Bürgerlicher Antiimperialismus und bürgerlicher Kommunismus als Revolutionsblockade. Zur Rojava-Debatte

12. Oktober 2016

Die kurdischen Kräfte in Rojava/Demokratische Föderation Nordsyriens und die mit ihnen im Rahmen der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF) verbündeten Kräfte sind mittlerweile weltweit als Helden anerkannt. Sie versuchen rätedemokratisch organisierte Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen und bringen damit als heute einzige wirkmächtige revolutionäre Kraft im Nahostraum die Prinzipien popularer Revolutionen zurück. Im Zuge der Diskussionen über die Invasion der Türkei in Syrien entflammte innerhalb einige Teile der deutschen Linken erneut die Debatte über den Status und die Funktion der kurdischen Kräften und SDF sowie der Revolution in Rojava. Einige „Kommunist*innen“ entblödeten sich tatsächlich, diese gewissermaßen als imperialistische Trojaner darzustellen. Eine solche Herangehensweise ist im besten Fall Verrat am Internationalismus, im schlimmsten Fall als aktive Hemmung eines widersprüchlichen Revolutionierungsprozesses zu begreifen.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Ein ganzer Wust an den schwersten Vorwürfen wird der PKK und YPG/J seitens einiger deutscher Antiimps und Kommunist*innen an den Kopf geworfen: da ist die Rede von „proimperialistische[m] Vorgehen der PKK-Führung“ (Stoodt1), davon, dass die PKK „Abschied vom Antiimperialismus“ (Bina2) genommen habe, ja dass sie gar antikommunistisch [sic!] sei (ebenfalls Bina), dass sie der US-imperialistisch unterstützten Invasion seitens der Türkei aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit dem Imperialismus „Tür und Tor geöffnet“ (Leukefeld3) habe; das Revolutionsprojekt in Rojava hingegen wurde angeblich zum „Anhängsel der imperialistischen In[ter]vention in Syrien und Irak“ (Ulrich4) degradiert.5

Die Argumente und Behauptungen für diese schweren Vorwürfe sind ein alter Schuh für Menschen aus der Türkei oder aus dem Nahen Osten und gehören in der Türkei zum Standardrepertoire von sich selbst zwar als links/progressiv verstehenden Kräften, die aber eher als rechtsaußen geortete Nationalist*innen bezeichnet werden müssten. In der Türkei gehört es zu den Gründungsmythen der kemalistischen Republik, beinahe jeden Aufstand als Machenschaft des Imperialismus zu präsentieren und im Namen des antiimperialistischen Fortschritts auch noch das blutigste Massaker als Einsicht in die Notwendigkeit zu verkaufen: Armenische Aufstände? Machenschaft des französischen und russischen Imperialismus! Kurdische Aufstände? Machenschaft des britischen und US-amerikanischen Imperialismus! In der Türkei exzelliert gerade der Faschist in ML-Kleidern, Doğu Perinçek, darin, diese Position mit Pseudo-ML Allüren getarnt rauf- und runterzubeten. Es ist dieser Faschist, der an dem Tag, als in Cizre Dutzende, vielleicht Hunderte von unbewaffneten Menschen bewusst und barbarisch in den sogenannten „Kellern des Grauens“ vom türkischen Militär massakriert wurden, gesagt hatte: „Dies war einer der schönsten Tage meines Lebens.“ Es ist dieser Faschist, der sich in seinen Blättern als Volksheld feiern lässt, weil er vor dem EuGH dafür streitet, dass es keinen armenischen Genozid gegeben habe. Dieser Faschist optiert für einen Militärputsch, um eine „vollständige Unabhängigkeit“ der Türkei herzustellen. Nicht umsonst unterhält er beste Beziehungen zum ganzen Dreck an Militärgeheimdienstlern, Massaker-Generälen und Offizieren des türkischen Militärs. Nicht umsonst unterstützt er mit wehenden Fahnen die „antiimperialistische“ aber in Wirklichkeit militärfaschistische Diktatur von Sisi in Ägypten. Zusätzlich feiert er die derzeitig stattfindende türkische Invasion Nordsyriens ab – als antiimperialistische Aktion! Und all das gibt dieser Faschist als Antiimperialismus und Marxismus-Leninismus aus. Dazu gleich mehr.

Nach dieser „antiimperialistischen“ Lesart jedenfalls ist der Imperialismus der Gott und die Völker seine Knete. Natürlich ausgeschlossen das eigene Volk, das ist natürlich ganz besonders revolutionär und antiimperialistisch. Oder irgendwelche antirevolutionären Drecksregime wie zum Beispiel das syrische, das bisher eher darin exzellierte bei der Zerschlagung der palästinensischen sozialistischen Revolution in Jordanien 1970-71 zu helfen, ein paar Jahre später im Libanon blutig einzumarschieren und alles Fortschrittliche dort zu zerschlagen und wiederum ein paar Jahren später Wirtschaftsberater des englischen und französischen Imperialismus ins eigene Land einzuladen, um das Land neoliberal zu erschließen, was letztlich überhaupt erst zum Aufstand in Syrien geführt hat. Aber hey, im Angesicht von USA und IS und so ist das syrische Regime irgendwie mega antiimperialistisch und deshalb, zumindest objektiv und im Vergleich zum IS oder so, fortschrittlich. Die PKK aber, die ist nur Knete, die hat trotz jahrzehntelanger blutigster und heftigster Auseinandersetzungen und Kriegsführung mit in etwa allen Staaten der Region und allen Imperialisten der Welt … kein politisches Bewusstsein und kommt nicht selbst auf die Idee, dass die USA vielleicht andere Interessen haben als sie selbst! Nur ganz schlaue ML-Theoretikerlein aus Deutschland, die überhaupt keine Geschichte im permanenten Krieg gegen Imperialismus und nationale Unterdrückung aufweisen, sind intelligent und ML-geschult genug, um das einzusehen.

Die Invasion in Nordsyrien: eine fragile internationale Vereinbarung

Nun ist der Witz an diesen deutschen „Kommunist*innen“, dass sie die Debatte um Rojava im Zuge der Syrieninvasion der Türkei starten so à la „die Kurden sind schon selbst daran schuld, weil sie mit dem Imperialismus zusammengearbeitet haben“, aber augenscheinlich nicht den Ansatz einer Ahnung davon haben, warum und wie die Invasion gerade stattfindet. Die totale Begriffslosigkeit gehüllt in Worthülsen kommt am offensichtlichsten bei Leukefeld zum Ausdruck: „Ob gewollt oder nicht, haben die syrischen Kurden der ausländischen Intervention Tür und Tor geöffnet.

