[Workers Economy in Thessaloniki III] „Von Anfang an haben wir gesagt, dass es uns nicht nur nicht interessiert ob wir legal sind, sondern das wir illegal bleiben möchten.“

17. November 2016

Am Rande der 2. Euromediterranean „Workers Economy“ Konferenz in Thessaloniki besuchten Aktivist_innen der radikalen linken | berlin im Rahmen der „gewerkschaftlichen Reisegruppe gegen Spardiktat und Nationalismus“ die solidarischen Kliniken in Thessaloniki und sprachen mit einem der Ärzte über den Aufbau eines selbstorganisierten Gesundheitswesens in Griechenland.

Inzwischen gibt es in ganz Griechenland solidarische Kliniken, kannst du uns kurz erklären aus welcher Notwendigkeit heraus die Kliniken gegründet wurden?

Einer der beiden Zahnmedizin Behandlungsräume in der Praxis in Thessaloniki

Einer der beiden Zahnmedizin Behandlungsräume in der Praxis in Thessaloniki

Vor einigen Jahren gab es einen Hungerstreik von Migrant_innen ohne Aufenthaltspapiere. Einige Menschen mit medizinischer Ausbildung haben sich dann zur politischen und medizinischen Unterstützung des Streiks getroffen. Dieser Streik war letztendlich ein Erfolg. Danach wollte ein Teil dieser Menschen auch das Gesundheitssystem in Thessaloniki unterstützen. Zu dieser Zeit gab es ein großes Problem mit nichtversicherten Menschen. Also Leute, die vom staatlichen Gesundheitssystem auf Grund von Arbeitslosigkeit ausgeschlossen waren. (Anm. der Redaktion: durch die Wirtschaftskrise stiegen die Arbeitslosenzahlen in Griechenland rasant an, die Krankenversicherung von Erwerbslosen wurde noch bis zu 2 Jahre weiter geleistet und endete dann)

Diese Leute konnten sich weder ambulant, noch in Krankenhäusern, behandeln lassen. Sie mussten jede Behandlung und alle Medikamente selbst bezahlen. Aus dieser Idee entstand dann die solidarische Gesundheitspraxis in Thessaloniki. Bis vor etwa einem Jahr haben wir fast ausschließlich solche, vom der Gesundheitsversorgung ausgeschlossene, Menschen behandelt. Wichtig für die Praxis war immer, dass wir von den Menschen nie irgendwelche Beweise verlangt haben. Wir versuchen mit ihnen eine Vertrauensbeziehung aufzubauen. Falls also jemand behauptet er oder sie sei nicht versichert, reicht uns das aus. Er oder sie konnte dann kommen und sich behandeln lassen.

Vor einem Jahr wurde dann das Recht auf Zugang zum Gesundheitssystem für fast alle wiederhergestellt. Menschen ohne Papiere sind allerdings immer noch völlig ausgeschlossen. Für alle anderen besteht jetzt offiziell das Recht vom staatlichen Gesundheitssystem zu profitieren. Leider ist dies nur theoretisch so. In der Praxis gibt der Staat immer noch genau das selbe Geld für das Gesundheitssystem aus. Vor 3 Jahren wurde also die selbe Summe für 70% der Menschen ausgegeben, wie jetzt für alle. Das macht so keinen Sinn. Die Menschen bekommen erst nach Monaten einen Behandlungstermin. Es sind also wieder viele Menschen praktisch vom Gesundheitssystem ausgeschlossen. Das macht es jetzt also sehr schwer zu beschreiben, welche Menschen vom System ausgeschlossen sind. Vorher waren es die Nichtversicherten, jetzt ist es unklar.

Was ebenfalls wichtig ist, dass in Griechenland auch Versicherte oder Menschen die staatliche Unterstützung bekommen die Medikamente bezahlen müssen. Noch vor 6 Jahren mussten die Leute nur ein viertel des Preises bezahlen. Jetzt ist der Anteil viel höher. Viele Menschen, die chronische Erkrankungen wie Herzprobleme oder Diabetes haben, müssen jeden Monat 30, 40, 50 Euro bezahlen, das können sie aber nicht mehr.

Diese Menschen haben also das Recht auf Gesundheitsversorgung, aber in der Praxis sind sie durch die fehlenden Medikamente ausgeschlossen. Viele von diesen Menschen kommen dann zu uns und lassen sich behandeln, oder erhalten von uns Medikamente.

Wie können wir uns eure Organisation vorstellen?

