Vorbemerkung
In den letzten beiden Ausgaben erschienen in der Jungle World unter der Rubrik „Disko“ jeweils ein Artikel zum Thema linke Islamkritik. Den Auftakt machte Jonas Fedders mit seinem Artikel „Differenzierter, bitte“. In diesem prangerte er den kulturalistischen Rassismus der „Islamkritik“ an, die mehrheitlich von sogenannten „Antideutschen“ vertreten wird. Die in der nächsten Ausgabe erschienene Antwort von Mortiz Hoffmann mit dem Titel „Große Scheuklappen“ hatte es dann in sich. Hoffmann meinte, Fedders hätte sich gegen jede Form der Kritik am Islam ausgesprochen und warf ihm vor, islamischen Terror zu verharmlosen. Rhetorisch geschickt vollzog er in dem Artikel dann die Gleichsetzung von Islam, Islamismus und Antisemitismus. Er beteuerte in dem Artikel, es ginge ihm nur um eine Kritik des Islam als Ideologie, nur um wenige Sätze später von „islamischen Zwangsgemeinschaften“ zu sprechen. Der Artikel war so hanebüchen, dass ich mich veranlasst sah, eine Antwort darauf zu verfassen. Nach etwas Hin- und Her mit der Jungle Redaktion, lief es dann nach einigen Tagen darauf hinaus, dass die Redaktion meinen Artikel nicht abdrucken wollte. Die Begründung lautete, dass mein Artikel zu sehr eine Kritik der Kritik darstellen würde und zu wenig neue Aspekte reinbringe, nur Argumente wiederhole, die in den letzten Jahren schon oft ausgetauscht wurden. Es ist sicherlich richtig, dass in der linken Debatte in den letzten Jahren Artikel mit ähnlichem Grundtenor geschrieben wurden. Die von Hoffmann in seinem Artikel vorgebrachten Positionen sind aber sicherlich auch alles andere als neu und angesichts seiner undifferenzierten Islamkritik scheint eine Gegenstimme leider immer noch nötig. In der Ausgabe vom 03.11.2016 erschien übrigens ein Artikel der reaktionären Georg-Weerth-Gesellschaft.
Reflexion statt Polemik!
Es ist doch zum Verzweifeln: Ein Artikel in der Jungle-World fordert eine aufrichtige Reflexion über die Form ein, in der sich linke Islamkritik äußern sollte. Denn die auch von manchen Linken verwendeten kulturalistischen Homogenisierungen reproduzierten rassistische Stereotype und leisteten einer emanzipatorischen Islamkritik einen Bärendienst, so der Autor des Beitrags. In der nächsten Ausgabe erscheint dann eine Antwort des passionierten Islamkritikers Moritz Hoffmann, der die in dem Artikel genannten Beispiele einfach als „Polemik“ abtut, alle von Linken geäußerte Kritik am Islam schlicht als „linke Islamkritik“ labelt und keinen Gedanken darauf verschwendet, worin diese sich denn nun wesentlich von der rechten Islamkritik unterscheidet. Stattdessen setzt er den Islam und Islamismus in eins und kolportiert, Antisemitismus sei der psychodynamische Kern des Islams, um den sich alle seine verfeindeten Untergruppierungen ideell in der Umma vereinten. Gerade dies begründe eine Dialektik von Besonderem und Allgemeinem, schreibt der Autor. Worin das Allgemeine eines Jihadisten von Daesh und einer ihn bekämpfenden Muslima in den Reihen der kurdischen Frauenverteidigungseinheiten liegt, bleibt wohl das Geheimnis dieser ganz besonderen von Hoffmann begründeten Dialektik.
Die Reflexion darüber, wie eine nicht-rassistische Islamkritik aussehen könnte, ist ausgeblieben, Diskussion gescheitert, könnte man meinen. Dennoch will ich mich hier zu einigen Anmerkungen und Richtigstellungen zu Hoffmanns Artikel hinreißen lassen, die in den letzten zwanzig Jahren sicherlich schon in einigen linken Debatten über den Islam in dieser oder ähnlicher Weise hervorgebracht wurden.
Islam = Islamismus = Alles Antisemiten?
