Cemil Bayik: „Wir definieren Kurdistan als Gesellschaft und nicht als Staat“

11. Februar 2019

Autor*in

Karl Plumba

Cemil Bayik ist Gründungsmitglied der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und Co-Vorsitzender des Exekutivrats der Koma Civakên Kurdistan (KCK). Im zweiten Teil des Interviews spricht er über die drohende Invasion Rojavas durch die Türkei, den Stand der Verhandlungen zwischen der Demokratischen Konföderation Nord- und Ostsyriens und der syrischen Regierung und die Transformation der HPG und YJA-Star zur „Siegesguerilla“.
Teil 1 des Interviews kann hier nachgelesen werden.

Nun sind die Drohungen der türkischen Regierung gegen die kurdische Freiheitsbewegung und konkret Rojava nicht neu, werden aber aggressiver. Für wie plausibel halten Sie die Möglichkeit einer großangelegten Invasion der Türkei in Rojava?

Es gibt unterschiedliche Motive für die Drohungen der Türkei gegen Rojava. Fangen wir damit an, dass die Kurden einen Autonomiestatus in Südkurdistan haben und im Norden Kurdistans seit 40 Jahren Widerstand gegen die Besatzung leisten. Dieser Widerstand forderte einen hohen Preis, konnte aber nie zerschlagen werden. Egal wie oft der türkische Staat die Kurden massakrierte oder wie sehr er sie unterdrückte, die Kurden in Nordkurdistan konnte er nicht zum Schweigen bringen. Die Entwicklung in Rojava, in Westkurdistan, bedroht die Türkische Republik zusätzlich. Wenn das Kurdentum von Rojava auch einen Status erhält, kann die Türkei die auf Verleugnungs- und Zerstörungsmentalität basierende Politik gegen die Kurden nicht länger aufrechterhalten. Tatsächlich ist diese Mentalität und Politik nicht nur gegen Rojava, sondern auch gegen Südkurdistan gerichtet. Tayyip Erdogan hat viele Male zum Ausdruck, dass er den Status der Kurden in Südkurdistan für einen Fehler hält, den er rückgängig machen möchte. Dies ist die Grundlage seines Angriffs auf Rojava. Falls das Kurdentum in Rojava einen Status erreicht, während im Norden der Widerstand weiter besteht und der Süden unverändert bleibt, hat die in den Grenzen der Türkei vorhandene faschistische Ausbeutungsspolitik, die die Kurden ignoriert und am liebsten ausrotten möchte, keine Existenzgrundlage mehr. Darum ist Erdogan der Meinung, dass er zuerst die Entwicklungen in Rojava zerstören muss, um diese kolonialistisch-völkermörderische anti-kurdische Mentalität und Politik aufrechtzuerhalten.

Ein anderes Thema ist, dass die Beihilfe der USA zu diesen politischen Handlungen eine große Stütze für die Türkei ist. Immer wenn diese faschistische, kolonialistisch-genozidale Mentalität und Politik beginnt zu Taumeln und an der Schwelle des Zusammenbruchs steht, wird sie von den Vereinigten Staaten aufgefangen und unterstützt. Sie wird wiederbelebt und am Leben erhalten und ein Sturz wird somit verhindert. Auch das jüngste Manöver der USA hat dies gezeigt. Ähnliche Verhaltensweisen sehen wir manchmal auch in Deutschland, Frankreich und England. Wirtschaftlich gesehen hat Deutschland die Türkei entlastet. Die Merkel-Administration glaubte, wenn die Türkei stürze, würden sie mitstürzen und wandte sich einer pro-faschistischen Politik zu. Es gibt aber keinen Zusammenbruch der Türkei. Wenn dann bricht der Faschismus zusammen und das sollte niemand fürchten. Stürzt der Faschismus, wird die Türkei weiterbestehen. Niemand sollte sich mit der faschistischen Türkei verbünden. Außerdem geben die rückendeckende Politik der USA und die helfende Hand Europas, den Anlass und die Gelegenheit, dass das AKP-MHP-Regime die Kurden in diesem Maße angreift. Es weiß, dass egal wie viele Massaker oder Völkermorde es verübt, die USA und Europa hinter ihm stehen werden. Das was Saddam widerfahren ist, passiert ihm nicht. Einer der Hauptgründe, dass das AKP-MHP-Regime so aggressiv ist, ist also die unterstützende Politik der USA, Deutschlands, Frankreichs und Englands. Deren nicht eindeutige Haltung zur kurdischen Existenz und ihrer Freiheit, sowie das Nicht-Verteidigen ihres Anspruchs als Volk auf ihre demokratischen Rechte, verleitet den türkischen Staat zu Angriffen. Deshalb bedroht er auch Rojava. Es liegt nicht in der Macht der Türkei so weit zu gehen. Nur die Hilfestellungen der USA und Europas machen die Türkei zum Aggressor.

