Eine Reise beginnt: Wir sind in der Nordsyrischen Föderation angekommen.
Das erste, was wir von Rojava sehen, sind Sterne. Es ist mitten in der Nacht, wir haben die Grenze überschritten, der Himmel ist klar. Im Morgengrauen fahren wir durch kleine Dörfer, deren Namen wir nicht kennen. Hirten treiben ihre Herden auf die vom Sommerregen grünen Wiesen, wir hören linken Hip-Hop aus Deutschland, während uns einige Internationalist*innen in unser neues Zuhause bringen. Es ist ein komisches Gefühl. Wir kennen noch kaum etwas von diesem Land, über das wir so viel gelesen und gehört haben. Und doch fühlen wir uns, als wären wir nach langer Zeit zuhause angekommen. Eine nie gefühlte Ruhe stellt sich ein. Die Menschen, die wir treffen, kennen wir seit wenigen Stunden, doch wir nennen sie Freund*innen und es fühlt sich richtig an. Wir sind zum ersten Mal in unserem Leben in einem Land, das unser aller Land ist. Was wir alle, die wir hier sind, daraus machen, das wird es am Ende sein. Scheitern wir an uns selbst, an unseren Aufgaben, scheitert alles. Bemühen wir uns, wird auch dieses Land aufblühen.
Bevor ich losgefahren bin, hatte ich Angst. Ich habe viele Tage und Nächte lang überlegt, ob ich wirklich in eine Gegend fahren muss, in der das Sterben und Töten so sehr Normalität sind. Ein Monat nach meinem Aufbruch aus Deutschland ist von dieser Furcht nichts übrig. “Ich glaube, es gibt andere Ängste, die wesentlicher sind als die vor dem Sterben”, hatte uns vor einigen Tagen noch die internationalistische Kämpfer*in Ruken erklärt. “Die Angst, alleine zu sein, alleine dazustehen. Oder die Angst, dass das, was du tust, vergeblich ist. Ich glaube, solche Ängste sind viel wesentlicher. Und diese Ängste sind in Europa viel präsenter.” Vor einigen Tagen ahnte ich, was sie meint. Nun kann ich es auch fühlen.
Die Zurichtungen, die wir in der kapitalistischen Moderne erfahren, machen uns in Deutschland ein Leben, in dem wir uns wohlfühlen und in dem wir andere anständig behandeln, nahezu unmöglich. Ökonomisch, kulturell, psychologisch, ideologisch schreibt sich diese Gesellschaft in unsere Körper und Köpfe ein. Die kapitalistische Gesellschaft strukturtiert unseren Alltag, sie formt unsere Bedürfnisse, Lebensweise, sogar unsere Gefühlswelt.
In den meisten linken Gruppen in Deutschland wird diese Dimension der Bindung an die kapitalistische Gesellschaft kaum problematisiert. Es mag keine eigens artikulierte Theorie sein, aber zumindest implizit denkt man so: Solange es Kapitalismus gibt, sind wir eben so, wie wir sind. Nach der Revolution fangen wir dann an, den ’neuen Menschen‘ zu erschaffen. Politik wird dann eine Art Hobby, eine Einstellung, die sich nicht groß auf den Lebensalltag auswirkt. Man pilgert zweimal die Woche zu Plena, geht dann und wann auf eine Demonstration und schreibt gelegentlich Flugblätter oder Erklärungen.
Eine der für mich beeindruckendsten Leistungen der kurdischen Bewegung, ist es, genau auf diesem Feld die Dialektik von persönlicher, kollektiver und gesamtgesellschaftlicher Veränderung begriffen und praktisch umgesetzt zu haben. Ein Teil dieses Kampfes findet in einem selbst statt. Die Bindungen an das kapitalistische System und den Staat sollen überwunden werden, die schlechten Eigenschaften, die wir aus ihm ererbt haben, abgelegt werden. Die zweite Ebene dreht sich um die Lebensweise im eigenen Kollektiv, mit den Genoss*innen, dem eigenen Umfeld, der Bevölkerung. Die dritte Ebene zielt auf die gesamtgesellschaftliche, in letzter Instanz weltweite Revolution ab.
Die drei Sphären sind nicht getrennt und zwischen ihnen gibt es keine mechanische, zeitliche Abfolge. Sie bedingen einander. Du kannst deine persönlichen Macken nicht überwinden ohne das Kollektiv und du kannst im Kollektiv nicht leben, wenn du deine Macken nicht überwindest. Wenn das Kollektiv keine Vorbildfunktion hat und durch seine Lebensweise und Tätigkeit praktisch überzeugt, wird sich die Bevölkerung nicht für die politischen Ideen gewinnen lassen. Umgekehrt wird ohne die Unterstützung breiter Bevölkerungsschichten das Kollektiv seine Projekte nicht verwirklichen können.
Wenn die Praxis ein Kriterium für die Richtigkeit einer politischen Strategie ist, dann kann die kurdische Bewegung mit Recht sagen, dass sich diese ihre Herangehensweise bewährt hat. Rojava ist noch ein zarter Keim, aber es ist ein befreites Gebiet, das sich entwickelt, in dem die Menschen sich bilden, gemeinsam lernen und ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen.
“Abdullah Öcalan hat Teile der türkischen Linken immer dafür kritisiert, dass sie ein völlig utopisches und deterministisches Verständnis von Sozialismus haben”, erklärt Heval Agit, einer der ersten Freunde, die wir in Rojava treffen. “Nimm zum Beispiel die Parole ’sosyalism gelecek‘ – ‚Der Sozialismus wird kommen‘. Wie? Von selber? Es ist diese alte Vorstellung, dass wir nur hier sitzen müssen und irgendwann kommt er ohnehin, der Sozialismus, weil es ja die Abfolge Feudalismus-Kapitalismus-Sozialismus-Kommunismus gibt. Und weil das ja irgendsoeine geschichtliche Gesetzmäßigkeit ist, hängt es ja gar nicht so sehr von uns ab.” Agit hat früher in der Türkei studiert. Er hätte Lehrer werden können, Angestellter, Professor. Er ging in die Berge und wurde Guerilla. “Für mich wirken diese Leute, die immer nur über Sozialismus reden, ihn überaus gut verstehen, aber nie etwas für ihn tun, irgendwie komisch”, sagt er. “Sie sitzen zusammen, trinken Raki und schmieden in der Kneipe große Pläne für die Revolution. Am nächsten Tag wachen sie auf und stellen fest, es gibt immer noch keine Revolution. Dann sind sie enttäuscht.”
Was auch immer man an der kurdischen Bewegung kritisieren mag, eines wird ihr jede und jeder Linke zugestehen müssen: Sie hat den “subjektiven Faktor” in der revolutionären Politik wiederentdeckt. Sie hat einerseits unsere Gefühle unseren Alltag, unsere Art zu Leben zurück in den politischen Bereich gerückt. Und sie hat andererseits klar bewiesen, dass es ohne unsere Entschlossenheit, unseren Mut und unseren Willen, heute und jetzt etwas aufzubauen auch morgen nichts geben wird. “Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird”, schrieb Karl Marx. “Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.” Besser kann man nicht beschreiben, was wir hier erleben.
# Peter Schaber
[sg_popup id=“5″ event=“onload“][/sg_popup]
An dieser Stelle werden nun in unregelmäßiger Reihenfolge Berichte aus unserem Alltag hier erscheinen. Viel Spaß beim Lesen!