Moment mal: Warum genau sind die Kurd*innen eigentlich Schuld daran, dass die Türkei derzeit mit Unterstützung des US-Imperialismus in Rojava/Nordsyrien einmarschiert? Weil die USA einige IS-Positionen bombardieren – das hat möglich gemacht, dass die Türkei in Nordsyrien einmarschiert?? Und das wäre ausgeschlossen gewesen, wenn die USA diese Ziele nicht bombardiert hätten?? Oder sind die Kurd*innen gar etwa deshalb Schuld an Einmarsch der Türkei, weil sie überhaupt gegen die Interessen des türkischen wie auch des syrischen Staates gehandelt haben wie das jede/r ordentliche Revolutionär*in machen sollte? Und dass sie das deshalb lieber nicht hätten machen sollen, sprich dass sie aus Angst vor der Reaktion der syrischen und türkischen Bourgeoisie auf ihre revolutionäre Identität hätten verzichten sollen? Die Absurdität und der Verzicht auf jedes revolutionäre Prinzip wird offensichtlich, wenn man diese Logik nur fünf Sekunden weiterdenkt. Wahrscheinlich weil alle möglichen Argumente für die „kurdische Schuld an der Invasion“ politisch betrachtet völlig absurd und selbstvernichtend sind, findet sich weit und breit weder bei Leukefeld, noch bei Stoodt noch bei sonst irgendeinem/r jener deutschen „Kommunist*innen“ und Antiimperialist*innen auch nur ein einziges Argument dazu, warum genau jetzt eigentlich die Kurd*innen selbst daran Schuld sind, dass die Türkei in Syrien einmarschiert und mit Unterstützung des US-Imperialismus ihr Projekt bekämpft (das ja angeblich auch dem Schoß des Imperialismus entspringt). Aber egal, Hauptsache mal irgendwas Ressentimentgeladenes dahin klatschen. Haben die Kurd*innen je die USA oder die Türkei „eingeladen“ nach Nordsyrien? Nein. Wollte die Türkei nicht eh schon die ganze Zeit einmarschieren und hat nur auf den geeigneten nationalen und internationalen Rahmen gewartet? Ja! Kommt das nicht auch dem syrischen Regime und dem US- sowie russischen Imperialismus zurecht? Ja!!

Wie ist die türkische Invasion zu erklären und welche Zwecke werden damit verfolgt? Mit dem Syrienkrieg sah der türkische Subimperialismus die Chance gekommen, die kulturellen, ideologischen und politischen Ressourcen, die sie sich im Nahen Osten bis dahin aufgebaut hatte, zu nutzen und weitaus direkter und auch militärisch vermittelt zur Regionalmacht aufzusteigen. Außerdem war klar, dass die Revolution in Rojava eine unglaubliche Steigerung der Moral und Handlungsfähigkeit der Kurd*innen auch in der Türkei bedingen würde. Einerseits ging es dem türkischen Subimperialismus also darum den eigenen Subimperialismus auf eine höhere Stufe zu heben, andererseits der sich im Anmarsch befindenden Herausforderung der eigenen oligarchischen Ordnung entgegenzutreten. Schnell stellte sich heraus, dass sich die Türkei verkalkulierte und ohne die NATO nicht einen Zentimeter bewegen konnte. Die wurde jedoch vom russischen Imperialismus – flankiert vom iranischen Subimperialismus, sowie auch dem chinesischen – in Schach gehalten, weil der russische Imperialismus sich nach dem Libyenkrieg dazu entschied, die krassen Aggressionen des westlichen Imperialismus weltweit nicht mehr unkommentiert hinzunehmen. Der westliche Imperialismus unter der Führung des US-Imperialismus schwenkte daraufhin um auf eine geschmeidigere Taktik: Das Ziel eines unmittelbaren Sturzes von Assad wurde aufgegeben, gleichzeitig aber dafür gesorgt, dass Syrien auf absehbare Zeit ein Rumpfstaat im permanenten Kriegszustand bleiben würde. Damit würde ein regionaler Konkurrent des US-Imperialismus handlungsunfähig gemacht und im besten Fall dafür gesorgt werden, dass entweder der Rumpfstaat Syrien oder die unzähligen kleinbürgerlich-terroristischen Fürstentümerchen im ehemaligen Staatsgebiet Syriens und des Iraks weiterhin abhängig bleiben würden vom westlichen Imperialismus.

Nun exzelliert der türkische Subimperialismus nicht gerade darin, auf unterschiedliche Szenarien unterschiedlich zu reagieren, auch mal geschmeidig zwei Schritte zurück, einen zur Seite und dann wieder einen bis zwei vorwärts zu tänzeln. Der türkische Subimperialismus ist, wie das in der Türkei immer so schön heißt, wie eine NATO Betonmauer: unbeweglich und stumpf. Entgegen der geänderten Kräfteverhältnisse und der objektiven Situation beharrte die Türkei wie ein sturer Junge darauf, dass in Syrien einmarschiert werden und Assad gestürzt werden muss. Das brachte eine Reihe an sehr, sehr gefährlichen internationalen Krisen (Abschuss des russischen Kampfjets, fast-Einmarsch in Afrîn im Februar 2016 usw.) und Probleme mit der NATO hervor. Diese verschärften zugleich die inneren Krisen in der Türkei, was u.a. zum Putschversuch vom 15. Juli führte, der vom US-Imperialismus im aller mindesten bewusst toleriert und hingenommen wurde bis absehbar wurde, dass er fehlschlägt. Nun hatte der türkische Subimperialismus dann doch irgendwann gecheckt, dass diese völlig selbstüberhebliche Gangart zu viele Krisen hervorbringt und schon kurz vor dem Putschversuch eine politische Achsenverschiebung vollzogen, die sich mit dem Putschversuch beschleunigte: Eine (erneute) Annäherung an Russland und Syrien wurde, in Kontinuität zur traditionellen Außenpolitik der Türkei, gesucht. Auch mit dem Iran ging man wieder ein anderes Verhältnis ein.

Im Inland dagegen, und jetzt kommt unser Faschist in ML-Kleidern, Doğu Perinçik, wieder ins Spiel, hat sich im Zuge der Gesamtentwicklung der letzten Jahre und besonders der letzten Entwicklungen eine neue Bündniskonstellation formiert. Seitdem die Bande zwischen der AKP und der Religionsgemeinschaft des Fetullah Gülen endgültig gerissen waren, musste sich die AKP nach neuen Bündnispartnern im Staat umschauen und fand sie in den ultranationalistischen Militärs, die sie davor selbst gemeinsam mit der Gülen-Gemeinschaft in den Jahren ab 2008 eingeknastet und ausgeschaltet hatte, weil sie Putschpläne gegen die AKP entworfen hatten. Peu à peu wurden ausnahmslos alle eingeknasteten Militärs wieder entlassen und die Schuld der Gülen-Gemeinschaft zugeschoben,6 während mit dem erneut ausufernden brutalen Vernichtungskrieg in Nordkurdistan/Südosttürkei das Militär praktisch rehabilitiert wurde. Nun, mit der Säuberung des Militärs von Gülen-Anhängern und Kemalisten, die mehr der sogenannten „Pazifikfraktion“ zuzuordnen sind, also eine sehr enge Anbindung an die NATO suchen, wurden wieder jene ultranationalistischen Militärs, die eher der „Kaukasusfraktion“ zuzuordnen sind, also eine gute Zusammenarbeit mit Russland, Syrien usw. als strategisch zentral für die Türkei erachten, ins Boot geholt.7 Eine nicht zu unterschätzende Zahl von ihnen sind Anhänger von Perinçek (wie der ehemalige Generalleutnant Ismail Hakkı Pekin, der einst Militärgeheimdienstchef und Mitglied des Generalstabs war) und sehen die Kurd*innen als imperialistische Marionette.