Außerdem gibt es Unterstützung aus Russland und dem Iran. Beide sind Pragmatiker und ergreifen jede erdenkliche Möglichkeit, um im Mittleren Osten im Rahmen ihrer Widersprüche zu den USA und Europa einen Vorsprung zu gewinnen. Besonders der Iran kann, beruhend auf seiner Oppositionsstellung gegen die Kurden, fast in jedem Bereich mit der Türkei kooperieren. Russland dagegen ist sehr pragmatisch und gründet seine Politik auf aktuelle Ereignisse. Russlands Position im Mittleren Osten ist, entgegen vieler Annahmen, nicht stark, sondern schwach. Aus diesem Grund kann die Türkei durch Zugeständnisse immer Kompromisse mit Russland aushandeln.

Der Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung und dessen Eskalation ist ein Schlüsselelement der Machtpolitik des türkischen Präsidenten. Wie weit, schätzen Sie, ist Recep Tayyip Erdogan gewillt zu gehen – und wie weit wird die Bevölkerung der Türkei ihn unterstützen?

Die Bevölkerung der Türkei war antifaschistisch, in der Gesellschaft gab es lange keine Völkerfeindlichkeit. Wenn man die Zeit vor 50 bis 100 Jahren studiert wird das äußerst sichtbar. Sogar wenn wir in die 1970er Jahre blicken, ist gut zu sehen, dass die Türkei in vielen Lebensbereichen eine offene, soziale Einstellung zur Demokratie hatte. Nach dem Militärputsch vom 12. März 1971, wurde in der Türkei eine spezielle Politik verfolgt. Man wollte die Mentalität der Gesellschaft ändern und Chauvinismus und Rassismus entwickeln um die Feindseligkeit zwischen den Völkern voranzutreiben.

Der türkische Nationalismus basiert darauf und die MHP vertritt ihn noch heute. Seit dem Militärputsch eskalierte er und wurde so der Gesellschaft zugeführt. Auf dem Markt, in der Bildung, im Alltag. So wurden in Form einer besonderen Kriegsmethode die Mentalität, das Denken und das Gefühl der Gesellschaft verändert. Zum Beispiel war die Region am Schwarzen Meer der offenste Bereich für die Demokratie, jetzt ist sie der rassistischste und nationalistische Raum. Ebenso die Region der Ägäis und Zentralanatoliens. In der türkischen Gesellschaft hat sich eine ernsthafte Veränderung der Mentalität durchgesetzt. Deswegen findet die rassistisch-nationalistische Rhetorik der faschistischen AKP-MHP-Macht Unterstützung von einem Teil der Gesellschaft in der Türkei, weil sie einer Gehirnwäsche unterzogen wurde. In der Tat wurden die Menschen in der Türkei mit faschistischen, chauvinistischen und rassistischen Gefühlen und Gedanken indoktriniert.

