmen, als ihr in die Jahre gekommener Vorläufer. Ihr „demokratischer Sozialismus“ mag noch mit der ein oder anderen identitätspolitischen Ausschmückung bunter eingefärbt sein. Und es mag noch den ein oder anderen wackeren Bezirks- oder Landesverband geben, der es ernst meint, mit der Phrase von der „Partei der Bewegungen“. Aber die Weichen werden mehr und mehr gestellt in Richtung einer etwas „linkeren“ Sozialdemokratie für die Mehrheitsbeschaffung einer dann anzustrebenden rot-rot-grünen Verwaltung des deutschen Kapitalismus.

Das Konzept ist bereits dasselbe wie früher in der Sozialdemokratie: Als „Sozialismus“ gilt wahlweise „Umverteilung“ – also nicht die grundlegende Änderung des Systems, sondern das permanente Werkeln an seinen Symptopmen – oder noch schlimmer: Sozialismus ist, wenn „der Staat“ irgendetwas tut. Das jüngste Papier der sogenannten „Reformer“ hält in diesem Kontext sogar temporäre Unternehmensbeteiligungen kapitalistischer Staaten für „klassisch linke Ideen“, reproduziert die Bild-Zeitungsthese, die Bewältigung der Corona-Krise habe irgendwie sozialistische Züge und konstatiert: „Diese Krise hat erneut gezeigt, dass auch in einem kapitalistischen System ein Mehr an Solidarität auch im Hier und Jetzt möglich ist“ – ganz so, als ob irgendeine revolutionaristische Strömung in der Linkspartei die ganze Zeit auf den großen Bruch drängen würde.

Wohin das führt, kann man sich – natürlich mit Unterschieden – am großen Vorbild vieler linker „Reformer“ in Griechenland ansehen. Die dortige Linkspartei Syriza vermochte es, auf einer Welle von Straßenprotesten gegen die Austeritätspolitik zur stimmenstärksten Partei zu werden. Die traditionelle Sozialdemokratie PASOK zerfiel völlig, Syriza nahm ihren Platz ein. Einmal an der Macht konnte dann aber mangels irgendwelcher Ideen jenseits kapitalistischer Sachzwänge nichts anderes tun, als sich gegen eine Volksabstimmung, die den Bruch mit dem neoliberalen EU-Diktat forderte, dennoch erneut eben diesem zu unterwerfen. Die Partei verlor massiv an Popularität und die damals schon für halb tot erklärten Konservativen kamen zurück an die Macht.

Das wiederum ist für die reformistischen Funktionär*innen keine besondere Niederlage, sondern allenfalls ein normaler Fall politischer Konjunktur. Man will ja den Parlamentarismus nicht durch eine neue Form von Demokratie ersetzen, sondern in ihm mitspielen. Und da regiert eben einmal der Gigl und einmal der Gogl.

Wem nutzt der Reformismus?

Der Reformismus in dieser Form hat nichts mit dem gemein, was Rosa Luxemburg „revolutionäre Realpolitik“ nannte und worauf sich die heutige Linkspartei so gerne bezieht. Für Luxemburg – wie für alle Revolutionär*innen – war klar, dass Reformen nie Selbstzweck sind, sondern Mittel zum Zweck der Revolution. Das eigentliche Resultat der Kämpfe um Reformen sind aus revolutionärer Perspektive demnach auch nicht die jeweils errungenen Krümel, sondern das Vorantreiben des Organisierungsgrades der Klasse und die Schaffung von Klassenbewusstsein – daran muss sich linke Politik messen lassen und man wird keinen Beleg brauchen, um die miserable Bilanz der diversen europäischen Linksparteien in dieser Hinsicht zu sehen.

Der systemerhaltende Reformismus hat aber ohnehin ein anderes Ziel. Er weiß, dass er seinen Platz „im Hier und Jetzt“ hat, also innerhalb des Kapitalismus seine Funktion einnimmt. Und gelegentlich wird er als solches auch gebraucht. Denn der kapitalistische Staat hat seinerseits die Aufgabe, das Bestehen des Gesamtsystems auch gegen die Interessen einzelner Kapitalfraktionen durchzusetzen. Er muss Sorge tragen, dass das maßlose Profitstreben der Einzelkapitale nicht in den Ruin führt.