Nehmen wir als ein aktuelles und wichtiges Beispiel den ehemaligen Vizeadmiral Soner Polat, Mitglied bei Perinçeks Vatan Partisi, inhaftiert im Rahmen des Balyoz-Verfahrens, dann irgendwann entlassen und seitdem in Rente aber politisch aktiv. Im Dezember 2015 wird er nach Russland geschickt, unklar in wessen Auftrag und mit welcher Begleitung, um die Krise, die durch den abgeschossenen russischen Kampfjet ausgelöst wurde, zu lösen.8 Dort erzählt er den hochrangigen russischen Verantwortlichen, dass der Abschuss des russischen Kampfjets von der Gemeinschaft des Fetullah Gülen geplant war, und zwar im Namen der USA. Deren Plan sei es, ihre „Landstreitkraft“, d.h. die Kurd*innen in Syrien, zu nutzen, um einen gegen die Türkei und gleichzeitig gegen Syrien gerichteten kurdischen Korridor im Norden Syriens herzustellen. Er hält die russische Seite dazu an, dringend die Beziehungen mit der Türkei wieder zu normalisieren, teilt ihnen mit, dass die PKK/PYD ihre rote Linie darstellt und es auch nicht im Interesse Russlands sein kann, diese „Landstreitkräfte“ der USA zu unterstützen. Polat schätzt aufgrund der Reaktionen der russischen Seite ein, dass die russische Kooperation mit den kurdischen Kräften nur konjunkturell bedingt ist und sie – also er und welche sonstigen hochrangigen Militärs auch immer mit ihm in der Delegation waren – einer der ausschlaggebenden Gründe dafür waren, dass sich die Verhältnisse zwischen der Türkei und Russland wieder normalisiert haben. Ein anderer ehemaliger Vizeadmiral, Cem Gürdeniz9 (ebenfalls Perinçek-Anhänger, ebenfalls eingeknastet mit der Balyoz-Operation, ebenfalls wieder auf freiem Fuß) spricht davon, dass die USA ein „zweites Israel“ im Norden Syriens mit dem Namen Kurdistan planen, das die strategische Position der Türkei zerstören würde und auch gegen die Interessen Russlands und des Iran gerichtet sei.

Mittlerweile sind diese angeblichen Kemalisten, in Wahrheit jedoch Militärfaschisten, soweit, dass sie – die AKP für antiimperialistisch und antiislamistisch erachten! So ist derselbe Cem Gürdeniz der Meinung, dass der Kampf gegen den Putsch eine islamistische Diktatur verhindert habe, dass Erdoğan mittlerweile einsehe, dass die „atlantische Entität“ (also die USA und ihre „Agenten in der Türkei“) versuche Chaos in der Türkei zu stiften und dass sie nun alle im selben Boot sitzen und den Staat retten müssen. Perinçek, der ein harter Kemalist und ergo islamfeindlich bis zum Anschlag ist und noch vor kurzem die AKP als Agent des US-Imperialismus bezeichnete, bricht sich halb den Hals in seinen Argumenten: Die AKP habe Fehler gemacht, aber nun eingesehen, welche Spielchen der US-Imperialismus in der Türkei spiele und sich in eine Front gegen den US-Imperialismus eingereiht.10 Erdoğan werde mittlerweile von den patriotischen Kräften der Türkei kontrolliert.11

Klara Bina und Stoodt mahnen in ihren jeweiligen Artikeln alle möglichen Linken, darauf zu achten, welche Flanken sie gegenüber rechten Strömungen öffnen könnten. Dabei sollten sie selbst mal darüber nachdenken, ob sie nicht vielleicht eine Flanke in Richtung der Perinçeks öffnen könnten. Den sogenannten „Antiimperialisten“ im Solidaritätskommittee für Syrien (SKFS) in Frankfurt am Main hingegen ist nichts mehr zu empfehlen: Sie arbeiten schon mit der TGB zusammen, die de facto eine Tarnorganisation von Perinçeks Vatan Partisi ist und auch mal gerne mit den Grauen Wölfen kollaboriert und das dann eine revolutionäre, antiimperialistische Volksfront nennt. In Wahrheit ist dies nichts anderes als eine Querfront.

Mit diesen neuen faschistischen Militärs im Boot wurde das Diplomatiegewitter fortgesetzt. Mehrmals reisten hochrangige AKP-Kader nach Moskau, Damaskus und Teheran. Und just darauf findet der Einmarsch in Syrien statt mit der Begründung, die „territoriale Integrität Syriens zu wahren“ und den „Terror zu stoppen“. Wir erinnern uns, dass es noch bis vor ein paar Monaten aus allen türkischen Staatskanälen scholl: „Nieder mit dem blutrünstigen Diktator Assad! Einmarsch jetzt!“ Umgekehrt hatten die USA bisher stets abgelehnt, jedwede türkische Invasion in Nordsyrien auch nur ansatzweise zu unterstützen, Russland hatte seit dem Abschuss des Bomberjets damit gedroht, jede erneute feindliche Handlung mehrfach zu kontern, Iran, die (libanesische) Hisbollah und Syrien drohten der Türkei mit Krieg bei einer eventuellen offensiven Aktion seitens der Türkei. Was jetzt passiert, ist, dass die Türkei von der ersten Minute an mit Unterstützung der USA im Norden Syriens einmarschiert, was offensichtlich auch mit Russland, dem Iran, der Hisbollah und Syrien abgestimmt ist, denn sonst hätten alle die Sanktionen und Konterattacken stattgefunden, die noch bis vor Kurzem angekündigt worden waren. Es ist offensichtlich, dass diese Invasion auf Grundlage einer (obzwar fragilen) Vereinbarung zwischen allen beteiligten Parteien gegen die kurdischen Kräfte stattfindet. Gegen den IS geht es so gut wie gar nicht. Übrigens: Doğu Perinçek feiert die Invasion ab12 – wisst ihr das eigentlich, oh ihr mega radikalen Antiimperialisten, die ihr im SKFS mit diesen Leuten zusammenarbeitet? Perinçek erklärt sich das so: Die Türkei sei da in einen „amerikanisch-israelischen [sic!] Korridor“, also Rojava, einmarschiert und habe die Pläne des US-Imperialismus im Bündnis mit dem Iran, Russland und Syrien zerstört. Dass das türkische Militär das gemeinsam mit US-aufgerüsteten jihadistischen Mörderbanden macht, erklärt sich Perinçek wie folgt: Es sei auch für Syrien besser, wenn diese Gruppen gemeinsam mit der Türkei gegen den „amerikanisch-israelischen Korridor“ kämpften, denn dann wären sie nicht mehr Instrumente des US-Imperialismus sondern auf der richtigen Seite, für die Einheit Syriens.

Woraus erklärt sich diese Achsenverschiebung der internationalen Konstellation? Einerseits machte die AKP (vorerst) einen Schritt zurück: Sie konnte ihre Maximalforderungen bezüglich Syrien nicht durchsetzen, wurde selbst zersetzt von Krisen, brauchte eine Erfolgsmeldung und die Fortschritte der kurdischen Kräfte in Nordsyrien wurden zu einer großen Gefahr für sie. Das Projekt Rojava zu zerschlagen oder zu beschränken rückte somit in den Vordergrund und drängte die Forderung nach einem Sturz von Assad in den Hintergrund. Diese Konzession an Assad, Russland und Iran ersieht man daraus, dass plötzlich von der „Wahrung der territorialen Integrität Syriens“ die Rede ist. Auch hochrangige iranische Quellen bestätigen, dass es zwar immer noch größte Differenzen zwischen Ankara, Teheran, Moskau und Damaskus gäbe, man sich aber zumindest mal auf die Einheit und Souveränität Syriens geeinigt habe.13 Die USA sind gewillt, das Spielchen der Türkei mitzuspielen, um sie, gerade auch wegen dem fehlgeschlagenen Putsch, wieder etwas zahmer und NATO-tauglicher zu machen.14 Russland stimmt dem zu, weil bzw. solange es nicht gegen Assad geht, sondern gegen ein Projekt, das die bestehende bürgerliche Ordnung Syriens in Frage stellt, also gegen Rojava/die Föderation Nordsyrien. Iran aus demselben Grund, und hinzu kommt, dass eine Erstarkung der kurdischen Kräfte automatisch auch eine Erstarkung derselben im Iran bedeuten würde. Alle diese Kräfte sind sich zusätzlich einig darüber, dass die revolutionären rätedemokratischen Ansätze in Rojava nicht weiter gedeihen sollen und dieses Projekt auf Schritt und Tritt behindert und beschränkt werden muss, damit im Nahen Osten nicht eine Alternative entsteht, die sich gegen die einen wie die anderen Imperialisten stellt und auch mit den lokalen Regimen und Kollaborateuren abrechnet. Konflikte zwischen den „Vertrags-“parteien stellen sich genau dann ein, wenn es nicht mehr um das einheitliche Interesse (= Beschneidung eines revolutionären Projekts), sondern um die Differenzen geht (z.B. wenn die Türkei versucht, wieder mehr Initiative und Bestimmungsmacht zu erlangen und wieder zu eigenwillig gegenüber der NATO zu werden resp. gegen das syrische Regime zu wettern).