Außerdem erkauft sich die AKP die Gunst der Bevölkerung. Sie gibt den Menschen Geld, um sie für sich zu gewinnen. Zuerst haben sie die Leute hungern und verarmen lassen. Dann verteilten sie Geld, damit sie nicht umkommen und stellten sich so als Retter dar. Die Menschen fühlten Dankbarkeit. So wurde die Gesellschaft mit der Macht und dem Staat verbunden. Es entstand eine neue soziale Schicht. Auch die Stimmen von Frauen für die AKP sind erkauft, sonst würde wohl keine Frau eine Partei wählen, die sich für die Sklaverei von Frauen einsetzt. Sie gibt Kindergeld direkt an die Frauen. Die Frau, die in der Vergangenheit noch nie so eine materielle Zuwendung hatte, fühlt eine Bindung zu dieser Macht. Die AKP hat keine solche Position erlangt, indem sie die Freiheit der Frauen befürwortet oder ihnen Bildung anbietet. Sie hat ihre Stimmen schlicht gekauft. Heute hat der AKP-MHP-Faschismus eine Massenbasis, Tayyip Erdogan redet jeden Tag zehn Stunden um mit seiner rassistisch-chauvinistischen, kurdenfeindlichen Rethorik diese Massenmentalität und ihren Beistand aufrecht zu erhalten. Trotz alledem kommt er immer noch nicht über 50% der Wählerstimmen. Noch immer ist ein großer Teil der türkischen Gesellschaft antifaschistisch und setzt sich für den Völkerfrieden ein. Dies gilt vorwiegend für Frauen, Jugendliche und Arbeiter. Bei den letzten Wahlen am 24. Juni 2017 hat Erdogan die Präsidentschaft nicht gewonnen. Er nahm sie sich.

Wenn man sich auf den den Putsch vom 12. September 1980 beruft und sagt, dass seit 1980 ununterbrochen ein 40-jähriger Bürgerkrieg tobt, ist dies Realität. Wenn man weiter zurück geht, in die 1970er Jahre, kann man von einem 50-jährigem Bürgerkrieg reden. Mit Sicherheit will die Gesellschaft keinen Krieg, sie ist gegen die faschistische Mentalität. Aber der Faschismus stützt sich auf seine Basis, er baut sich auf ihr und auf der Staatsmacht auf und setzt so seine Wirksamkeit und Souveränität fort. Er verhindert die Organisation gesellschaftlicher Gegenmacht und die Entfaltung einer organisierten Opposition. Deshalb spiegelt sich die gesellschaftliche Opposition nicht in der Politik wider und kann sich nicht in eine kräftige Gesamtheit verwandeln. Insbesondere die CHP, unter der Leitung von Kemal Kılıçdaroğlu, unterstützt so die AKP-MHP-Regierung. Sie spaltet und teilt die antifaschistische Front. Es ist wie ein Spiel. Die CHP ist angeblich gegen den Faschismus, tatsächlich unterstützt sie den Faschismus in schweren Zeiten. Auf diese Weise wird die antifaschistische Demokratiefront verhindert und geschwächt und ihre Integrität verhindert.

Mittlerweile hat die Situation einen mehr als kritischen Punkt erreicht. Das gilt sowohl für türkische als auch für kurdische Volksgruppen. Der 40-50-jährige Krieg war eine sehr schwere Belastung für alle. Alle Bereiche der Gesellschaft sind von Krieg und Unterdrückung betroffen. Wir glauben, dass das AKP-MHP-Regime diese Situation nicht mehr lange aushalten kann. Es bedarf einer führenden Partei, die ein demokratisches Bewusstsein, einen politischen und sozialen Zusammenhalt gegen den Faschismus schafft. Falls das verwirklicht wird, wird die türkische Gesellschaft nicht mehr länger die Lasten dieses Krieges ertragen. Wenn die Vereinigten Staaten, Europa und Russland die AKP-MHP nicht unterstützen würden, könnte dieser Krieg nicht einen Tag länger durchgeführt werden. Jeder sollte wissen, dass die meiste wirtschaftliche Unterstützung aus Deutschland und die politisch-militärische Unterstützung aus den Vereinigten Staaten kommt. Frankreich und England bieten jedes Mal, wenn das Regime in einer Krise steckt ihre Unterstützung an und auch Russland betreibt eine ähnliche Politik.

Kommen wir zurück auf Syrien. Ein weiterer Effekt der Rückzugsankündigung der USA war, dass die Verhandlungen zwischen der Demokratischen Konföderation Nord-und Ostsyriens, der syrischen Regierung und Russland wieder intensiver wurden. Was ist deren Ziel? Geht es um ein taktisches, kurzfristiges Bündnis gegen einen gemeinsamen Feind oder hat es eine längerfristige Perspektive? Was ist Ihre Sicht auf die Zukunftsperspektive der Völker Syriens und des Nahen Ostens?

