Das leere Versprechen der ‚Integration’

4. April 2017

Im Vorfeld der Selber machen Konferenz zu Basisorganisierung, Gegenmacht und Autonomie analysiert das Internationalistische Zentrum Dresden die neuen Arbeitsgelegenheiten Asyl (80 Cent Jobs für Geflüchtete) und kommt zu dem Schluss, dass es eine gemeinsame Organisierung von Geflüchteten und Erwerbslosen geben muss um der gesellschaftlichen Ausgrenzung durch den Arbeitsfetisch zu entgehen.

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Prior to the conference „Do it yourself – Concepts of grassroots organization, community organizing and autonomy“, the Internationalist Centre Dresden analyzises the new „job opportunities for asylum“ (80 cents jobs for refugees) and comes to the conclusion, that there is a necessity of a mutual organization of refugees and unemployed, to escape the exclusion of society resulted by the work fetishism.

Click here for the English Version (PDF-file) http://iz-dresden.org/wp-content/uploads/sites/32/2017/03/empty-promise-of-integration_EN.pdf

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باللغة العربية

,في طور الإعداد للاجتماع الذاتي التنظبم حول التتظيم القاعدي, السلطةالمضادة و الإدارة ذانية التنظيم يقوم المركز المابين قومي دريسدن بتحليل فرص عمل اللجوءالجديدة (80 سنت فقط للاجئين) وكنتيحة لهذا التحليل, يجب أن يكون

هنالك تنظيم مشترك بين اللاحئين و العاطلين عن العمل من أجل تجنب الإقصاء .المجتمعي

.المتشكل من هذه الرغبة الجامحة للعمل

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http://iz-dresden.org/wp-content/uploads/sites/32/2017/03/DasleereVersprechenvonIntegrationArabisch_formatiert.pdf

„A twenty-first-century left must seek to combat the centrality of work to contemporary life. In the end, our choice is between glorifying work and the working class or abolishing them both. […] Yet the latter is the only true postcapitalist position.“
(Nick Srnicek and Alex Williams, extracts from Inventing the Future: Postcapitalism and a World Without Work)

Einführung

Wir möchten mit diesem Text zu einer Aufklärung über die prekären Arbeits- und Lebensverhältnisse von Asylsuchenden auf sachlicher Basis beitragen. Unsere generelle Kritik am Begriff der Arbeit im 21. Jahrhundert die sich an der Marxschen Arbeitswerttheorie [1] biopolitischen Regierungstechniken, postkolonialer und Gender-Theorie orientiert, steht hier nicht im Vordergrund. Uns geht es in dem Text vielmehr darum, die inneren und äußeren Widersprüche des „neuen Integrationsgesetzes“ und der Politik, die dieses Gesetz verabschiedet hat, aufzuzeigen. Ziel ist es, die Institutionen, die bereits eine Arbeitsgelegenheiten-Asyl (AGH-Asyl) bei sich geschaffen haben, davon zu überzeugen, diese wieder einzustellen. Doch viel wichtiger ist es die Betroffenen über die politischen und rechtlichen Hintergründe dieser Maßnahmen aufzuklären und eine gemeinsame Diskussion über Widerstand und Organisierung anzustoßen. Diese gemeinsamen Widerstände sollten jedoch immer auch auf die generellen ausbeuterischen Verhältnisse sowie das Verhängnis des Neoliberalismus verweisen, damit sie nicht isoliert werden und als Reformpaket enden. Das zwischen radikaler Kritik und praktischem Handeln oft eine Kluft voller Widersprüche liegt, ist uns bewusst. In Anbetracht der Situation wäre es jedoch eine falsche Entscheidung untätig zu bleiben.

Außerdem weisen wir auf einen Text der Basisdemokratischen Linken Göttingen hin: https://sozialgeschichteonline.files.wordpress.com/2017/03/sgo_20_2017_basisdemokratische-linke_integrationsgesetz.pdf

Er bietet einen umfangreichen Überblick und eine Analyse des gesamten Integrationsgesetzes und hat den Fokus auf die Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM). In diesem Sinne ergänzen sich die Texte, da wir ausschließlich auf die AGH-Asyl fokusieren. Zum Unterschied zwischen AGH-Asyl und FIM sei auf die erste Fußnote unseres Textes verwiesen.

