Der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdogan droht mit einem Einmarsch in Syriens Kurdengebieten. Dort bereitet man sich auf einen großen Krieg vor. Interview mit Mordem Welat
Mordem Welat ist Mitglied der Tevgera Ciwanên Şoreşger ên Welatparêz ên Sûriyêye (Bewegung der revolutionären und patriotischen Jugend Syriens, TCŞWS). Die TCŞWS ist der größte Dachverband von Jugendgruppen in der Demokratischen Konföderation Nordsyriens. LCM-Reporter Bernd Machielski traf ihn in der nordsyrischen Kleinstadt Tirbe Spi, an der syrisch-türkischen Grenze.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat erneut angekündigt, den Angriffskrieg gegen Rojava und Nordsyrien auszuweiten. Laut Eigenangaben der dschihadistischen Freien Syrischen Armee – früher FSA, jetzt NSA genannt – stehen 15.000 Kämpfer bereit um gegen die Revolution in Rojava zu kämpfen. Damit erreicht der Krieg nach den Angriffen und der Besetzung und faktischen Annektion des nordsyrischen Kantons Afrin durch die Türkei ein neues Niveau. Wie ist die aktuelle Lage?
Diese Woche ließ der türkische Präsident Erdogan auf einer Konferenz verlauten, dass er in einigen Tagen eine weitere Operation gegen sogenannte „separatistische Terroristen“ durchführen will. Am Donnerstag, den 13. Dezember, griffen dann am späten Abend türkische Kampfflugzeuge das Flüchtlingslager Maxmur in Südkurdistan und die Stadt Sinjar im Sengalgebirge an. Die Verwaltung Rojavas hat inzwischen die Mobilmachung eingeleitet. Unsere Kräfte bereiten sich auf alle Eventualitäten vor. Wir nehmen solche Drohungen natürlich ernst.
In welchem politischen Kontext finden diese Entwicklungen gerade statt?
Wichtig ist, die aktuelle Lage gut zu analysieren und zu verstehen. Weshalb spricht Erdogan genau jetzt wieder von einem Krieg? Wieso will er genau jetzt Rojava erneut angreifen? Schauen wir uns die aktuelle Lage in der Türkei an, können wir sagen, sie befindet sich in einer tiefen ökonomischen und politischen Krise. Wie ist aber diese Krise entstanden? 40 Jahre lang führt die Türkei inzwischen einen Krieg gegen die kurdische Freiheitsbewegung, gegen die PKK und die HPG/YJA-Star-Guerilla. Wenn wir den Stand der türkischen Lira von 2012 mit heute vergleichen, können wir einen immer tieferen Fall erkennen. Außerdem stehen Wahlen an und Erdogan braucht ein entsprechendes Wahlkampfthema. Der Kampf gegen den „Terror“, beziehungsweise eigentlich eher der gegen die Kurden, ist da gut geeignet.
Wichtig ist auch, dass wir die Bedeutung des Widerstands der Kurden für die aktuelle Lage verstehen. Daesh (der Islamische Staat, d.Red.) wurde in Kobanê durch unseren Widerstand geschlagen. Und in Bakûr (kurdische Gebiete auf dem Territorium der Türkei, d.Red) wurde 2016 im Rahmen der Ausrufung der demokratischen Autonomie der türkische Staat zunächst vertrieben, danach folgte der sogenannte Städtekrieg. Mit dem Krieg in Afrin konnte sich das Erdogan-Regime gerade noch einmal durch eine Koalition mit der ebenfalls faschistischen MHP retten. Der Widerstand der Kurden bringt Erdogan in Bedrängnis.
Wenn der Krieg ein Grund für die aktuelle Krise in der Türkei ist, warum forciert ihn Erdogan dann?
Wenn wir uns den türkischen Staat heute anschauen, können wir ihn historisch, aber auch durch die Person Erdogan analysieren. Er befindet sich in einer lang andauernden Krise. Diese entstand durch den Kampf der kurdischen Freiheitsbewegung. Der türkische Staat ist sich bewusst, dass wenn es so weiter geht wie bisher, er untergehen wird. Auch ohne einen großen Krieg zu beginnen. Was versucht er also? Er beginnt einen neuen Krieg, einen Krieg der höchsten Stufe. Ihm bleibt dabei nur noch die Chance, in diesem Krieg zu gewinnen, als Sieger hervorzugehen. Der türkische Staat ist quasi gezwungen, in den Krieg zu ziehen.
Zudem sollten wir uns anschauen, wann die Eskalationen an der Grenze begannen. Sie begannen nach dem letzten Syrien-Gipfel von Astana. Genau einen Tag nach diesem Gipfel fingen die türkischen Attacken auf unsere Grenzen an. Das heißt, wir können davon ausgehen, dass auf dem Gipfel die anderen anwesenden Staaten – Russland, Deutschland und Frankreich – zugestimmt haben.