Die Kurdische Freiheitsbewegung hat einen klaren Lösungsweg, die auf dem Demokratischen Konföderalismus und der Demokratischen Autonomie basiert und vom Vorsitzenden Abdullah Öcalan entworfen wurde. Wenn wir einen allgemeinen Plan formulieren wollen, nennen wir es Demokratischer Naher Osten – Freies Kurdistan. Als Beispiel wäre Demokratische Türkei – Freies Kurdistan, Demokratisches Syrien – Freies Kurdistan. Wir definieren diese Freiheit als demokratische Autonomie, also nicht separat von der Integrität der bestehenden Staaten wie der Türkei oder Syrien. In der Tat definieren wir Kurdistan als Gesellschaft und nicht als Staat. Deshalb verlassen wir uns auf die Lösung durch die demokratische Autonomie. Sie ist das System, in dem die Gesellschaft sich frei organisiert und verwaltet, aber demokratische Vereinigungen mit anderen Gemeinschaften eingeht. Die Kurden sollten beispielsweise ihre eigenen demokratischen Verwaltungen in Syrien aufbauen, aber auch ein Teil der demokratischen Einheit Syriens sein. Dasselbe gilt für die Türkei, den Irak und den İran. Das ist die von der kurdischen Freiheitsbewegung vorgeschlagene Lösung. Auch die Demokratischen Einheiten Syriens, besser gesagt, die Autonome Selbstverwaltung Nord-und Ostsyriens akzeptiert diesen Lösungsansatz.

Sie entwickelt auf Grundlage dieses Ansatzes Beziehungen zu Syrien. Das Problem war also nicht die Frage, welches Regime in Damaskus regiert. Es war eine Suche nach einer Lösung innerhalb der syrischen Einheit. Bei den Verhandlungen mit Damaskus zielten die Kurden darauf ab, das kurdische Problem auf der Grundlage der Demokratisierung Syriens innerhalb der syrischen Einheit zu lösen. Sie hätten mit jedem Kontakt aufgenommen. Sie haben auch versucht Beziehungen zur Opposition aufzubauen, es gab auch von Zeit zu Zeit Kontakte, aber die Opposition hat Beziehungen zu Kurden aus Rojava abgelehnt. Ansonsten haben die Kurden den Kontakt mit keiner syrischen Macht vermieden. Dies ist also kein taktischer, sondern ein strategischer Ansatz. Welche Regierung es am Ende gibt, das ist eine andere Frage, aber mit dem demokratischen Syrien eine Lösung zu finden, ist eine wohlüberlegte Vorgehensweise. Natürlich soll eine Lösung auch darauf basieren, dass das kurdische Volk das Recht auf Selbstbestimmung auf der Grundlage demokratischer Autonomie hat.

Auf diesem Fundament versucht die Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens mit allen in Verbindung zu treten, sie versuchen Bündnisse zu schließen, kommen zusammen und sind bereit, miteinander zu leben. Dennoch bleibt es dabei, dass weder die Assad-Regierung noch alle anderen Kräfte, mit denen Kontakt aufgebaut wird, sich innerhalb des demokratischen Mentalitäts- und Politikansatzes befinden, der die Existenz und die Freiheiten der Kurden sichern wird. Daher bleiben diese Schritte vorerst nur taktisch und verwandeln sich nicht in ein strategisches Bündnis. Aber die Kurden suchen hier nach einem längerfristig ausgerichteten Plan. Die Tatsache, dass es nicht zur Lösung kommt, wird nicht von den Kurden verursacht, sondern von der Politik anderer Mächte.

Auch wenn man den Kurden sagt, geht und trennt euch von uns, würden sie es nicht wollen. Der Wille zur Koexistenz mit dem demokratischen Syrien ist strategisch. Jeder sollte das wissen. Natürlich ist so eine Koexistenz nur mit denen möglich, die eine demokratische Denkweise und Politik haben, also mit dem demokratischen Syrien. Mit allen anderen kann kein solches Bündnis eingegangen werden.