Vorwort:

Seit dem Inkrafttreten des „Neuen Integrationsgesetz“ am 7. Juli 2016 sind Asylsuchende, d.h. Menschen, die sich offiziell im Asylverfahren befinden, dazu verpflichtet, sogenannten Arbeitsgelegenheiten-Asyl (AGH-Asyl) nachzugehen.1 2 Das Konzept der AGH’s ist nahezu identisch mit dem der Ein-Euro-Jobs, das im Zuge der Hartz IV – Reformen entstanden ist. Ursprünglich wurde diese Arbeitsform für Langzeiterwerbslose konzipiert, die – so der Tenor der Agenda 2010 – dadurch besser und langfristiger in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden sollten. Mit diesem ökonomischen Argument sollte die Tatsache gerechtfertigt werden, dass Menschen ihre Arbeitskraft für einen Lohn von gerade mal einem Euro pro Stunde opfern müssen. Mit dem „Neuen Integrationsgesetz“ sind diese vermeintlichen Eingliederungsmaßnahmen in den Arbeitsmarkt nun bundesweit für Geflüchtete während des Asylgesuchs vorgesehen, also auch dann, wenn das Asyl bereits abgelehnt wurde. Dafür, so das Ziel des Gesetzespakets, sollen zukünftig 100.000 Arbeitsgelegenheiten geschaffen werden.

Im Bundesland Sachsen beträgt die Gesamtzeit einer solchen Maßnahme gegenwärtig sechs Monate. Die monatliche Arbeitszeit liegt bei maximal 100 Stunden, dafür wird seit dem 1. September 2016 eine Aufwandsentschädigung von 80 Cent pro Arbeitsstunde berechnet. Am Monatsende werden bei Vorlage eines Bestätigungsschreibens über die geleisteten Stunden maximal 80 Euro ausgezahlt.

Arbeiten, um sich in die Gesellschaft zu ‚integrieren’, hört sich aus der Perspektive einer Arbeitsgesellschaft erst einmal plausibel an – doch die Realität sieht anders aus. Dass das Versprechen einer langfristigen Eingliederung in die deutsche Arbeitswelt für viele der Geflüchteten ins Leere läuft, wie das Schlüsselwort ‚Integration’ zum Deckmantel einer strukturellen Ausgrenzung wird, weshalb das neoliberale Arbeitsmodell für Geflüchtete neue Formen der Prekarisierung mit sich bringt und wieso das „Neue Integrationsgesetz“ zum Anlass genommen werden sollte, eine radikale Kritik an kapitalistischen Arbeitsformen zu formulieren, zeigen ein genauerer Blick in die Gesetzgebung und ein Abgleich mit Beispielen aus der Praxis.