Warum erkläre ich so lang und ausführlich die derzeitig stattfindende türkische Invasion in einem Artikel, der diskutiert, welche Rolle die kurdischen Kräfte in Nordsyrien/Rojava haben? Gerade weil die Invasion und die Motivation der an ihnen beteiligten Kräfte aufzeigen, dass die Klassenfeinde und Imperialisten aller Herren Länder wie immer in der Lage sind, eine Gefahr für sie alle genau als solche einzuschätzen, alle Differenzen für einen Moment zur Seite zu stellen und dafür zu sorgen, dass diese Gefahr eingedämmt wird. Der Klassenfeind weiß also, worum’s geht, nämlich gegen ein revolutionäres Projekt. Nur unsere Damen und Herren Revolutionäre aus den imperialistischen Zentren kommen mit der unglaublich tiefen Belehrung, dass jenes revolutionäre Projekt eigentlich … eine pro-imperialistische Angelegenheit sei!!

Öcalan, quasi-Agent des US-Imperialismus?

Niemand ist so bekloppt und würde behaupten die OHL wäre revolutionär gewesen, weil sie Lenin in den Zug nach Russland setzte. Komischerweise sind aber eine Reihe an „Revolutionären“ bekloppt genug zu behaupten, die kurdischen Kräfte seien proimperialistisch, allein weil sie Waffenunterstützung von den Amis erhalten. Natürlich passt in diesen verkrusteten Schematismus nicht hinein, dass sich die YPG/J auch Waffen vom Iran, von Russland und vor allem auf dem Schwarzmarkt besorgen und es im Prinzip nur Luftunterstützung und zum Großteil leichte Waffen sind, die sie von den US-Amerikanern bekommen. Dazu gleich mehr. Schauen wir uns die „Argumente“ der Super-MLler an. Sie quellen über vor Unwissenheit und Ignoranz.

So wird als Hauptargument immer zuerst eine Passage von Öcalans Verteidigungsschrift Bir Halkı Savunmak (auf deutsch: Jenseits von Macht, Staat und Gewalt) aus den Jahren 2003 bis 2004 zitiert. Hier bezieht sich Öcalan anscheinend positiv auf das US-imperialistische Projekt eines Greater Middle East Projects und scheint dem ganzen zuzustimmen.

Stoodt zum Beispiel ist so dermaßen frei von Geschichtsbewusstsein, dass er die Passage auf 2010 datiert, wo niemand mehr sowas in der kurdischen Befreiungsbewegung verteidigte. Um die Zeit rum (2011) hieß es stattdessen bei Öcalan: „In the Middle East, democracy cannot be imposed by the capitalist system and its imperial powers which only damage democracy.“15 Stoodt scheint auch nicht den Ansatz eines Schimmers davon zu haben, was, erstens, in den damaligen Jahren, also Anfang der 2000er, mit der kurdischen Bewegung und vor allem was, zweitens, danach mit der kurdischen Befreiungsbewegung passierte.

Zu ersterem. Öcalan war gerade frisch inhaftiert, die PKK versuchte zu überleben und zog sich aus der Türkei zurück. Kurz vor seiner Inhaftierung schlug Öcalan schon eine neue Taktik ein: Es sollte, zuzüglich zur Guerilla, unter anderem um die Bildung einer breiten demokratisch-politischen Front für die kurdische Sache gehen, die auch verknüpft wurde mit einer diplomatischen Offensive im Ausland. Parallel wurde die Perspektive der Gründung eines eigenen kurdischen Staates aufgegeben, stattdessen auf eine demokratische Revolution in den jeweiligen Ländern, in denen die „kurdische Frage“ aktuell war, gesetzt, die bürgerliche wie auch sozialistische Elemente enthielt. Im Sinne der diplomatischen Offensive wurde, wo man sich an die demokratischen Gesellschaften und Elemente des Westens (in der Türkei wie auch global betrachtet) wandte, ein moderaterer, stärker Demokratie und Menschenrechte und dergleichen betonender Diskurs angewandt. Wenn nun Kommunist*innen in allen Herren Ländern zuzüglich zur kämpfenden ML-Kaderpartei eine breite Front an demokratischen Massenorganisationen bilden (oder das zumindest versuchen), die weitaus weniger offensichtlich marxistisch-leninistisch reden, sondern sich in Kämpfe um demokratische Rechte engagieren und teils auch daran orientiert sind, die demokratischen Teile der Kleinbourgeoisie auf die eigene Seite zu ziehen oder sie wenigstens zu neutralisieren, dann gilt das als revolutionärer, taktischer Meisterzug. Macht das die kurdische Befreiungsbewegung, ist das „pro-imperialistisch“!

Zweitens: Dass die Art und Weise der Diskursanpassung und Veränderung der Ideologie in puncto Taktik (z.B. nicht weiter ausgeführter positiver Bezug auf das Greater Middle East Project) wie auch Strategie (z.B. Verzicht auf expliziten Klassenantagonismus) seitens der kurdischen Befreiungsbewegung teils zu weit ging und geht und dies mittel- bis langfristig gravierende Probleme hervorbringen kann, ist ein Punkt, an dem vermutlich Übereinstimmung unter Marxist*innen besteht (siehe hierzu weiter unten den Abschnitt: „Die Revolution in Rojava und ihre Probleme“). Dass allerdings der positive Bezug auf das Greater Middle East Project tatsächlich bloß auf der Diskursebene verblieb und ausschließlich taktisch gemeint war, das hätte man sofort gemerkt, wenn man sich denn wirklich für Geschichte und Politik der kurdischen Befreiungsbewegung interessiert hätte. Denn praktisch betrachtet gab es nur kurz, Anfang der 2000er, eine Gruppe an PKK-Kadern, inklusive einem Bruder von Abdullah Öcalan, Osman Öcalan, die die Verwirrung der damaligen Zeit ausnutzten und versuchten, die PKK auf eine offen proimperialistische Schiene zu ziehen.16 Osman Öcalan begab sich mit seinen Unterstützern in die Obhut der USA in Mosul und schlug der USA Kooperation vor. Er kritisierte die zu enge Anbindung der PKK an türkische Sozialist*innen und verlangte ein stärkeres Beharren auf der kurdischen nationalen Identität und glorifizierte im Zuge dessen die von ihm „demokratischer Kolonialismus“ genannte Irak-Invasion der USA. Abdullan Öcalan bezeichnete diese Wendung als „Verrat“ und als eine „gefährliche rechte nationalistische Linie“ und hob hervor: „Lösungen, die auf den USA oder irgendeiner ausländischen Macht beruhen, sind nicht von Dauer.“ Was mit der „Rechtsabspaltung“ aus der PKK im Folgenden passierte (unabhängig davon, ob man die Methoden des Umgangs mit dieser Rechtsabspaltung für gut oder verachtenswert erachtet), lässt eigentlich nur sehr eindeutige Schlüsse auf die politische Ausrichtung der PKK zu: Wichtige Führungspersönlichkeiten wurden physisch liquidiert, der Rest aus der Organisation ausgestoßen und ins Exil verbannt. Cemil Bayık, Murat Karayılan, Duran Kalkan und andere alte, sozialistisch ausgerichtete und seit jeher im engen Bündnis mit der revolutionären Linken in der Türkei stehende Kader übernahmen das Ruder und brachten die PKK wieder auf eine eigenständige, revolutionäre Linie. Abdullah Öcalan kritisierte hingegen noch 2013 die PKK dafür, dass sie damals nicht gesehen habe, dass da ein großes Spiel der USA, des Iran und Israels am Laufen war. Er kritisiert sie auch dafür, dass sie seinen eigenen Bruder nicht für den Verrat umgebracht haben, den er beging.17 Stoodt hatte 13 lange Jahre Zeit, diese Geschichte nachzuvollziehen. Wenn er dies nicht getan hat, dann offensichtlich aus Desinteresse an einer wirklichen Beschäftigung mit der kurdischen Befreiungsbewegung und dem stattdessen vorhandenen Interesse, dieselbe als (objektiven) Agent des US-Imperialismus zu diffamieren.