Aktuell treten diese Gespräche natürlich wegen der Rückzugsmeldung der USA in den Vordergrund. Sie standen aber sogar in Zeiten schwerer Gefechte auf der Agenda. In Anbetracht der jetzigen Umstände ist eine Beschleunigung der Verhandlungen verständlich. Sowohl die syrischen Kräfte als auch die Autonome Selbstverwaltung Nord-und Ostsyriens waren gezwungen neue Ansätze zu entwickeln, effektive Konzepte aufzubauen und diplomatische Verhandlungen zu beschleunigen. Es ist selbstverständlich, nach Lösungen zu suchen, die auf der eigenen aktuellen Strategie basieren. Auch während des Afrin-Krieges gab es Gespräche. Die Kurden wollten diese Beziehung auf eine strategische Ebene bringen, mit allen syrischen Kräften, die ein kooperatives Vorgehen gut heißen. Aber sie kamen nicht. Ein solcher demokratischer Wille existiert bei den anderen Mächten nicht. Nicht beim Assad-Regime und nicht bei den anderen syrischen Kräften.

Auch Russland ist in Syrien und im Gebiet um das östliche Mittelmeer ein wichtiger Akteur. Russland nimmt aktiv am Syrien-Krieg teil, steht im Widerspruch zu den USA und hat doch Beziehungen zu ihnen. Daher wird Russland in der Region die aktivste Weltmacht sein, wenn sich die US-Truppen zurückziehen. Auf dieser Grundlage stehen auch die Beziehungen zu Russland. Auch sie bestehen nicht erst, seit dem die USA ihren Rückzug angekündigt haben. Von Anfang an gab es immer wieder Beziehungen, Allianzen, Widersprüche und Konflikte auf verschiedenen Ebenen. Als die Vereinigten Staaten sagten, sie würden sich zurückziehen, beschleunigten sich die Beziehungen und Bündnisbemühungen mit den syrischen Kräften um die Demokratische Syrische Union zu schaffen. Auf der anderen Seite rückten die Beziehungen zu Russland, die auf globaler Ebene eine wirksame Macht darstellen, in den Vordergrund.

Von der russischen Seite sahen wir bisher keine sehr positiven Ansätze oder fortschrittliche Ergebnisse. Wir finden Russlands Strategie zu kurzfristig, taktisch und manipulativ. Wir wünschen uns, sie könnten etwas vorausschauender sein. In Bezug auf alle Kräfte und auf den Kampf des kurdischen Volkes um seine Existenz wäre es besser, korrekter und sorgfältiger zu sein. In der gegenwärtigen Situation erleben die Kurden ein schweres Massaker. Es ist ein Kampf um Leben und Tod. Jeden Tag fallen dutzende Märtyrer. Viele Mächte spielen hier um ihre wirtschaftlichen Interessen, sie feilschen. Das ist unmenschlich und verkehrt. Wenn eine Partei einem Völkermord ausgesetzt ist, hat es keine rechtliche, moralische oder menschliche Seite, einfache wirtschaftliche Gewinne erzielen zu wollen. Ich appelliere an alle, moralischer und menschlicher zu agieren.

Bei dieser Gelegenheit können wir diese Tatsache ausdrücken. Die Art und Weise von Russland ist: Beziehungs- und Konfliktpolitik mit den USA und einfaches Profitdenken. Wir nehmen an, dass Russland mit der Ankündigung der USA genau wie die AKP-MHP-Regierung gedacht hat und eine Gelegenheit sah, die Kurden zu kontrollieren. Falls das so ist, ist das ein riesiger Irrtum. Erstens haben die Kurden keine solchen Schwierigkeiten. Die Kurden Rojavas sind nicht allein, Rojava-Kurdistan ist nicht allein; alle Teile Kurdistans, das kurdische Volk und die kurdischen Freiheitskräfte stehen hinter ihnen. Die gesamte Menschheit und die demokratischen Kräfte stehen hinter ihnen. Die Anti-IS-Koalition läuft trotz Rückzugsmeldung der USA weiter. Deutschland, Frankreich und England haben erklärt, dass sie in der Anti-IS-Koalition weitermachen wie bisher. Als Freiheitsbewegung von Kurdistan fanden wir diese Haltung sehr sinnvoll. Auch die arabischen Länder haben ähnliche Erklärungen abgegeben, die auch sehr wertvoll sind. Wir haben eine Struktur gesehen und hoffen, dass sie kontinuierlich und nicht nur vorübergehend ist. Wir wissen nicht, was später kommt, aber diese Einstellung war uns sehr wichtig. Das Verhalten Russlands war falsch, es ist pragmatisch die Gelegenheit auszunutzen. Nord-und Ostsyrien ist nicht allein und hat schon mal einen Krieg gewonnen. Sie haben einen Willen, eine Macht in Kurdistan und in der Region. Das ist kein Ergebnis des Willens oder der Haltung der USA. Die Leute, die so denken, irren sich gewaltig. Daher wird eine Macht, die so viel Krieg geführt hat, ihren Willen auch der Politik auftragen. Wir hoffen, dass Russland mehr Respekt zeigt, den Willen des anderen sieht und ein demokratisches Verhalten an den Tag legt. Das heißt, die Strategie der demokratischen, autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens zu erkennen, ein demokratisches Syrien zu schaffen, und ihnen zur Seite zu stehen. Grundsätzlich können die Beziehungen zu Nord-Ostsyrien dann auch Ausdruck finden. Nur dann würden wir es unterstützen und sinnvoll finden. Wenn dies nicht der Fall ist, führt ein engstirniger Ansatz zu keinen Ergebnissen. Russland kann die Kurden in Rojava und die autonome Selbstverwaltung nicht einfach unter seine Kontrolle bringen. Die Freiheitsbewegung von Kurdistan misst solchen Methoden keine Bedeutung zu und hat auch die Macht, dagegen anzukämpfen.