1) Das Modell „Ein-Euro-Jobs“ hat sich nicht bewährt

Obwohl sich das Reformpaket Agenda 2010 längst als Garant für soziale Ungerechtigkeiten erwiesen hat, soll es nun anhand der Ein-Euro-Jobs auf Geflüchtete angewandt werden – und zwar als Maßnahme zur ‚Integration’.34 Dabei sind die mit dem Lostreten des neoliberal geprägten Reformkonzepts für Arbeitsmarkt und Sozialsystem angekündigten Eingliederungsprozesse in die Arbeitswelt nie eingetreten. Konkreter formuliert: die Ein-Euro-Job-Maßnahmen führten nur geringfügig zu festen Anstellungsverhältnissen und mehr sozialer Ausgrenzung. Diesen Schluss lässt auch der Eingliederungsbericht der „Bundesagentur für Arbeit“ aus dem Jahr 2014 zu, der explizit auf die „geringe Eingliederungsquote von Arbeitsgelegenheiten“ verweist. Derselbe Bericht offenbart zudem, dass – entgegen der öffentlichen Propaganda – „eine sofortige Integration in den Arbeitsmarkt nicht das primäre Ziel dieser Maßnahme“ ist. Stattdessen sei „die Zielsetzung von Arbeitsgelegenheiten […] vielmehr die (Wieder-) Herstellung und Aufrechterhaltung der Beschäftigungsfähigkeit von arbeitsmarktfernen Personen.“5 Das Versprechen der „Integration“ in den Arbeitsmarkt konnte das Reformpaket also weder halten, noch scheint es wirklich gewollt gewesen zu sein. Trotz der unscharfen Positionierung der Ein-Euro-Jobber*innen zwischen „Arbeitsgelegenheiten“ und „Arbeitsmarktferne“ werden sie dennoch in die Berechnung der Arbeitslosenquote miteinbezogen – jedoch nicht in der Kategorie der Erwerbslosen, sondern als Arbeiter*innen. Dadurch lassen sich sinkende Arbeitslosenquoten und steigende Beschäftigungsquoten erklären. Die verheerenden Folgen des Reformpakets werden in diesen Statistiken hingegen strategisch verleugnet. So hat die Agenda 2010 eine massive Stärkung des Niedriglohn- und Leiharbeitssektors verursacht, die zu einer erhöhten Armutsquote von Leistungsempfänger*innen geführt und zugleich an der Quote der Langzeiterwerbslosen nichts verändert hat.678Längst haben sich die Agenda 2010 und ihre Ein-Euro-Job-Maßnahmen als gescheitert und menschenunwürdig herausgestellt – werden nun aber erneut und entgegen besseren Wissens als vielversprechendes Modell der Integration gepriesen.

2) Eine (langfristige) Eingliederung in den Arbeitsmarkt lässt sich mit der gegenwärtigen Asylpolitik nicht vereinbaren

Das Versprechen der „Integration“, die den Ein-Euro-Jobs anhaftet, scheint im Kontext der rigorosen europäischen Asylpolitik paradox. Ein Großteil der Geflüchteten, die den neuen „Arbeitsgelegenheiten“ bereits nachgehen und zukünftig nachgehen werden, haben schlichtweg keine Chance auf einen dauerhaften Aufenthalt. 2015 wurden rund 33 % aller Asylanträge negativ beschieden, hinzu kommen 17% sog. formeller Negativ-Entscheidungen (u.a. Fälle nach dem Dublin-Verfahren).9Bereits im ersten Halbjahr 2016 wurden 24,9 Prozent der gestellten Asylanträge abgelehnt. „Anderweitig erledigt“, z.B. durch das „Dublin-Verfahren und Verfahrenseinstellungen wegen Rücknahme des Asylantrages“, wurden 13,6 Prozent.10 Zugleich wird die Asylpolitik sukzessive verschärft, neben der fortschreitenden Abschottungspolitik11, werden immer mehr Länder zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt. Die Chancen auf Asyl werden dadurch für viele Menschen geringer bis aussichtslos und dabei immer stärker von ihren Nationalitäten abhängig. Auch mangelnde Schul- oder Ausbildung, also Ablehnungsgründe, die Asylsuchende anhand ihrer ökonomischen Nützlichkeit kategorisieren, können als politisch motiviert gelten. Auch die Bezeichnung „sicherer Herkunftsländer“ ist hier – bestärkt durch den von Rechts befeuerten öffentlichen Diskurs – nicht mehr als eine öffentliche Hetzkampagne gegen alle die als „Wirtschaftsflüchtlinge“ klassifiziert werden. Aufgrund der geringen Chancen auf Asyl ist die Option auf einen festen Arbeitsplatz und deshalb auch auf die damit vermeintlich einhergehende ‚Integration’ für einen Großteil der temporären 80-Cent-Jobber zu keinem Zeitpunkt der Ausübung der Arbeit gegeben.