Die Schlacht um Kobanê und die Rolle der USA

Fast forward zu Rojava und der Einmischung der USA. Auch hier folgt auf Seiten der ML-Propheten und Nahostexperten wieder Schematismus auf Schematismus, Schablone auf Schablone: Die USA wollen den Nahen Osten und die dort existierenden angeblich widerständigen Staaten spalten und nutzen dafür ethnische Konflikte aus. „Die Kurden“ sind ein Vehikel dieser Interessen. Unter dieser Schablone werden alle gravierenden Differenzen zwischen den unterschiedlichen kurdischen Fraktionen nivelliert („ist doch eh alles dasselbe“) und Geschichte interessiert einen erst recht gar nicht mehr. Schöne Schablone – und eine intellektuelle Bankrotterklärung für Marxist*innen.

Wer sich für Geschichte interessiert, wie sich das für Marxist*innen gebührt, der fragst zuerst nach: Warum unterstützen die USA eigentlich seit Jahrzehnten den Barzani-Clan – aber bisher noch nie die PKK oder PKK-nahe Organisationen? Warum und vor allem: wann kamen die USA dazu, PKK-nahe Kräfte doch zu unterstützen und in welchem Format?

Die Antwort auf die erste Frage halte ich kurz und reduziere mich auf das, was eigentlich zum ABC einer/s jeden aktiven Marxist*in betreffs dieser Frage gehören müsste, noch einmal kurz zu wiederholen: Der Barzani-Clan war von Anfang an dynastisch-bürgerlich ausgerichtet und installierte eine dynastisch-kapitalistische Ordnung im Nordirak, die prima mit allen Kapitalist*innen der Region und allen Imperialist*innen zusammenarbeitet und mit diesen auch oft genug gegen die PKK Krieg geführt hat. Die PKK hingegen war lange Zeit eine offen sozialistische Organisation, die nebst der nationalen Befreiung der Kurd*innen das Modell einer demokratischen Revolution, die sich in eine sozialistische hinein entwickelt, verfolgte. Zwar hat sich ideologisch einiges bei der PKK geändert, eine Herausforderung für die kapitalistische Ordnung der Türkei und ihrer Funktion im imperialistischen Gefüge der NATO bildet sie aber nach wie vor. Deshalb wurde die Türkei im Krieg gegen die PKK stets aktiv vom US-amerikanischen, aber auch vom bundesdeutschen Imperialismus und auch von Israel unterstützt.

Was hat sich nun geändert, wann fingen die USA an, PKK-nahe Organisationen, also YPG/J und PYD, zu unterstützen? Wenn man sich das genauer anschaut, dann ist das Erste, was einem unmittelbar auffällt, der Umstand, dass die USA die YPG/J und PYD lange Zeit nicht unterstützten. Noch in der Hochphase der Schlacht um Kobanê, also Ende 2014, als die Stadt vollständig vom IS umzingelt wurde und kurz davor war, überrannt zu werden, ließen sich die USA nur zu lahmen Solidaritätsbekundungen herab: Man habe zwar vollste Sympathie für den heroischen Kampf der Kurd*innen gegen den IS, die eigenen militärischen Prioritäten lägen aber darin, dafür zu sorgen, dass der IS keine sicheren Gebiete mehr besitzt, was bedeuten würde, dass die ökonomischen Quellen des IS, also die Ölförderungsanlagen und dergleichen, zerstört werden müssten (Jen Psaki, Sprecherin des US-Außenministeriums am 8. Oktober 2014).18 Ähnliches sprach am 12. Oktober 2014 der US-amerikanische Außenminister John Kerry: Was in Kobanê passiere sei tragisch, definiere aber nicht die Strategie der internationalen Koalition im Kampf gegen den IS. Der Fokus müsse auf den Irak gelegt werden.19 Das interessierte weder PKK, noch YPG/J und PYD. Keiner von ihnen verlangte im Ernst irgendwas von den USA. Worauf sie vor allem drängten, war, dass die Grenzen seitens der Türkei geöffnet werden, so dass PKK-Militante mit Waffen nach Kobanê hätten rübergehen und die Schlacht wenden können.20 Natürlich erlaubte die Türkei das nicht, stattdessen stellte sich Erdoğan hin und meinte genüsslich: „Kobanê ist bereits verloren.“ Die Ereignisse, die darauf folgten, und die Bedeutung, die sie für die Schlacht um Kobanê aber auch für die Türkei hatten, mögen Linke in imperialistischen Zentren wieder vergessen haben. Vielleicht aber haben sie sich in Wirklichkeit auch einfach nie dafür interessiert. In der Türkei weiß das allerdings noch jeder. Der serhildan, kurdisch für Volksaufstand, vom 6. bis zum 8. Oktober 2014 brachte die Wende. Hunderttausende Kurd*innen gingen in allen mehrheitlich kurdischen Städten im Südosten der Türkei/Nordkurdistan auf die Straßen und demonstrierten für Kobanê. Hier wurden zum ersten Mal Gräben ausgehoben und Barrikaden aufgebaut, die städtische Jugendmiliz der PKK, die YDG-H, lieferte sich schwere Auseinandersetzungen mit der türkischen Hizbullah, mehr als 50 Menschen starben. Die PKK sprach eindeutige Worte: Entweder geschieht was oder wir entfesseln die Hölle auf Erden.21 Erst hierauf änderten die USA ihre Haltung: Plötzlich fingen sie an, IS-Stellungen intensiver zu bombardieren, zaghaft einige Waffen und Munition über Kobanê abzuwerfen und sie sorgten dafür, dass 150 Peschmerga Barzanis mit schweren Waffen über die Türkei nach Kobanê geschleust wurden. Der PKK selbst wurde nichts erlaubt.