Die Apotheke - Sieht chaotisch aus, ist aber alles wohl sortiert.

Die Apotheke – Sieht chaotisch aus, ist aber alles wohl sortiert.

Die Organisation ist basisdemokratisch, alles wird durch eine offene Vollversammlung beschlossen. Wir versuchen auch soviel wie möglich im Konsens zu entscheiden. Daher können alle an den Vollversammlungen teilnehmen. Unsere Struktur ist anti-hierarchisch, es gibt keine Direktorin oder so etwas. Derzeit arbeiten in unserer Praxis circa 150 Menschen. Innerhalb der Praxis gibt es Allgemeinmediziner, Psychologen, Zahnmediziner und Physiotherapeuten. Daneben arbeiten viele Leute im Sekretariat und in unserer Apotheke. Daneben gibt es aber auch noch ein großes Netzwerk von Menschen, die sich um die Beschaffung der Medikamente kümmern. Zur Finanzierung der Praxis akzeptieren wir keine Gelder von der EU, vom Staat, der Kirche, Firmen oder irgendwelchen anderen Institutionen, die etwas mit der Krise zu tun haben. Stattdessen werden wir nur von sozialen Gruppen oder Privatpersonen finanziert.

Was sind die häufigsten Beschwerden mit denen die Menschen zu euch in die Praxis kommen?

Alles mögliche. Alle Aspekte der Allgemeinmedizin haben wir schon behandelt. Wir sehen, dass sich oftmals psychische mit körperlichen Problemen vermischen. Genau wegen der Krise. Deshalb behandeln wir seit ein paar Jahren Patienten in Gruppen. Beispielsweise behandelt ein Allgemeinmediziner zusammen mit einem Psychotherapeuten. Wir schauen uns dann zusammen den Patienten und seine Familie an. Das gibt uns ein viel besseres Bild des Patienten und ist für ihn viel besser. Das verändert aber auch unsere Sichtweise auf den Patienten.

Wie ist das zum Beispiel mit Operationen?

Unsere Praxis ist eine ambulante Praxis. Sie hat nichts mit Operationen zu tun. Falls wir beispielsweise Labortests, zum Beispiel CT oder MAT brauchen. Dann schicken wir die Menschen zu private Labore oder ähnlichen Instituten in Thessaloniki und die machen dann diese Tests kostenlos.

Wenn wir etwas vom Krankenhaus brauchen, dann versuchen wir diese Menschen im Krankenhaus zu unterstützen, damit sie die Leistungen bekommen die sie brauchen. Vor einem Jahr wo die Menschen ohne Versicherung völlig vom Krankenhaus ausgeschlossen waren und sich nicht im Krankenhaus behandeln lassen konnten, haben wir solche Fälle gesammelt und haben Pressemitteilungen und Interviews gemacht und versucht es durchzusetzen. Wir haben dann auch angefangen in und außerhalb der Krankenhäuser Demos zu machen. Wir haben die Straßen und den Eingang blockiert und sind auch zu den Direktor_innen der Krankenhäuser gegangen um Druck auszuüben. Für einige Menschen haben wir das auch geschafft.

Seht ihr euch als Projekt, welches die folgen der Krise nur abmildert?

Der Anlass für uns war ganz klar die Krise. Am Anfang dachten wir das es nicht notwendig ist, dass solche eine Praxis längerfristig existiert. Inzwischen gibt es aber auch politische Entwicklungen innerhalb der Praxis, denn viele der Beteiligten stellen fest, dass ein selbstorganisiertes Projekt viel besser funktionieren kann. In allen Bereichen des Lebens und eben auch im Gesundheitswesen. Und wir denken, dass auch außerhalb einer Krise aber innerhalb einer kapitalistischen Gesellschaft solche selbstorganisierten Projekt die Lösung sind und die beste Form der Gesundheitsversorgung. Also Projekt wo die Entscheidungen von allen getroffen werden, ohne Hierarchie, ohne Autorität.

Gibt es eine Vernetzung zwischen den solidarischen Kliniken und wie sieht diese aus?

In Griechenland gibt es viele solidarische Kliniken mit vielen verschiedenen politischen Konzepten der Funktion und Organisation. Es gibt Kliniken, welche von der Kirche unterstützt werden, manche machen ganz einfach karitative Arbeit. Wir haben allerdings gesagt, dass wir eine solidarische Arbeit machen wollen und eben keine karikative.