3) 80 Cent statt 1,05 Euro

Für einen Ein-Euro-Job wird kein Lohn, sondern eine sogenannte „Aufwandsentschädigung“ gezahlt, die im Falle Menschen deutscher Nationalität gegenwärtig bei 1,05 € und in Ausnahmefällen bei bis zu 2 € liegt. Menschen im Asylverfahren erhalten jedoch nur 80 Cent. Der Grund dafür, Menschen aufgrund ihrer Nationalität und ihres Aufenthaltsstatus schlechter zu bezahlen, ist im Gesetz verzeichnet. Das sieht vor, dass die Stellen vorwiegend zur „Aufrechterhaltung und Betreibung der Aufnahmeeinrichtung“ und damit in derselben geschaffen werden sollen. Die „erforderlichen Arbeitsmittel, zum Beispiel Arbeitskleidung oder -geräte“, sollen von den Trägern der Einrichtungen gestellt werden, während „Fahrtkosten oder Kosten für auswärtige Verpflegung“ nicht anfallen würden.12 Im Gegensatz dazu kündigen die aufgestellten Richtlinien zur Schaffung der AGH-Asyl an, dass 75% der Stellen außerhalb der Heime und Sammelunterkünfte entstehen sollen.13Das würde nicht nur die gesetzlichen Vorlagen unterlaufen, sondern auch die Unterschiede der „Aufwandsentschädigung“ obsolet machen. Statt die Unterschiede jedoch direkt aufzuheben, können die Kürzungen ausschließlich durch Einzelprüfungen und das Engagement der jeweiligen AGH-Asyl-Stelle rückgängig gemacht werden. 100.000 Arbeitsgelegenheiten würden dann 75.000 Einzelprüfungen mit sich bringen – ein hoher bürokratischer Aufwand, der nur schwer zu bewerkstelligen scheint und zudem die Eigeninitiative der Geflüchteten voraussetzt. Einen solchen Schritt zu gehen, ist für viele der Betroffenen schlichtweg unrealistisch. Neben dem meist fehlenden Wissen über die eigenen Rechte ist ihr Handlungsspielraum durch die Angst vor der potentiellen Gefährdung des Aufenthaltsstatus, aber auch durch das rassistische Klima in der Gesellschaft, das jeden möglichen Widerstand als anmaßend abstempelt, stark eingeschränkt. Wir gehen auch nicht davon aus, dass sich die einzelnen AGH-Asyl-Stellen, um die Aufstockung der Aufwandsentschädigung kümmern werden.

4) Der Ein-Euro-Job ist keine Arbeit im klassischen Sinne

Laut der Gesetzgebung handelt es sich bei den „Integrationsmaßnahmen“ nicht um ‚richtige’ Arbeit. Vielmehr werden Ein-Euro-Jobs als „zusätzliche“14 Tätigkeiten kategorisiert, also als solche, die nur dann „zur Verfügung gestellt werden, sofern die zu leistende Arbeit sonst nicht, nicht in diesem Umfang oder nicht zu diesem Zeitpunkt verrichtet werden würde“15. Per Gesetz und aufgrund der förderrechtlichen Anforderungen sind sie so zugeschnitten, dass sie mit dem deutschen Arbeitsmarkt nicht konkurrieren.16 Deshalb müssen sie so gestaltet werden, dass sie keiner ‚ordentlichen’ Arbeit entsprechen, keinen ökonomischen Profit produzieren und keinen ‚bereits integrierten’ Arbeiter*innen den Job ‚wegnehmen’ könnten.