Das war ein recht kluger Schachzug des US-Imperialismus, der eigentlich auch im Sinne des türkischen Subimperialismus war: Die USA konnten es sich nicht leisten, ein unglaublich wichtiges NATO-Partnerland wegen der politischen Idiotie und Borniertheit eines bestimmten Regimes (Stichwort: „NATO-Betonmauer“) in einen ausufernden Bürgerkrieg degenerieren zu lassen, der die gesamte Ordnung des Landes in unberechenbarer Art und Weise destabilisiert hätte. Außerdem hatten sich die YPG/J und PYD bei allen demokratisch gesinnten Elementen der Völker der Erde einen Stand als Held*innen der Menschheit errungen. Unter solchen Umständen, wo also absehbar war, dass ein unerwünschtes revolutionäres Projekt nicht direkt zerschlagen werden konnte, optierte die USA für eine softere Option der Revolutionsbekämpfung, nämlich für den Versuch, die Revolution zu integrieren und von innen heraus zu zersetzen. Deshalb die Barzani-Peschmergas statt PKK-Guerillas.22

Nun hätten die PKK, YPG/J und PYD natürlich auch wählen können, zwecks Befriedigung unserer 1-2 ML-Apostel und Antiimp-Helden aus den imperialistischen Zentren, auf die militärische Unterstützung der USA zu pfeifen (als ob das die USA gejuckt hätte und sie sich dann nicht eingemischt hätten!23) und sich zu Abertausenden vom IS abschlachten zu lassen. Aus völlig unerfindlichen Gründen entschieden sie sich allerdings gegen diese Option. Die Rechnung der PKK und YPG/J dabei war und ist: Wenn die uns unterstützen, solange wir gemeinsame Ziele haben (Bekämpfung des IS), schön. Wenn sie uns nicht unterstützen, auch schön; wir machen unser Ding in jeder Hinsicht weiter, egal ob mit, ob ohne, oder vielleicht sogar gegen die. Und während die versuchen uns zu integrieren, nutzen wir das Minimum an Anerkennung, das uns dieser Integrationsversuch bringt, dazu aus, unser Projekt weiter zu festigen und sogar auszuweiten, zum Beispiel in den Nordirak hinein.

Sind die YPG/J und PYD Anhängsel des US-Imperialismus geworden?

Mit den Erzfeinden auf der Hochzeit zu tanzen braucht Disziplin, Willen und Macht. Man muss Karten in der Hand halten, die das Spiel bestimmen können, sonst geht man sang-, klanglos und vollständig unter. Wie zum Beispiel SYRIZA in Griechenland, die mit der EU tanzen wollte, aber nichts in der Hand hielt außer moralischen Appellen. Hat man die Macht, kann man tanzen und, wo man fähig genug ist, siegen. Wie zum Beispiel Lenin, als er das Angebot der OHL und später die Waffen der britischen und französischen Imperialisten gegen den deutschen Imperialismus annahm; oder Stalin, der sich auf die Koalition mit den antikommunistischen alliierten Imperialisten einließ, um erneut den deutschen Imperialismus zu vernichten, obwohl die Allierten anfangs megaglücklich darüber waren, dass der deutsche Imperialismus auf die Sowjetunion losging.

Von Anbeginn visierten Öcalan und die PKK an, alle nur erdenklichen zwischenimperialistischen Widersprüche auszunutzen und mit jedem Schweinehund Kontakte aufzunehmen, solange es nur die eigene Sache voranbringt oder die Schweinehunde gegeneinander ausspielt. Und das alles im vollsten und klarsten Bewusstsein darüber, dass fast alle involvierten Parteien das Revolutionsprojekt in Rojava bis ins Mark hassen und übelste Schweinehunde sondergleichen sind. Wäre man daran interessiert zu untersuchen, wie Öcalan, die PKK und YPG/J und PYD hierüber denken, hätte man sehr schnell fündig werden können. Augenscheinlich wollten oder konnten das unsere ML-Aposteln und Antiimp-Helden aus den imperialistischen Zentren nicht.

Sie sehen nicht einmal, dass die YPG/J und PYD mit allen Schweinehunden gleichzeitig tanzen, um sie gegeneinander auszuspielen und selbst davon zu profitieren, sondern kreischen immer dasselbe: „US-Imperialismus! US-Imperialismus! US-Imperialismus!“24 Dabei stellen sie mal kurzerhand die Behauptung auf, die Kurd*innen seien vollständig vom US-Imperialismus abhängig und verfolgten nur dessen Ziele:

Beim MLer Hans Christoph Stoodt heißt es: „PKK und YPG sind ein militärisch-politisches Bündnis mit den USA und ihren Verbündeten eingegangen, das weit mehr ist als eine zeitweilige taktische Übereinstimmung gegen den IS.“

Beim Antiimperialisten Jörg Ulrich heißt es: „Die Ausrichtung auf eine militärische Lösung der kurdischen Frage hat die kurdische Befreiungsbewegung letztlich zum Anhängsel der imperialistischen Intervention in Syrien und Irak gemacht. Die vorübergehenden blutig erkämpften militärischen Erfolge der YPG haben diese letztlich völlig abhängig von der militärischen Unterstützung der USA gemacht und sie hat dadurch auch große Teile ihrer politischen Selbstbestimmung abgeben müssen.“

… usw. usf. Aber wo ist die Begründung, wo die Argumente, Beweise, Beispiele für diese schweren Vorwürfe und Behauptungen, dass es um viel mehr ginge als Waffen und begrenzte Militärkooperation??! Nirgends! Die YPG/J haben viel mehr ex-sowjetische Waffen als amerikanische und auch die Russen haben für die Kurd*innen bombardiert. Heißt das, sie arbeiten vielleicht doch viel eher für den russischen als für die US-amerikanischen Imperialismus?! Oder für alle gleichzeitig? Verwirrung, wohin das Auge blickt, wenn man die bürgerlich-antiimperialistische Brille konsequent aufsetzt.

Aber das machen unsere deutschen „Nahostexpert*innen“ und „Antiimperialist*innen“ auch gar nicht. Für sie zählt: Hauptsache mal wieder irgendwas dahin geklatscht so frei nach dem türkischen Sprichwort „çamur at izi kalsın“ (sinngemäß übersetzt in etwa: „ Bewirf deine Feinde mit Schlamm und es wird zumindest einen Fleck hinterlassen.“) Es drückt sich darin nichts anderes aus als das kleinbürgerliche Ressentiment, dass man in der Weltgeschichte absolut gar nichts zu pfeifen hat, obwohl man sich selbst doch per unglaublich tiefer Einsicht in den „ML“ die Funktion der Avantgarde der proletarischen Weltrevolution zugeschrieben hat, es aber gerade diejenigen Linken sind, die in der Weltgeschichte mitmischen, die nicht „ML“ sind und für jene selbst zugeschriebene Weltrevolutionsführungsrolle irgendwelcher arroganter Linker aus imperialistischen Zentren im besten Fall ein müdes Lächeln übrig haben.

oder nutzen sie zwischenimperialistische Widersprüche aus?

Schauen wir uns zuerst einmal en détail an, was die kurdischen Kräfte denn selbst sagen, wie sie den Imperialismus und die Situation im Syrienkrieg einschätzen und mit wem sie warum und in welchem Umfang zusammenarbeiten.