Wir haben eine bestimmte politische Richtung im Kopf und arbeiten mit der Klinik auch dafür. Die praktische Arbeit verstehen wir als Solidarität mit den Menschen und machen sie deshalb auf Augenhöhe mit den Menschen, die zu uns kommen. Wir wollen also nicht wie die Caritas den Menschen nur etwas geben, sondern versuchen mit den Menschen gemeinsam das Problem zu lösen.

Wir haben uns allerdings mit einigen solidarischen Kliniken in ganz Griechenland, die eine ähnliche, wenn auch nicht die selbe, politische Richtung verfolgen, vernetzt. Wir haben bewusst den Beschluss getroffen selbst nicht sehr streng zu sein mit wem wir uns vernetzen. Wir hatten allerdings einige grundlegende Richtlinien: keine Finanzierung vom Staat, Kirche oder der EU, Autonomie in der Entscheidungsgewalt. Wir treffen uns mit den anderen Kliniken einmal im Jahr und versuchen politisch zu diskutieren wie alle  Menschen theoretisch und praktisch den selben Zugang zum Gesundheitssystem bekommen können.

Ein ganz wichtiger Punkt war ja für die Vernetzung auch, dass ihr von Anfang an gesagt habt, dass ihr aus der Geschichte heraus ein ganz klar antirassistisches Projekt seit. Gerade weil ja auch die Goldene Morgenröte mit ihren Blutspendeaktionen „griechisches Blut für griechische Bürger“ versucht hat sich als soziale Alternative zu deklarieren.

Ganz genau. Unsere Praxis hat einen sehr starken antirassistischen und antifaschistischen Charakter. Während der Aktionen der Goldenen Morgenröte haben wir in der kompletten Stadt Plakate gegen ihre Aktionen aufgehangen. Wirklich überall. Wir haben Pressemitteilungen veröffentlicht und uns an den Demonstrationen gegen diese Aktionen beteiligt. Wir haben natürlich auch viel innerhalb und außerhalb der Praxis darüber gesprochen. Also ja Antirassismus und Antifaschismus sind zentrale Prinzipien unserer Klinik und in anderen Kliniken innerhalb der Vernetzung.

Welche staatlichen Reaktionen gibt es auf euer Projekt?

Es gab ein paar indirekte staatliche Reaktionen. Von Anfang an haben wir gesagt, dass es uns nicht nur nicht interessiert ob wir legal sind, sondern das wir illegal bleiben möchten. Wir haben nie versucht vom Staat irgendwelche Erlaubnisse oder irgendeinen Status zu bekommen. Einmal wurde uns der Strom abgestellt. Aber angeblich war es ein Fehler und es dauerte nur ein paar Stunden. In einigen Praxen haben wir auch Medikamente die Wirkstoffe enthalten welche stark kontrolliert abgegeben werden. Beispielsweise Opiate und solche Sachen. Wir haben von Anfang an auch solche Medikamente für die medizinische Behandlung verteilt. Das war auch immer öffentlich bekannt. Aber bisher hatten wir deshalb eigentlich noch nie Probleme mit dem Staat. Wir hatten aber auch immer eine große soziale Unterstützung was das betrifft.

Schafft ihr es die Menschen die zu euch kommen zu politisieren? Wie sieht die Zusammenarbeit mit VIO.ME, der Seifenfabrik in Arbeiter_innenselbstverwaltung, aus?

Was die Menschen aus der Nachbarschaft und der Stadt betrifft, versuchen wir so politisch wie möglich zu sein. Sowohl die Praxis als auch die Umgebung ist voll mit unseren Plakaten. Das zeigt schon mal viel über uns und was wir im Kopf haben. Außerdem gibt es eine Gruppe von Menschen, die in der Praxis arbeiten und die Menschen willkommen heißen. Auch dabei geben wir unsere Prinzipien und Vorstellungen im Zusammenhang mit der Krise und dem Gesundheitswesen an alle weiter. Wir haben ja auch Demonstrationen außerhalb der Krankenhäuser gemacht. Wir haben alle unsere Patienten benachrichtigt und sie eingeladen daran teilzunehmen damit sie sich auch politisch entwickeln können. Allerdings hatten wir bei den Patienten keinen großen Erfolg. Während der Krise gibt es leider die Mentalität, dass die Menschen sich hilflos fühlen und nach Hilfe suchen.

Mit VIO.ME ist das eine ganz andere Sache. Innerhalb der Fabrik gibt es ebenfalls eine solidarische Praxis. Die Arbeiter_innen waren von Anfang an stark politisch. Die Praxis wendet sich an die Arbeiter_innen in der näheren Umgebung. Natürlich auch mit einer starken politischen Ausprägung. Das ist wirklich eine ganz andere Sache als mit unseren Patienten in der Stadt.