Die im Gesetz eingeschriebene Kategorisierung der Ein-Euro-Jobs als Nicht-Arbeit, als eine Tätigkeit zweiter Klasse, verleiht den neuen (Nicht-)Arbeiter*innen einen ebenso zweitklassigen Status. Der gesetzlich festgelegte Parameter „Arbeitsmarktferne“ zeigt also deutlich den Widerspruch zu der viel zitierten ‚Integration durch Arbeit’ durch die AGH-Asyl. Auch in puncto „ausbleibender ökonomischer Profit“ ist es fragwürdig, ob gewährleistet werden kann, dass eine ökonomische Ausbeutung der (Nicht-)Arbeiter*innen durch z.B. Unternehmen oder städtische Einrichtungen ausgeschlossen bleibt.1718 Wie genau lässt sich in der Praxis festmachen, wo ökonomischer Profit und Arbeitsmarkt beginnt? Wie verhält es sich, wenn Asylsuchende Gebäude und Gelände städtischer und kommunaler Einrichtungen durch Wartung und Säuberung19 instand halten und dadurch die Tätigkeit einer/s Hausmeister*in ersetzen? Wie werden die AGHs zur Säuberung und Aufforstung der Wälder argumentiert, wenn sie die Arbeit von Forsthelfer*innen ausüben, die gewöhnlich mit mindestens 8,84 Euro entlohnt werden? Und wie ist es möglich, dass Unternehmen, wie etwa das Sächsische Fortbildungs- und Umschulungswerk (SUFW), von der Vermittlung und Schaffung solcher Maßnahmen profitieren?20

5) Ausbeutung wird zum Gesetz

Seit dem In-Kraft-Treten des neuen „Integrationsgesetzes handelt es sich bei den Ein-Euro-Jobs nicht mehr um ‚freiwillige’ Arbeit. Statt dessen sind „Arbeitsfähige, nicht erwerbstätige Leistungsberechtigte, die nicht mehr im schulpflichtigen Alter sind, […] zur Wahrnehmung einer zur Verfügung gestellten Arbeitsgelegenheit verpflichtet“21. Arbeit, die nur für einen verschwindend geringen Anteil von Geflüchteten zu einem dauerhaften Aufenthalt und einer ‚besseren Arbeit’ führen würde, ist von nun an nicht nur verpflichtend – eine strategische Ausbeutung von Menschen, die in ihrer Hoffnung auf Asyl für 80 Cent pro Stunde ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, ist fest im Gesetz verankert.22 Bei Verweigerung kann eine Kürzung der Sozialleistungen drohen, über solche Sanktionierungen entscheiden die Sozialämter der Kommunen, die für die Verwaltung der Ein-Euro-Jobs zuständig sind. In Dresden wurden bereits solche Kürzungen praktiziert, wie Mitarbeiter*innen des Ausländerrats Dresden e.V. berichten.23 Auch Asylsuchende erzählten uns bereits vermehrt davon. Dabei ist den Betroffenen meist nicht bewusst, weshalb ihre Leistungen eingeschränkt wurden.

6) Integrierende Ausgrenzung – ausgrenzende ‚Integration’

Unter dem Deckmantel der ‚Integration’ verschärft sich im Zuge des neuen Integrationsgesetzes die Praxis, Arbeit als eine Technik des Ausschließens und Ausbeutens von Geflüchteten einzusetzen. Unter Androhung von Zwangsmaßnahmen werden sie strategisch in prekäre Arbeitsverhältnisse gedrängt – ohne Aussicht auf Bleiberecht, Arbeit und sogenannte Integration. Besonders brisant sind solche Regierungstechniken in Deutschland, einem Land, das sich spätestens seit dem 20. Jahrhundert als Arbeitsgesellschaft begreift. Arbeit wird hier vorrangig nicht aus finanziellen Gründen ausgeübt, sondern gehört zu den wesentlichen Voraussetzungen, um Teil der Gesellschaft zu werden. In diesem Kontext ist die Strategie, Geflüchtete mit einer Arbeit zu ködern, die auf dem Arbeitsmarkt nicht anerkannt wird und deshalb eigentlich gar keine ist, besonders perfide. Beim Versuch, sich durch Arbeit in die deutsche Arbeitsgesellschaft zu „integrieren“, werden die Geflüchteten nicht nur ausgebeutet, sondern zugleich in einer Art doppelten Zwei-Klassensystem abgegrenzt. Erstens von den ‚ordentlichen Arbeiter*innen’, die den Arbeitsmarkt bespielen und zweitens durch die Unterschiede der Aufwandsentschädigung im Vergleich mit den Ein-Euro-Jobber*innen, die durch das Jobcenter verwaltet werden.24 Sie arbeiten, um einem Ausschluss zu entgehen, schaffen es zugleich jedoch nicht, sich zu ‚integrieren’ und verbleiben in ihrer marginalisierten Stellung. Dies geschieht obwohl sie bereit sind, genau das zu tun, was die deutsche Politik offensichtlich am meisten an ihnen interessiert: ihre (ökonomische) Arbeitskraft für ein Minimum an Bezahlung zu opfern.