Fangen wir an mit Öcalans politischer Haltung. Wer sich für diese interessiert, wird sich wohl den Inhalt der Gespräche anschauen, die Öcalan im Zuge des Verhandlungsprozesses mit dem türkischen Staat in den Jahren 2013 bis 2015 mit einer HDP-Delegation und mehreren staatlichen Vertretern auf der Gefängnisinsel Imralı geführt hat. Das über 400 Seiten starke Buch mit dem Titel Demokratik kurtuluş ve özgür yaşamı inşa (imralı notları), das fast alle Treffen von Januar 2013 bis März 2015 beinhaltet, wurde beim Mesopotamien Verlag in Deutschland im November 2015 herausgegeben. Öcalan spricht hier sehr eindeutige Worte zum Verhandlungsprozess, seinem Verhältnis zum türkischen Staat und zu Rojava. Unsere bürgerlichen Kommunist*innen und Antiimps interessieren sich offensichtlich hierfür nicht, denn sie haben die Weisheit mit Löffeln gefressen und brauchen sich das, was sie kritisieren, nicht genauer anzuschauen. Ich fasse im Folgenden Öcalans zentrale Ausführungen zu Rojava und „dem Imperialismus“ zusammen.

Von Anfang an weist Öcalan darauf hin, dass die im Syrienkrieg involvierten internationalen Kräfte beide Seiten (damit meint er im Allgemeinen Regime & Opposition) entlang ihrer jeweiligen Interessen mit Waffen aufrüsten werden und empfiehlt den kurdischen Kräften vor Ort, mit beiden Seiten auf Grundlage der eigenen Interessen Kontakt aufzunehmen.25 Konkreter sagt er, dass man die FSA wie auch das Regime zu Verhandlungen – in Genf26 – zwingen müsse, al-Nusra und Konsorten jedoch seien aus Rojava „rauszuschmeißen“.27 Mit Teilen der FSA könne man sich vielleicht auf der Linie Jarablus-Azaz-al Bab verbünden.28

Der Türkei droht er damit, dass er Verbindungen mit dem Iran intensivieren werde, falls sie sich nicht auf den Friedensprozess einlassen;29 der PKK-Führung in den Kandilbergen empfiehlt er ebenfalls mit dem Iran, Russland „usw.“ Kontakte aufzunehmen, das sei „ihr Recht, sie müssen überleben.“30 Aber weder vom Iran noch von Russland hält er viel und warnt die Genoss*innen vor allem vor dem Iran: Der Iran spiele ein doppeltes Spiel und sei türkei- wie auch kurdenfeindlich zugleich.31 Er versuche den Friedensprozess zu sabotieren und provoziere die Türkei stets dazu, den Krieg mit den Kurd*innen wieder aufzunehmen. Einerseits um die Kurd*innen im Allgemeinen und damit auch die kurdische Bewegung im Iran zu schwächen; andererseits aber, um die Türkei (mittels permanentem Krieg) zu schwächen. Öcalan droht hier dem türkischen Staat:32 Ist euch eigentlich nicht klar, was passiert, wenn dieser Lösungsprozess scheitert? Dann findet hier ein riesiger Krieg statt und wir werden auch vom Iran und von Israel Waffen annehmen müssen, während ihr immer mehr unausweichlich zu einer Puppe der NATO und der Gladio werdet. Ist euch nicht klar, was wir machen müssen, wenn ihr eure Syrienpolitik nicht ändert? Dann müssen wir näher an die Iran-Syrien Achse rücken. Der Iran hält schon den Irak und Syrien, wenn wir auch noch auf diese Linie umschwenken, wird er auch die Türkei übernehmen und die Türkei wird den jahrhundertealten Konflikt mit dem Iran endgültig verlieren.33 Öcalan drückt seine Befürchtung darüber aus, dass ein solcher Krieg, aber auch der Syrienkrieg, sehr schnell zu einem Stellvertreterkrieg ausarten kann.34

Zu Russland sagt Öcalan nicht viel mehr als das schon angeführte, weist aber Ende 2013 darauf hin, dass die Russen, im Gegensatz zum fehlerhaften Verhalten der Türkei, die Kurd*innen unterstützen und nach Genf einluden als Gegengewicht zu den USA und Israel.35 Damals, erinnert man sich, war die Sachlage noch ganz anders, das syrische Regime im Rückzug begriffen und eine internationale Militärintervention unter Führung der USA schien wahrscheinlich. In so einem Moment begriff Russland sehr genau, dass sich die Kurd*innen nicht zu Stellvertretern der USA machen lassen würden und als Gegengewicht zu den USA fungieren würden. Andererseits weiß Öcalan natürlich, dass die Russen ihr eigenes Interesse verfolgen: Er warnt die Genoss*innen Anfang 2014, dass sich Russland und die USA in Genf durchaus entsprechend ihren Interessen einigen könnten und ermahnt sie dazu, selbständig und mit ihrem eigenen Entwurf nach Genf zu gehen.36 Er macht sich keine Illusionen darüber, dass hier Russland irgendwie als revolutionärer Retter oder sowas fungieren könnte.

Was die USA angeht, ist Öcalan sehr eindeutig. Auf den Hinweis von Pervin Buldan, Mitglied der HDP-Delegation auf Imralı, dass ein US-Spezialist Öcalan lobe und darauf hinweise, dass niemand mehr Öcalan im alten Zustand (also in Haft) belassen könne, antwortet Öcalan lachend: „Amerika hat doch eh schon alles gemacht, was zu tun war. Sie haben uns den Krieg erklärt.“37 Seitenlang führt er in den Gesprächen aus, wie die NATO den türkischen Staat step by step ab den 1950ern übernommen und die Konterguerilla zuerst um die MHP herum, dann immer mehr mit Doğu Perinçek und der Gemeinschaft des Fetullah Gülen organisiert hat. Gefühlte zwei Dutzend Mal wiederholt er gegenüber dem Staatsvertreter bei den Gesprächen, dass die Putschistentruppe der NATO-Konterguerilla (Gladio) derzeit wie auch sonst immer dann am aktivsten wird, wenn es um die Lösung der kurdischen Frage geht. Mit allen Mitteln versuche diese Gruppe, diesmal am aktivsten in der Gülen-Gemeinschaft kristallisiert, den Friedensprozess zu beenden, den Krieg wieder aufzunehmen und Erdoğan zu stürzen. Er warnt den Staatsvertreter: Der einzige Weg der Abschaffung der Gladio sei die Lösung der kurdischen Frage und die Demokratisierung des türkischen Staates. Ansonsten würde die Gladio versuchen, Erdoğan wegzuputschen. Ein Jahr nach dem Abbruch der Gespräche mit Öcalan fand dann auch genau das statt: Ein Putschversuch gegen das Erdoğan-Regime.