Dieser Gipfel macht aber noch eine weitere Frage auf, mit der sich viele bisher nicht auseinandergesetzt haben. Erdogan spricht in seiner Propaganda häufig vom Jahr 2023. Warum tut er das? Im Jahr 2023 verliert der Vertrag von Lausanne, auf dem basierend die Grenzen in gesamt Kurdistan gezogen wurden, seine hundertjährige Gültigkeit. Nach seinem Auslaufen, so sagt es der Vertrag, müssen die Grenzen neu gezogen werden. Das heißt, diejenigen Mächte und Staaten, die am Ende sich den jeweiligen Boden aneignen und verteidigen, werden ihn auch behalten. Und genau deshalb versucht Erdogan seit mehren Jahren, vor allem durch psychologische Kriegsführung, in den Köpfen der türkischen Bevölkerung die Grenzen des osmanischen Reichs wieder aufleben zu lassen. Idlib, Jarablus, Rojava – All das sind Gebiete des ehemaligen osmanischen Reiches. Und Idlib und Jarablus sind bereits faktisch annektiert. Aber mit Rojava hat das bisher nicht geklappt. Wir haben Daesh, der von der Türkei aktiv unterstützt, ausgebildet und finanziert wurde, nahezu vernichtet. Auf diesen Partner kann sich die Türkei nicht mehr stützen. Erdogan versucht aber jetzt auf anderen Wegen seine Ziele zu erreichen.
Was ist dein Aufruf an die Jugend und revolutionären Kräfte in Europa? Was ist ihre Aufgabe und wie sollte sie sich im Falle des kommenden Krieges verhalten?
Das wichtigste zuallererst ist die internationale Solidarität praktisch werden zu lassen. Tag und Nacht auf den Straßen zu sein. Radikale Aktionen zu machen, in der gesamten Bandbreite.
Was meinst du mit radikalen Aktionen?
Radikal ist eine Aktion nicht allein, wenn man Molotow-Cocktails auf den Feind wirft. Es kommt auf die Konsequenz an. Man sollte Mediengebäude besetzen – und dann nicht abziehen, bis konkrete Forderungen erfüllt sind. Nicht zu sagen: Lass uns zwei Stunden demonstrieren und dann geben wir unsere Forderungen auf. Nein, bis unsere Forderungen nicht erfüllt sind, bis du nicht live im Fernsehen gezeigt wirst mit deinen Forderungen, wirst du dort nicht herausgehen. Bis deine Bedingungen erfüllt sind. Auch wenn du dabei festgenommen wirst, das sollte keine Rolle spielen. Heute sterben in Kurdistan und im mittleren Osten ganze Familien durch deutsche Panzer und andere deutsche Waffen.
Die europäische Jugend muss ihre eigenen Staaten dazu zwingen, gegen die Türkei vorzugehen. Erdogan muss zudem vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Für all das, für was er in Afrin, in Amed, Cizre und anderen Städten gegen die kurdische Bevölkerung und andere Minderheiten verbrochen hat. Für diese Kriegsverbrechen müssen Erdogan und die Türkei bestraft werden.
Fabriken in Deutschland, die die für Erdogans Krieg notwendigen Waffen herstellen, müssen gestoppt werden. Wenn der deutsche Staat nicht die Waffenexporte an die Türkei stoppt und die bisher verkauften zurückholt, dann muss die Jugend Deutschland in einen Zustand versetzen, dass dort keine Waffen mehr produziert werden. Das ist ihre Aufgabe. In Aktion sein. Die Angst vor dem Gefängnis zu verlieren, denn die Geschichte wird uns frei sprechen. Die Jugend sollte nicht vor dem Staat und der Regierung Angst haben. Der Staat und die Regierung sollte Angst vor der Jugend und dem Volk haben.
Die Jugend sollte Deutschland und die anderen europäischen Staaten und NATO-Partner dafür bestrafen, dass sie sich aktiv oder passiv an diesen Kriegsverbrechen der Türkei beteiligen. Wenn ein Staat gegenüber dieser Praxis der Türkei schweigt, können wir es nicht anders verstehen als Zustimmung. Und damit machen sie sich ebenfalls zu Kriegsverbrechern.
Für das kurdische Volk wird der Krieg gegen Rojava wahrscheinlich der größte Krieg, der uns je aufgezwungen wurde. Einen Krieg in diesem Ausmaß hat wahrscheinlich noch nie in unserer Geschichte stattgefunden. Die Rolle der imperialistischen Staaten ist auch klar. Von ihnen können und werden wir keine Hilfe erwarten. Von wem wir Hilfe und Solidarität erwarten, sind nicht die Staaten, sondern die Völker dieser Welt! [sg_popup id=“4″ event=“onload“][/sg_popup]