Bei Walter Benjamin heißt es: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ‚Ausnahmezustand‘, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern.“ Die Geschichte des Todes von Oury Jalloh und der Kampf für seine Aufklärung sind symbolisch für diesen Ausnahmezustand.
Oury Jalloh steht für den Kampf gegen Polizeigewalt und Rassismus in der BRD. Am 7. Januar 2019 jährte sich sein Todestag zum 14. Mal. Die Aufklärung auf offizieller Ebene ist kein Stück weiter gekommen. Stattdessen wurde das Verfahren trotz der Untersuchung, die die Umstände seines Todes bekannt machte, eingestellt und nicht wieder neu aufgenommen. Es geht längst nicht mehr darum, die Wahrheit herauszufinden. Es geht darum, sie anzuerkennen. Oury Jalloh wurde vom deutschen Staat ermordet, der seitdem alles dafür tut, seine Spuren zu verwischen und die Verantwortlichen zu schützen.
Zuletzt ereignete sich ein Fall, der erschreckende Parallelen zur Ermordung Oury Jallohs aufweist: Der syrische Asylsuchende Amad A., der sich aufgrund einer Verwechslung monatelang zu Unrecht in Polizeigewahrsam befand, wurde bei einem Brand in seiner Zelle in der JVA Kleve Mitte September so schwer verletzt, dass er kurz darauf starb. Die Ursache des Brandes ist noch nicht geklärt, aber für die Justiz scheint sie wie bei Oury Jalloh bereits festzustehen: dass er das Feuer selbst gelegt haben muss. Wie im Fall Oury Jallohs wird die offizielle Version der Geschehnisse von Expert*innenseite allerdings bezweifelt.
Währenddessen häufen sich Berichte von rechten Netzwerken bei Bundeswehr und Polizei. Rechte planen und verüben mit behördlicher Hilfe, mit deren Wissen und Zustimmung terroristische Anschläge, bürgerliche Medien übernehmen in ihrer Darstellung immer wieder die Perspektive der Rechten. Der Täter der faschistischen Angriffe in Essen und Bottrop, der mehrere Male mit einem Auto in Personengruppen fuhr, die er als nicht-deutsch wahrnahm, wollte „Anschlägen durch syrische oder afghanische Flüchtlinge zuvorkommen“.
Diese Art der Rechtfertigung rassistischer Gewalt hat ein historisches Vorbild in den Lynchmorden im Süden der USA. Schwarze Menschen wurden brutal ermordet. Als Rechtfertigung hieß es, sie hätten weiße Frauen vergewaltigt, belästigt oder gar nur angesehen. Schon die Unterstellung einer Absicht reichte also für ein Todesurteil. Denn nur durch Gewalt könne man eine Vergewaltigung verhindern, argumentierten und argumentieren Rassist*innen, zum Beispiel vom Ku Klux Klan.
Die bürgerliche Medienlandschaft hat ihren Anteil daran, dass auch heute in der BRD als fremd markierte Menschen – meistens Männer aus afrikanischen Ländern oder den Ländern Westasiens – als Gefahr für weiße, deutsche Frauen konstruiert werden. Doch damit nicht genug: Ein Großteil der bürgerlichen Medien übernimmt den Begriff der Fremdenfeindlichkeit als Motiv für rechte Gewalttaten. Dieser Begriff suggeriert, dass die Gewalt eine Reaktion auf die Anwesenheit von vorgeblich „Fremden“ sei und macht damit diese letzten Endes dafür verantwortlich: Wenn sie nicht hier wären, würde alles friedlich bleiben. Das Leid wird so verharmlost und bagatellisiert.
Es geht jedoch um rassistische Gewalt in einer Atmosphäre, in der Geflüchtet-Sein oder Nicht-Weiß-Sein schon ausreicht, um sich einem Generalverdacht ausgesetzt zu sehen. Die Medien haben mit ihren Berichten und vermeintlich investigativen Reportagen über angebliche arabische Mafiaclans und afrikanische Dealer, illegale Migration und Asylbetrug, gestützt auf Pressemitteilungen und Statistiken der Polizei, dazu beigetragen, ein Bild von Menschen zu konstruieren, deren Schicksal keine Anteilnahme erwarten kann.