Was denkst du woran es gelegen hat, dass die Politisierung eher gescheitert ist?

Puh, das ist eine riesige Diskussion. Natürlich wäre die einfachste Antwort, dass wir es nicht richtig gemacht haben. Man könnte auch denken, dass die Menschen die während der Krise Probleme bekommen, versuchen irgendwelche Lösungen für ihre Probleme zu finden. Aber nach 30 oder 40 Jahren mit der Mentalität, dass du auf einem Sofa sitzt und alle deine Probleme vom Staat gelöst werden und du nur jedes vierte Jahr zu den Wahlen gehen musst und alles weitere wird gelöst, nach so langer Zeit ist es sicherlich nicht leicht zu glauben, dass man seine persönlichen Probleme allein lösen kann. Vielleicht brauchen wir noch mehr Zeit, denn die Mentalität ist nicht so leicht zu ändern, denke ich. Wir müssen politisch sicherlich noch mehr in diese Richtung arbeiten.

Es ist sicherlich auch schwierig klar festzustellen was Politisierung heißt. Heißt es an Demonstrationen teilzunehmen und heißt es sein Denken grundlegend zu ändern?

Ich denke alles. Also zum Beispiel waren unsere Demos fast bürgerliche Demos außerhalb der Krankenhäuser. Unsere Patienten sind oft arbeitslos. Wir haben in den Tagen davor SMS geschickt um sie einzuladen, aber dann sind nur 50 Patienten mitgekommen obwohl wir jeden Monat 2000 Patienten sehen, dass macht keinen Sinn. Man erwartet viel mehr Menschen. Aber die Mentalität ist auch sehr wichtig und da sehen wir einen Unterschied bei den Menschen die bei uns mitmachen. Wir sind ein offenes Projekt. Du ließt einfach unsere Texte und wenn es dir gefällt kommt du vorbei und machst mit. Da haben wir auch gesehen wie viele Menschen sich innerhalb von 2 Jahren politisch ändern. Das ist sehr wichtig

Wenn Leute euch unterstützen wollen zum Beispiel durch Medikamentenspenden oder so wie soll das ablaufen. Sollen sie euch kontaktieren oder sollen sie einfach sammeln und mitbringen. Wie kann denn so was auch praktisch aussehen?

Wir haben eine viersprachige Webseite und dort gibt es eine Liste mit den Medikamenten die wir aktuell brauchen. Diese Sachen können dann natürlich auch gern hergebracht werden. Die Leute können auch über die Bank, leider über die Bank, oder persönlich Geld spenden. Wenn Leute die Praxis besuchen wollen, dann können sie einfach vorbei kommen. Die Praxis ist ja offen. Wenn allerdings Gruppen kommen wollen, wäre es gut vorher Bescheid zu sagen, damit wir Bescheid wissen. Die Vollversammlungen sind ebenfalls offen. Da können Interessierte auch gern hinkommen. Das ist alles möglich.

Es gibt ja viele Gruppen aus Deutschland und aus anderen Ländern die euch besuchen. Habt ihr das Gefühl, dass es größtenteils einen ehrlichen Austausch gibt oder ist es eher eine Art Revolutionstourismus, wie ihn beispielsweise die Zapatisten schon kritisierten? Gibt es mit solchen Gruppen auch einen ehrlichen Austausch darüber was die griechischen Verhältnisse auch mit ihnen zu tun haben und wie ein gemeinsamer Kampf aussehen kann?

Es gibt alles. Es gibt Menschen die einen solchen revolutionären Tourismus zu uns machen, dass stimmt oder ist zumindest mein Eindruck, aber es gibt auch andere Gruppen und andere Menschen, die mit einer ganz anderen Mentalität kommen. Die verstehen ganz andere Sachen wenn sie diese Projekte sehen und die helfen dann in ihrem Land auch mit für die selbe Sache zu kämpfen egal welcher politischen Richtung sie angehören. Das finde ich auch sehr wichtig. Eigentlich finde ich fast alles sehr wichtig, denn die Menschen müssen herkommen und verstehen was die Krise genau ist. Das Menschen an der Krise sterben. Aber noch wichtiger ist, wenn die Menschen verstehen was hier los ist und in ihrem Land weitermachen. Und natürlich kann man hier auch sehen wie die Selbstorganisation praktisch funktionieren kann. Das es sehr sehr gut funktioniert.

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