Als letztes möchte ich Sie auf die die Neujahresansprache der Partei ansprechen, insbesondere die Neuformation der Guerilla-Einheiten als “Siegesguerilla”. Was ist konkret damit gemeint? Welche Unterschiede soll es zu der bestehenden Guerilla geben? Welche Umstruktuierung wird mit dieser Erklärung angestrebt?

Diese Themen basieren auf den Methoden des Kampfes und der damit verbundenen Organisierung. Das ist der physische Boden, der Zustand des Bewusstseins und der Organisation der am Kampf beteiligten Dynamiken, das technische Niveau. Die PKK hat Erfahrung von fast 40 Jahren im Guerillakrieg. Sie profitierte von den Erfahrungen anderer Völker, von dem durch den Iran-Irak-Krieg geschaffenen militärischen Boden und nutzte die Chancen und Möglichkeiten davon. Sie lehnte sich an die geographischen und kämpferischen Eigenschaften Kurdistans und der kurdischen Gesellschaft an. Die Guerilla hat ihre Taktiken mit Rücksicht auf die traditionelle Anbindung der Türkei an die Nato entwickelt.

Sie führte Beziehungen mit Guerilla-Bewegungen in anderen Teilen der Welt; es gab Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede. Zum Beispiel hatte die PKK Guerilla-Training in Palästina und Libanon. Sie lernte von der palästinensischen Guerilla. Als sie jedoch am 15. August 1984 nach Kurdistan kam und ihren Kampf begann, unterschieden sich ihr Leben, ihr Stil, ihre Organisierung und ihre tägliche Arbeit sehr von der der palästinensischen Guerilla. Entsprechend den Bedingungen Kurdistans ergab sich somit eine neue Formation.

Auf diesem Fundament führte sie in den 80er und 90er Jahren einen bedeutenden Krieg. Tatsächlich besiegte sie die türkische Armee viele Male und diese hatte keine Wirkung mehr. Wenn heute die türkische Regierung und die türkische Politik von der Vormundschaft des Militärs befreit sind, ist das eine Folge des Sieges der Guerilla über die Türkische Armee. Wer hätte die Armee von Staatsangelegenheiten zurückdrängen können, wenn sie nicht von der Guerilla besiegt worden wäre. Sie sagten, sie wären die Staatsgründer. Nun ist die Armee im Staatsapparat ziemlich weit zurückgedrängt. Die AKP behauptet, das sei ihr Verdienst, was nicht stimmt. Es gab keinen solchen Kampf der AKP gegen die Armee. Es war die kurdische Guerilla, die diese Macht besiegte.