Laut Hoffmann seien seine Postulate über den Islam nicht rassistisch, da es sich bei diesem ja um eine Ideologie und um keine Kultur handle und sich so jeder Muslim auch von dieser abwenden könne. Geschenkt sei ihm, dass ein Muslim, der sich vom Islam abwendet, vieles sein kann, aber sicher kein Muslim. Doch einige Sätze später meint er wiederum, die Einheit des Islams sei ein sozialpsychologisches Phänomen. Und hier wird es doch bereits etwas komplizierter. Denn wenn diese Einheit sich vor allem über den Antisemitismus herstellt, kann in dieser Logik ein Ex-Muslim sich eben nicht so einfach von diesem abwenden. Gerade sozialpsychologisch lässt sich doch die unbewusste, bereits in der Kindheit einsetzende Verinnerlichung solcher Ideologien aufzeigen. Dann bleibt die Frage Muslim oder Ex-Muslim, Antisemit oder Ex-Antisemit keine individuelle Entscheidung, sondern ist zutiefst durch das ideologisch-kulturelle Milieu geprägt, in dem man aufwächst, in diesem Fall durch den „antisemitischen“ Islam. Wenn Hoffmann nun dies als wahr annimmt und darüberhinaus ein Feind des Antisemitismus ist, muss er alle Menschen, die mit dem Islam aufgewachsen sind, als seine politischen Gegner betrachten.
Doch abgesehen davon, ist auch seine Gleichung Islam=Islamismus=Antisemitismus grundfalsch und historisch nicht haltbar. Natürlich hat der Islamismus etwas mit dem Islam zu tun, handelt es sich bei diesem doch um eine spezifische Auslegung des Koran. Der Umkehrschluss, dass der Islam auf den Islamismus hinauslaufe, lässt sich aber in keiner Weise belegen.
Bekanntermaßen kennt der Islam keine oberste Autorität in Glaubensfragen. Durch diese heterogene Dogmatik kann jede aus den Quellen des Islams geschöpfte Lehrmeinung für sich beanspruchen, die einzig richtige zu sein. Daher ist dem Islam ein rigides Dogma mit ein für alle Mal festgelegten Regeln und Gesetzen fremd, die Interpretation der Offenbarung bleibt eine Frage der Praxis. Diese Offenheit der Positionen bedeutet, dass der Islam in seinem Wesen weder antisemitisch noch projüdisch, weder demokratisch noch antidemokratisch, sondern offen für gesellschaftliche Entwicklungen ist. Auch in Bezug auf Jüdinnen und Juden werden sich im Koran Stellen finden lassen, die für ein friedliches Miteinander zwischen den „Gemeinschaften des Buches“ („ahl al-kitab“) werben (Sure 29:46) und solche, die zu ihrer Verfolgung aufrufen (Sure 9:29). Früher herrschte eine traditionelle Toleranz gegenüber den Christen und Juden, während der Antisemitismus sicherlich als der „psychodynamische Kern“ des politischen Islam bezeichnet werden kann.
Der Aufstieg des Islamismus ist ein Produkt imperialistischer Verwüstungen
Die Frage welche Lehrmeinung und Interpretation des Korans gerade vorherrscht, ist insofern aufs Engste mit historischen und sozi-ökonomischen Entwicklungen sowie sozialen Kämpfen verbunden. Den Antisemitismus, der gerade die Widersprüchlichkeit kapitalistischer Gesellschaften ideologisch verarbeitet als den Kern einer mehr als 1400 Jahre alten Religion zu bezeichnen, scheint mehr als an den Haaren herbeigezogen. Wie Matthias Küntzel schreibt, „[ist] der antijüdische Wahn [des Islamismus] keinem metaphysisch ‚Bösen‘, sondern einer historisch und systematisch erklärbaren Sichtweise auf den Kapitalismus entsprungen.“ Gerade der antideutsche Vordenker Küntzel hat in seiner Studie „Djihad und Judenhaß“ deutlich herausgearbeitet, dass der moderne Antisemitismus von den Nazis erst über Ägypten in den islamischen Raum exportiert werden musste. Frühestens ab den 1930er Jahren konnte er im Zusammenhang mit kapitalistischen Krisenprozessen in islamischen Gesellschaften Fuß fassen. An dessen Verbreitung und Etablierung arbeiteten die Muslimbrüder, die den politischen Islam überhaupt erst begründeten. Ihren Aufstieg verdanken sie der Zersetzung des Panarabismus und Baathismus ab den 1970er Jahren. Auch wenn die Islamisten heute in einigen Ländern die Staatsmacht erobert haben und auch andernorts stark sind, heißt dies doch mitnichten, dass der Islam mit dem Islamismus und seinem wahnhaften Antisemitismus deckungsgleich ist. Weit davon entfernt das „wahre Wesen“ des Islam zu enthüllen, muss der Islamismus stattdessen als parallel zum Faschismus aufkommende reaktionäre Antwort auf die kapitalistische Moderne mit eigener Massenbasis gesehen werden. Anders als der europäische Faschismus stützt er sich auf den Islam als in diesen Gesellschaften praktiziertes kulturelles Muster und kann so die in den Massen vorherrschende progressiv-antikoloniale Stimmung in antiemanzipatorische Bahnen lenken.