Ein genauer Blick in das „neue Integrationsgesetz“ zeigt, dass „Ein-Euro-Jobs“ weder eine schnelle Integration in den Arbeitsmarkt noch in die Gesellschaft ermöglichen. Rechtliche und inhaltliche Unstimmigkeiten lassen vielmehr daran zweifeln, ob die ‚Integration‘ der Geflüchteten durch solche Maßnahmen überhaupt vorgesehen ist. Trotzdem hält das Bundesamtes für Arbeit und Soziales an der Schaffung von 100.000 Arbeitsgelegenheiten mit dem Ziel der Arbeitsmarktintegration fest. Es verweist darauf, dass „das Integrationsgesetz (…) von den zu uns gekommenen Menschen (fordert), (…) diese Angebote zur schnellen Integration in den Arbeitsmarkt anzunehmen.“25 Dass diese „schnelle Integration in den Arbeitsmarkt“ so gar nicht möglich, rechtlich mehr als fragwürdig und politisch anscheinend nicht gewollt ist, interessiert also offensichtlich nicht. Bei den geringen und ohne vergleichende Bedarfsermittlung festgelegten Leistungen, die Menschen im Asylverfahren bekommen2627, ist die Bereitschaft Arbeitsgelegenheiten jeglicher Art anzunehmen, nicht verwunderlich. Dass dabei weitere Räume für ausbeuterische Verhältnisse entstehen, zeigt ein Beispiel aus dem Jahr 2016: Mitarbeiter*innen von Asylunterkünften hatten unangemeldete Jobs unter schlechtesten Bedingungen vermittelt und dafür Provision verlangt.2829

Das Vorgehen der Bundesregierung, ausbeuterische Verhältnisse bei Geflüchteten zugunsten sogenannter Integrationsmaßnahmen in Kauf zu nehmen, weist in seiner Ideologie eine deutliche Nähe zu den Forderungen der Neuen Rechten auf. Dadurch kann die plötzlich so dringlich gewordene Einführung des Gesetzes als eine Reaktion auf die Erfolge der rechten Partei Alternative für Deutschland (AfD) und den generellen Rechtsruck in der Gesellschaft verstanden werden. Im Sinne von „Wer Asyl will, muss arbeiten – koste was es wolle“ zeichnet sich dabei sowohl in der parlamentarischen Politik als auch in weiten Teilen der Gesellschaft die Tendenz ab, Geflüchtete zu (Nicht-)Arbeiter*innen zweiter Klasse zu degradieren und ihnen dabei ihren Subjektstatus abzusprechen. Statt ihnen zu (politischem) Handlungsspielraum zu verhelfen, werden sie durch Maßnahmen wie dem „neuen Integrationsgesetz“ strategisch entrechtet und auf ihr nacktes Leben reduziert. Von Interesse sind lediglich ihre Körper, jede Möglichkeit der Emanzipation und deshalb auch der Subjektwerdung wird unterbunden. Damit scheinen alle Versuche der sogenannten Integration dazu verdammt, ins Leere zu laufen. Außerdem drängt sich die Frage danach auf, was denn genau ‚Integration’ für die deutsche Bundesregierung und die Gesellschaft, die solche Gesetze befürwortet, bedeutet.