Aber die Bedingungen vor 40 Jahren, wo Vorbereitungen liefen oder vor 30-35 Jahren wo es begann umgesetzt zu werden, unterscheiden sich grundsätzlich von den heutigen Bedingungen. Die Welt hat sich verändert, die türkische Politik ist anders geworden. Und da sind auch noch die großen Entwicklungen in Kurdistan. In dieser Phase bekam Südkurdistan einen Autonomiestatus und die Revolution in Rojava Kurdistan begann. Im Norden entwickelten sich demokratische lokale Regierungen, die der türkische Staat versucht durch faschistische Angriffe zu zerstören. Es hat eine nationale Wiederauferstehungsrevolution stattgefunden. Die Menschen sind bewusster, organisierter. Es war ein langer Weg. Während dieser Zeit bildeten und entwickelten sich die Kämpfenden. Genauso haben sich auch die faschistischen Kolonialmächte verändert und weiter entwickelt. Zum Beispiel hat die Staatsmacht mit der Erklärung des Ausnahmezustands 1987 einen grundlegenden Wandel in der Türkei erlebt. In den Jahren 1991-92 wurde sie mit Doğan Güreşs‘ Intervention einer zweiten Änderung unterzogen. 1997-98 putschte das Militär erneut. In den Jahren 2007-2008 unternahm das US-AKP-Bündnis eine Reihe von Versuchen, die unterlegene Armee von Zap in der Politik zu untergraben. Der Staat hat sich verändert. Das Armeesystem wurde modifiziert. Es gab weltweit einen technologischen Sprung, an dem sich auch die türkische Armee bediente.Sie passte sich den Veränderungen an.

Jetzt ist sie zu einer militärischen Kraft geworden, die über intelligente und technische Mittel der Information und Aufklärung verfügt. Der Krieg wird auf dieser Ebene, das heißt komplett technologisch weitergeführt. All dies erfordert, dass sich die Guerilla auch auf dieser Grundlage erneuert. Die Methoden und das Organisationssystem der Guerilla, die in den Achtzigern und Neunzigern aufgebaut wurden, müssen an die heutige Zeit angepasst werden. Entsprechend dieser Bedingungen muss sich die Guerilla erneuern. Das ist damit gemeint. Die Guerilla kann sich ändern, sich selbst erneuern und sich an neue Bedingungen anpassen. Auch unter diesen Umständen kann die Guerilla existieren, kämpfen und ihren Freiheitskampf führen um ihr Dasein zu sichern. Die Guerilla kann die Avantgardekraft eines solchen Existenz- und Freiheitskampfes sein und eine wichtige Rolle spielen. Wenn sie sich dermaßen erneuert und technisch aufrüstet, kann sie jede Armee und jeden Staat, der sich auf seine militärische Macht stützt, mitsamt seiner ausbeuterischen, völkermörderischen Mentalität und Politik erfolgreich besiegen. Das ist mit dem Wort“ Siegesguerilla“ gemeint. Dieses Ergebnis ist erwünscht und auch machbar.

Es ist wichtig, wesentliche Änderungen vorzunehmen. Das wird intern diskutiert. Es geht um die Zielsetzung, die Art und Weise des Krieges. Was sind die notwendigen Veränderungen in der Organisation, in der Bewegung und im Lebensstil der Guerilla? Welche treibende Kraft brauchen wir, um gegen die faschistische Völkermordmentalität und Politik der gegenwärtigen Bedingungen zu kämpfen? Was ist zu tun? Wie soll man sich organisieren, welche Kampfmethoden einsetzen, und mit welchen Instrumenten müssen wir dafür ausgestattet sein? Das ist der Diskurs. Wir forschen, diskutieren und tauschen uns aus. Wir wissen, dass es notwendig ist, radikale Änderungen diesbezüglich vorzunehmen. Es gibt in dieser Beziehung schon seit einiger Zeit Fortschritte, die auch Veränderungen mit sich brachten. Sie sind aber ziemlich schwach geblieben. Nun stellt sich heraus, dass die Änderungen nachhaltig sein müssen. Die Guerilla ist sich dessen bewusst und hat den Willen, eine derart radikale Veränderung vorzunehmen. Sie ist kreativ und verfügt über ein Bewusstsein, welches auch in der Lage ist konservative und engstirnige Haltungen zu überwinden. Auch diese Umstellung werden sie erfolgreich meistern und ihre signifikante Rolle im Freiheits- und Existenzkampf der Kurden auch in der Zukunft wahrnehmen.

#Interview: Karl Plumba
#Übersetzung aus dem Türkischen: Mercan Karadag

Eine gekürzte Fassung dieses Interviews ist in der aktuellen Wochenendbeilage der jungen Welt zu lesen.

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