Die Klügeren unter den Reformisten kennen ihre Aufgabe in diesem Rahmen genau. Linkspartei-Ikone Gregor Gysi tourt mit genau diesem Konzept seit vielen Jahren von Unternehmertagung zu Unternehmertagung. In seiner Rede unter dem Titel „Die Gefährdung Europas und die Verantwortung Deutschlands“ bei der Investment Holding Mountain Partners von 2016 formuliert er diesen Ansatz mit wünschenswerter Deutlichkeit. Er spricht über Geflüchtete, die man nicht mehr aufhalten könne und über die immer weiter auseinanderklaffende Schere zwischen Arm und Reich. Dann sagt er: „Wir stehen vor einer Grundsatzfrage: Lassen wir die Schere so weiter aufgehen. Oder drehen wir sie um? Nicht maßlos. Nicht maßlos. Aber drehen wir sie um. Und ich sage ihnen: Die klugen Reichen, die wissen, wenn sie nicht etwas gerechter verteilen, gefährden sie ihre Existenz. Die dummen Reichen sind nur gierig. Ich weiß, dass Sie alle klug und reich sind.“

Gysi hat völlig recht. Genau das ist die Funktion, die er und die Seinen auszufüllen haben. Der Kapitalismus hat in bestimmten Phasen und insbesondere in den imperialistischen Metropolen, denen Extraprofite aus der Ausbeutung der Peripherie zufließen, einen gewissen Reformspielraum. Wie der verteilt wird, darum können all jene ringen, die auf dem bunten Markt des Parlamentarismus das Fell ihrer Wähler*innen feilbieten.

Aber warum nicht?

Nun könnte man fragen: Warum denn nicht? Ist das nicht auch irgendwie super, besser der Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach. Wenn Gregor Gysis gemächlicher, nicht maßloser Umverteilungskurs den Kapitalisten nützt und gleichzeitig uns andere zumindest weniger arm macht, ist er dann nicht auch irgendwie okay? Man muss ja nicht gleich Kommunist*in sein!

Der allgemeine Haken an der Sache ist, dass der Reformismus Ausbeutung nie beendet, sondern sie nur abmildern will. Aber geschenkt, denn wenn man ohnehin nicht der Auffassung ist, dass man sie beenden kann, zieht das Argument nicht. Nur hat der Reformismus ein weiteres Problem. Er funktioniert auch innerhalb seiner langweiligen und eng gesteckten Ziele nicht – was man ja wiederum sehr gut an der Geschichte der SPD ablesen kann. Nicht sie hat den Kapitalismus gezähmt, sondern der Kapitalismus hat die Sozialdemokratie zu seiner handzahmen Dienerin gemacht.

Im besten Fall ist der Reformismus eine von den Konjunkturen des Kapitalismus abhängige Sisyphos-Arbeit, deren mühsam in der einen Konjunkturphase errungene „Verbesserungen“ in der darauffolgenden flöten gehen. Auch das ist nichts neues, Friedrich Engels schrieb 1891 im Bezug auf die Politik der englischen Trade-Unions, diese würden immer nur „unter ständigen Kämpfen, mit ungeheurem Verschleiß an Kraft und Geld“ durchsetzen, dass die Arbeiter*innen im aus dem Lohngesetz folgenden Normalmaß ausgebeutet werden und nicht noch drunter dahinvegetieren. Und dann „machen die Konjunkturschwankungen, alle zehn Jahre mindestens einmal, das Errungene im Handumdrehen wieder zunichte, und der Kampf muß von neuem durchgefochten werden. Das ist ein verhängnisvoller Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die Arbeiterklasse bleibt, was sie war […] – eine Klasse von Lohnsklaven.“

Im schlechteren Fall aber – und das ist der Normalfall im Kapitalismus in seinem heutigen Stadium – wird der Reformismus zur standortpolitischen Verteidigung der imperialistischen Nation gegen die Peripherie, was sich etwa in der ungebrochenen Bereitschaft der SPD zu neoliberalen Handelsabkommen, Austeritätsdiktaten und kriegerischer „Vaterlandsverteidigung“ ausdrückt. Im Imperialismus ist der Reformismus immer auch Verteilungskampf um die dem Rest der Welt abgerungenen Profite, die er schon deshalb nicht in Frage stellen kann, weil dann sein eigener Spielraum für „Umverteilung“ kleiner würde.