7) Sind Ein-Euro-Jobs verfassungskonform? Erste Möglichkeiten des Widerstandes

Neben der politischen Kritik, drängen sich darüber hinaus Fragen nach der Verfassungsmäßigkeit des neuen Gesetzes und dessen Auswirkungen auf das Grundgesetz auf. Vor einiger Zeit liefen erneute Verfassungsbeschwerden gegen Sanktionierung von Hartz-IV-Betroffenen an.30 Ein erster Versuch scheiterte im August 2016 nur aus rein formalen Gründen.31 Ziel ist es, die grundrechtsverletzenden Sanktionen durch einen positiven Bescheid des Verfassungsgerichtes abzuschaffen. Hier stellt sich die Frage, ob gleiches nicht auch für die Sanktionen für Empfänger*innen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz möglich wäre. Die Leistungen für Asylsuchende sind im Vergleich zu Hartz-IV-Regelsätzen ohnehin niedriger. Der Vizepräsident des Verfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, bezeichnete dies als eine „ins Auge stechende Differenz“32. So heißt es in einem Urteil des Verfassungsgerichtes vom 18. Juli 2012: „migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen“, denn die im Grundgesetz Artikel 1 Absatz 1 „garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“33 Werden diese Leistungen aufgrund der Verweigerung einer AGH-Asyl unter ein menschenwürdiges Existenzminimum gekürzt, wäre dies verfassungswidrig. Auch weitere mögliche Kürzungen, die Asylsuchende treffen, stehen in der Kritik der Verfassungsmäßigkeit.34 Zu diesen Leistungen zählen im Übrigen auch alle Mittel zur „Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen.“35 Die Bedenken beruhen auf der Verletzung der Artikel 1 (Menschenwürde) und 20 (Sozialstaatlichkeit). Über die Frage der Verfassungsmäßigkeit hinaus ist es an dieser Stelle noch wichtiger, die Potentiale für einen gemeinsamen Kampf von Hartz-IV-Betroffenen und Asylsuchenden auszuloten.

1 Neben der AGH-Asyl bestehen außerdem noch sog. Flüchtlingsintegrationsmaßnahme (FIM). Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Maßnahmen ist die Zielgruppe: Während die AGH-Asyl alle Empfänger von Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz einbezieht – also auch abgelehnte Asylbewerber, richtet sich die FIM explizit an Menschen im laufenden Verfahren. Anders formuliert ist die AGH-Asyl für Geflüchtete unter Umständen eine Art Zwangsarbeit, die sogar nach der Ablehnung, also bei keiner Bleibeperspektive stattfindet!

Quelle: http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Thema-Arbeitsmarkt/faq-arbeitsmarktprogram-fim.pdf?__blob=publicationFile&v=5

2 Genaue Zahlen zu der Anzahl Maßnahmenteilnehmer*innen sind bisher noch nicht veröffentlicht worden.

11 vgl. EU-Mandatserweiterung für Frontex und „Türkei-Deal“

14 Etwa zur „Aufrechterhaltung und Betreibung der Aufnahmeeinrichtung“, vgl. ebd., Absatz (1)

15 Ebd., Absatz (1).

16 vgl. hierzu § 16d Abs. 1 SGB II Leistungsberechtigte können in Arbeitsgelegenheiten zugewiesen werden, »wenn die darin verrichteten Arbeiten zusätzlich sind, im öffentlichen Interesse liegen und wettbewerbsneutral sind.«

19 Hiermit sind explizit auch weitere sogenannte reproduktive Tätigkeiten gemeint.

20 Diese Fragen sollen keine Lanze für Vorurteile wie: „Die Ausländer nehmen uns die Arbeit weg“ brechen, es soll hier die Frage nach dem ökonomischen Interesse der Herrschenden und nach der Ausbeutung im Mittelpunkt stehen.

21 Vgl. Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG), § 5 Arbeitsgelegenheiten, Absatz (4) https://www.gesetze-im-internet.de/asylblg/__5.html

22 Ebd., Absatz (2).

24 Dies betrifft sowohl Menschen mit deutschem Pass, als auch Menschen mit Asylstatus.

35 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2010/02/ls20100209_1bvl000109.html

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