Wer die Verbreitung des Antisemitismus in einigen islamisch geprägten Gesellschaften verstehen will, sollte sich daher weniger auf die Suche nach dem „psychodynamischen Kern“ der Umma begeben, sondern danach Fragen, welche Tendenzen der verkehrten Welt immer wieder verkehrtes Weltbewusstsein hervorbringen. Dann müsste man aber darüber reden, welchen Anteil die imperialistischen Verwüstungen des „zivilisierten Westen“ und die Entwicklungstendenzen eines sich auf globaler Ebene immer barbarischer äußernden Kapitalismus am Aufstieg des Islamismus haben.
Kern der Sache ist der globale Siegeszug des Kapitals
Sehr grob skizziert könnte man dann über die Enstehungsbedingungen der Massenbasis des Islamismus sagen: Zum ersten Mal seit seinem Bestehen hat der Kapitalismus den gesamten Globus nach seinem Antlitz umgeformt und alle vor-kapitalistischen Residuen zerstört. Potentiell hat er die ganze Menschheit proletarisiert und sie ihrer Subsistenzgrundlagen beraubt. Nur ist das Kapital aufgrund seiner Produktivkraftzuwächse gar nicht in der Lage, diese für die eigene Mehrwertproduktion einzuspannen. Es handelt sich aus der Sicht des Kapitals um nicht verwertbare Überschussbevölkerungen, die weder als Abnehmer seiner Waren noch als ausbeutbare Arbeiterinnen und Arbeiter in Frage kommen. Diese circa 2 Milliarden Menschen müssen in der Schattenökonomie ihre Existenz fristen, sie haben keinerlei Perspektive in dieser Gesellschaft. Hinzu kommt eine aufgrund sich seit einigen Jahren manifestierenden Krisenprozessen verschärfte Konkurrenz zwischen den sich diversifizierenden imperialistischen Machtblöcken um Rohstoffe und Absatzmärkte, die Bürgerkriege befeuert und den Zerfall vieler Staaten beschleunigt. In diesen von der Verwertung abgehängten Regionen ist das Kapital aber gar nicht auf ein funktionierendes Staatswesen angewiesen, sondern begnügt sich bestens damit, mit kriminellen Banden Geschäfte zu machen, wie auch Daesh eine ist. Weniger denn je ist der Kapitalismus in der Lage, den Menschen auf einer weltweiten Ebene ein gutes Leben zu ermöglichen und dies dreht sich nun wiederum gegen ihn selbst. Es ist alles andere als verwunderlich, dass sich unter den Überflussproletariern, die sowieso nichts mehr zu verlieren haben, in diesen vom Kapital verwüsteten Gegenden der Nihilismus breit macht. Wenn man nach den Maßstäben des Kapitals schon niemand mehr ist, kann man immer noch etwas aus sich machen, in dem man sich einer kriminellen Bande mit religiösem Anstrich wie Daesh anschließt.
Die von Hoffmann in seinem Artikel vollzogene Homogenisierung des Islams als antisemitischer Gemeinschaft, scheint kein brauchbarer Beitrag zu einer emanzipatorischen Islamkritik zu sein. Doch dringlicher als eine Diskussion über linke Islamkritik scheint mir sowieso eine Diskussion darüber zu sein, wie man dem globalen Siegeszug des Kapitals Einhalt gebieten kann. Dann könnte man beispielsweise darüber reden, wie die Genoss*innen der YPG/YPJ, die tagtäglich im Kampf gegen Daesh stehen und gleichzeitig einen auf dem Rätesystem basierenden Sozialismus aufbauen, auch hier in den kapitalistischen Metropolen angemessen zu unterstützen wären. Dies wäre ein praktischer Schritt hin zu Überwindung des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.
- Jule