Ein Genosse bemerkt dazu auf Klasse gegen Klasse: „Heute sind es gewalttätige Betrunkene, die auf [die] Zielscheibe geraten – Jugendliche, die kaum jemand verteidigen möchte. Morgen sind es größere Teile unserer Klasse, die als Anführer*innen von Streiks und Protesten als gewalttätig klassifiziert und abgeschoben werden können. Während die Migrant*innen nie eine vollständige Repräsentation in der deutschen Gesellschaft bekommen haben, rüstet der Staat weiter gegen sie. Es ist das Klima, in dem neue faschistische Täter*innen heranwachsen.“
Christy Schwundek, Laye Condé, Achidi John, Yaya Jabbi sind nur einige von vielen, die dem Rassismus der deutschen Polizei zum Opfer gefallen sind. Die Schuldigen haben in keinem Fall Konsequenzen zu befürchten, denn ihre Opfer sind zum einen schwarz und zum anderen Angehörige der untersten Klasse dieser Gesellschaft. Wie einem Newsletter zum Revisionsverfahren im Fall Oury Jalloh am Landesgericht Sachsen-Anhalt zu entnehmen ist, „wurden alle drei genannten [Verantwortlichen für die Verschleppung des Prozesses] noch unter Innenminister Hövelmann (SPD) befördert. Der ehemalige Staatsanwalt zum Oberstaatsanwalt, der ehemalige Landeskriminaldirektor zum Landespolizeichef und Leiter der Abteilung 2 Öffentliche Ordnung und Sicherheit beim Innenministerium und die ehemalige Polizeipräsidentin der Polizeidirektion Ost (Dessau-Rosslau) zur Stellvertreterin des Landespolizeidirektors und Leiterin des Referats 21 Recht der Gefahrenabwehr (am 1. September 2008).“
Die Beförderung der Verantwortlichen ist ein weiterer Schlag ins Gesicht für alle, die sich für die Aufklärung von Fällen von Polizeigewalt einsetzen. Gleiches in dem Fall des Polizisten, der im Rahmen des Prozesses um den Tod von Jalloh – allerdings nicht wegen Mordes, sondern wegen fahrlässiger Tötung – verurteilt wurde. Er konnte sich darüber freuen, dass die reaktionäre „Gewerkschaft“ der Polizei (GdP) Gerichtskosten in Höhe von 430.000 Euro und Anwaltskosten in Höhe von 155.000 Euro übernahm. Währenddessen mussten alle Aktivitäten zur Aufklärung des Mordes an Oury Jalloh natürlich aus eigener Tasche bezahlt werden, ganz zu schweigen von allen durch die Repression gegenüber der Initiative entstandenen Kosten. Olaf Scholz, der als Innensenator in Hamburg für den Einsatz der Brechmittel-Folter verantwortlich war, mittels derer Achidi John im Dezember 2001 im Hamburger Institut für Rechtsmedizin ermordet wurde, wurde wie die Hamburger Rechtsmedizin ebenfalls nie zur Rechenschaft gezogen. Stattdessen konnte er im Juli 2017 während der Proteste gegen den G-20-Gipfel noch einmal die ganze Stadt mit Polizeiterror überziehen.
Der in Trinidad geborene sozialistische Theoretiker und Schriftsteller C. L. R. James schrieb sinngemäß, Ziel des Rassismus sei es, dass die Schwarzen auf ihren Platz verwiesen würden. Als Lohnabhängige seien sie der Gnade ihrer Bosse ausgeliefert. Die rassistische Gewalt diene dazu, den Widerstand gegen miserable Lebensbedingungen auszuschalten, dass jede noch so schlechte Bedingung akzeptiert würde.
Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, welchen Klassencharakter die rassistische Normalität in sich trägt. Jeder dieser einzelnen Fälle, die sich seit Jahren häufen und uns jedes Mal lähmen, trägt die Handschrift des deutschen Imperialismus. Von der systematischen Unterordnung der Menschen in postkolonialen Staaten unter deutsche Wirtschaftsinteressen, der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, die sie zur Flucht zwingt bis zu ihrer Sortierung in Lager, in isolierte Lebensverhältnisse, in denen sie rassistischen Angriffen ausgesetzt sind.
Mit dem neuen Einwanderungsgesetz soll dabei noch mehr zwischen „nützlichen“ Asylsuchenden – also denen, die für die deutsche Wirtschaft verwertbar sind – und den anderen unterschieden werden, die dann schneller abgeschoben werden sollen. Es ist symptomatisch, dass die Polizeimorde und die rechte Gewalt nicht aufgeklärt werden; von staatlicher Seite dagegen wird denen, die sich für die Aufklärung einsetzen, in den Weg gelegt, was nur geht. Die Maßnahmen reichen von Kriminalisierung bis zur Abschiebung von derer, die Widerstand leisten.
Wie die Angehörigen der Opfer des NSU gerieten sie ins Visier der Polizei, weil sie sich für die Aufklärung einsetzten. Und wie die Asylsuchenden, die am Oranienplatz in Kreuzberg gegen die deutsche Migrationspolitik und das entmenschlichende Lagersystem protestierten, wurden viele von ihnen abgeschoben. Was die rassistischen Polizeimorde und der NSU-Komplex gemeinsam haben ist nicht, dass der Staat einfach nur auf dem rechten Auge blind wäre. Nein, seine Beamten sind oft genug auch mit dem rechten Arm dabei, marschieren mit und versorgen gewaltbereite Rechte mit Informationen und praktischer Unterstützung.
Gerade weil die Polizei aufgrund ihrer Aufgabe, der Verteidigung des Eigentums und der Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung zum einen Rechte anzieht und die Basis für Rechte Organisierung bietet, muss die Perspektive, Gerechtigkeit nicht nur für Oury Jalloh, sondern für alle Ermordeten zu erreichen, die kapitalistische Ökonomie, die Rassismus hervorbringt und genau so wie die Polizei auch die Gewalt notwendig macht, in den Fokus nehmen.
Im Angesicht der in den verschiedenen Bundesländern geplanten und verabschiedeten Polizeigesetze ist es umso notwendiger, breiten Widerstand aufzubauen. Vom Einsatz mobiler Polizeiwachen und Überwachungswagen bis zu der Ausweitung von Kontrollen in Bahnen und Bahnhöfen – je mehr der bewaffnete Arm des Staates um sich greift, desto mehr wird die Bewegungsfreiheit von illegalisierten und kriminalisierten Menschen eingeschränkt. Oft genug geschieht dies in Vierteln, die aufgewertet werden sollen, wo Arme, Obdachlose, Asylsuchende und migrantische Jugendliche nicht in das Bild einer modernen, weltoffenen und liberalen Stadt passen. Die Erfahrungen mit der staatlichen Repression sind alltäglich, doch sie konzentrieren sich in den migrantisch geprägten Vierteln und Kiezen und konstruierten Gefahrenzonen wie dem Kotbusser Tor und dem Görlitzer Park.
Die Antwort auf diese rassistische Normalität, die für uns einen alltäglichen Ausnahmezustand darstellt, in dem die physische Gewalt nur das letzte Mittel in einem schier unendlichen Arsenal ist, das uns täglich den Atem raubt, kann nur im kollektiven Widerstand liegen. Wenn wir uns die Kontrolle über unsere Leben zurückholen, in den Schulen, Betrieben, Universitäten und auf den Straßen und öffentlichen Plätzen, führen wir den Ausnahmezustand des Kapitals herbei. So lange aber für uns der Ausnahmezustand Normalität ist, wird es keinen Frieden geben.
[sg_popup id=“6″ event=“onload“][/sg_popup]
# Kofi Shakur
# Titelbild: Po Ming Cheung Demonstration: Oury Jalloh – Das war Mord! Touch One – Touch all! – 07.01.2018 – Dessau-Roßlau