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Die Lohnschreiber der bürgerlichen Medien wussten gar nicht, wohin mit ihrem Schmerz und ihrer Trauer. „Ende einer Ära“, verkündeten sie, schrieben von „Zäsur“ und „Einschnitt“ – darunter machten sie es nicht. Denn das „Gesicht der Partei“, die „Partei-Ikone“ oder „Genossin Superstar“, wie Spiegel online dichtete, ja, die eine, die „rote Diva“, sie gab ihren Abschied. The one and only Sahra Wagenknecht, die „mit Abstand prominenteste Genossin, die die Linken in ihren Reihen haben“, wie ebenfalls Spiegel online dekretierte.

Ein angeblicher Burn-Out, nicht zuletzt wegen der ständigen Streitereien mit Parteichefin Katja Kipping und ihrem Umfeld, hatten der Co-Fraktionchefin der Linkspartei im Bundestag den Rest gegeben – so wurde es jedenfalls kolportiert. Jedenfalls hatte sie bereits im März angekündigt, nicht noch einmal für die Fraktionsspitze zu kandidieren. Als ihre Nachfolgerin wählte die Fraktion zur Überraschung vieler am 12. November die bis dahin weithin unbekannte niedersächsische Abgeordnete Amira Mohamed Ali.

Wagenknecht dürfte Wurst gewesen sein, wer ihr folgt. Sie hat vermutlich längst Größeres vor, mit den Untiefen parteiinterner Streitigkeiten und Intrigen will sie sich nicht mehr befassen. Da steht sie drüber. Gegenüber der Deutschen Presseagentur erklärte die „Ikone“, sie wolle „weiter politisch etwas bewegen“ und werde daher „natürlich auch nach wie vor meine Positionen öffentlich vertreten und dafür werben“. Auf öffentliche Auftritte oder Talkshows wolle sie nicht verzichten. Das darf als Drohung verstanden werden.

Mit den Jubelarien über Wagenknecht demonstrierte die bürgerliche Journaille vor allem wieder eines: dass sie sich immer wieder in den Potemkinschen Dörfern verläuft, die sie selbst errichtet hat. Wenn Spiegel online mit einigem Recht behauptet, sie wäre die prominenteste Linke im Lande, dann beschreibt das Portal nur ein Phänomen, das es selbst mit erzeugt hat. Allein die Mainstreammedien und TV-Talks, in denen Wagenknecht nur zu gern abhängt, haben dafür gesorgt, dass sie das „Gesicht“ der Linkspartei ist.

Der Umkehrschluss liegt auf der Hand: Wer in dieser spätkapitalistischen Gesellschaft von den Medien derart hofiert wird, der kann nicht wirklich links sein. Glaubt irgendjemand ernsthaft, Wagenknecht wäre von Maischberger & Co. noch weiter eingeladen worden, wenn sie dort etwas von sich gegeben hätten, dass die Herrschenden wirklich irritiert. Nein, sie ist als linke Quotenfrau ein Geschenk des Himmels für die TV-Talks und die bürgerliche Presse. Seht her, wie ausgewogen wir sind!

Dass Sahra Wagenknecht also alles anderes als eine Linke ist, auch wenn das viele ihrer Anhänger offenbar immer noch glauben, hat die junge Welt im übrigen in aller Ausführlichkeit und überzeugend dargelegt. Sie steht für die Wiederbelebung sozialdemokratischer Positionen, mehr muss man dazu nicht sagen.

Als wollte sie das noch mal unterstreichen, trat sie nach ihrem Abgang gleich wieder bei Maischberger auf und gab dem neoliberalen Kampfblatt Welt ein Interview. Die Frau ist so was von angekommen im System.

Titelbild: Jakob Huber/Die Linke/CC BY-NC-SA 2.0

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Deutsche Wohnen enteignen“ ist eine populäre Forderung geworden – und die Sozialdemokratie reagiert wie immer mit einem konzernfreundlichen Vorschlag der Entschärfung.

Die Deutsche Wohnen SE (DW), Berlins größter privater Vermieter, ist in den vergangenen Jahren mächtig unter Druck geraten. Die Geschäftspraxis, Filetstücke zu modernisieren und ihre Bewohner*innen gegen reichere Kund*innen auszutauschen, während man andere Gebäude völlig verwahrlosen und verfallen lässt, erzeugte Unmut unter den Mieter*innen. (mehr …)

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