Aber fokussieren wir uns auf die Rojava-Debatte. Was Kobanê angeht, sagt Öcalan: Na sowas, bis dahin haben sich die USA keinen Zentimeter für Rojava interessiert, plötzlich redet Obama die ganze Zeit darüber.38 Damit lenke er einerseits bewusst von den Massakern in Gaza ab. Andererseits hätten die USA erst am kritischsten Punkt wirkmächtig interveniert, nämlich als Kobanê kurz davor stand zu fallen und die heftigsten Angriffe des IS über die Türkei stattfanden (29. November 2014). Hätte ein Einverständnis mit der Türkei stattgefunden, wäre die Belagerung von Kobanê schon am ersten Tag gebrochen worden. Stattdessen stünde die Türkei jetzt als böser Junge da, die USA aber als guter Cowboy. Es werde somit versucht, bei den Kurd*innen Hoffnung für den Westen zu wecken.39 Dieses Vorgehen der USA bewertet Öcalan wörtlich als „Operation“: Die USA und z.B. auch Frankreich versuchten sich jetzt als die Guten zu präsentieren und die Kurd*innen von Verhandlungen mit der Türkei abzubringen.40 Auf die Interjektion von Sırrı Sürreya Önder (Mitglied der HDP-Delegation), dass Azrael (der Todesengel), also die USA, bisher noch nie jemanden gerettet habe, und von Pervin Buldan, dass jetzt der Slogan „Biji Obama“ („Es lebe Obama“) entstanden sei, reagiert Öcalan zustimmend: Ja, diese Operation sei den USA gelungen.41 Dabei sei der IS doch offensichtlich ein Instrument der USA oder zumindest unter ihrer Kontrolle.42 Es sei deshalb im Prinzip auch egal, ob der IS vernichtet werde, denn ein zweiter IS werde gerade gezüchtet. In weiser Voraussicht sieht Öcalan Anfang 2015 diesbezüglich eine Wiederannäherung zwischen den USA und dem syrischen Regime und warnt die Genoss*innen davor: Die USA und Assad können jederzeit einzeln aber auch gemeinsam gegen euch vorgehen.43 Auch diese Voraussicht bewahrheitete sich, allerdings in dieser Form erst 1,5 Jahre später: Die Jarablus-Militäroperation der Türkei war offensichtlich mit allen internationalen Kräften abgesprochen und stellte eine – obzwar fragile – Interessenübereinstimmung dar. Kurz nach Öcalans Warnung jedenfalls gab es größere Auseinandersetzungen zwischen YPG und dem syrischen Regime in Hasêke: Laut HDP-Delegation hatten sich die Genoss*innen aufgrund der Warnungen von Öcalan auf eine solche mögliche Auseinandersetzung vorbereitet und konterten den Angriff. Öcalan ist der Meinung, dass der Iran hinter dieser Auseinandersetzung stand.44

Auch die PKK-Führung weiß sehr genau, dass alle im Syrienkrieg beteiligten Länder ihre eigenen Interessen verfolgen und niemand die Kurd*innen aus Menschenliebe oder so unterstützt. Besê Hozat, Ko-Vorsitzende der KCK, brachte das im Mai 2016 gegenüber dem LCM trocken auf den Punkt: „[W]as sie [Russland, USA, EU] gemeinsam haben [ist]: Eine pragmatische Politik, eine Kurd*innenpolitik, die auf ihren eigenen Interessen beruht. Das gilt für Russland genau so wie für die USA und die europäischen Länder.“45 Im Gegensatz zu unseren deutschen Nahostexpert*innen und ML-Heroes of the Universe weiß die PKK-Führung auch sehr gut, wie genau der US-Imperialismus die Revolution in Rojava unterhöhlen möchte und wer sonst noch Interesse daran hat: In einer Botschaft an Öcalan beim vorerst letzten Treffen mit ihm im März 2015 richteten sie ihm aus, dass die USA und Großbritannien gerade einen Schachzug gegen Rojava planen.46 Sie würden versuchen KDP-nahe Parteien zu stärken und die PKK-nahen Kräfte davon zu überzeugen, die Barzani-nahe ENKS ins Militär aufzunehmen (nach wie vor [sic!] ist in Rojava einzig und allein die YPG/J die anerkannte „offizielle Armee“). Sie würden dazu drängen, den kantonalen Status von Nordsyrien aufzuheben und Nordsyrien zu einem Föderalstaat zu machen, der sich an die KRG im Nordirak anschließen solle. Die PKK-Führung hebt hervor, dass die Imperialisten als „Argument“ hierfür einer massiven Offensive des IS bei Serekaniye zuschauen und nichts unternehmen würden. Sie weist ebenfalls darauf hin, dass sich die Koalitionskräfte hier erneut als Retter inszenieren und sie zu Zugeständnissen zwingen wollen. Öcalan stimmt der Einschätzung zu, lehnt alle Forderungen der Imperialisten (inklusive die Forderung eines unabhängigen kurdischen Staates!) ab und betont, dass die Imperialisten versuchen würden, das zu erreichen, was sie mit Kobanê gerade nicht erreichen konnten, sprich eine vollständige Integration der PKK/PYD in die Ziele und Zwecke der Imperialisten. Die PKK-Führung lässt übermitteln, dass sie sich auf eine solche Offensive vorbereitet hätten und sie derzeit zurückschlagen würden. Ihre abschließende Einschätzung ist die, dass sich die USA, EU aber auch die arabischen Staaten genau dann und immer vehementer gegen den demokratischen Konföderalismus richten und nebst der unmittelbaren Auslöschung des Projekts auch nach Wegen der Integration desselben suchen würden, umso stärker sich der demokratische Konföderalismus bei den Völkern verankert.47 Ebenfalls eine, wie die Geschichte seitdem gezeigt hat, zutreffende und punktgenaue Einschätzung.

Alle einzelnen, voneinander unabhängigen wichtigen Statements der PKK-Führung enthalten inhaltlich pi mal Daumen dasselbe und zwar von Anfang an. Hier eine Auswahl:

Murat Karayılan (damals Führer der PKK, heute Oberkommandierender der Guerilla, HPG) sprach schon im August 201248 davon, dass die kurdischen Kräfte genau so wie die Regimekräfte der Meinung sind, dass es zum wechselseitigen Nutzen ist, wenn sie nicht miteinander Krieg führen. Er weist darauf hin, dass sich die kurdischen Gebiete in ein Blutmeer verwandeln werden, falls sich die kurdischen Kräfte eindeutig für eine der beiden Hauptseiten des Konflikts entscheiden würden und erklärt, dass die von der „offiziellen“ Opposition unabhängig sind.

Sabri Ok, ein Mitglied des ZK der KCK und ehemaliger Verhandlungsführer nach 2009 in Oslo, schätzt im Juli 201349 die veränderte Situation in Syrien so ein: Er hält es für unwahrscheinlich, dass die jihadistischen Gruppierungen je Teil des Machtblocks in Syrien sein können, weil ihre Politik und Ideologie der gesellschaftlichen Struktur Syriens nicht entsprächen, sie deshalb niemals Stabilität herstellen können. Er schätzt ein, dass sich die Situation derart entwickelt, dass weder die Achse USA-EU noch die Achse Russland-China den Krieg in Syrien militärisch gewinnen können, weshalb es immer wahrscheinlicher erscheine, dass die internationalen Kräfte eine Übergangslösung vorschlagen werden im Rahmen dessen auch Elemente der syrischen Opposition in den Staat aufgenommen und ein reformerischer Übergang in ein neues Syrien eingeleitet werde. Ob das angesichts der de facto existierenden Opposition und ihres Vorgehens klappe, hält Ok wiederum für eher unwahrscheinlich und schwierig. Er sollte mit dieser Einschätzung recht behalten. Jedenfalls macht er nochmal den Punkt, dass die kurdischen Kräfte weder der einen, noch der anderen Seite zuzuordnen sind und sich mit allen Kräften an den Tisch setzen, die für ein demokratisches Syrien mit einer freiheitlichen Perspektive für die Kurd*innen einstehen.

Duran Kalkan, Gründungsmitglied der PKK, Verantwortlicher für die Kaderbildung der PKK und Vertreter des revolutionär-sozialistischen Flügels in der PKK, hebt einen Monat später50 hervor: Sie seien weder auf der Seite des Regimes noch auf der Seite des verlängerten Arms der internationalen Mächte, d.h. islamistische Banden und die „offizielle“ Opposition. Er macht klar: Forcieren sie den Krieg, dann forcieren wir ein Bündnis aller Völker gegen imperialistischen Krieg und Machtspiele für Freiheit, Demokratie und Brüderlichkeit. Auch er ist sich im Klaren darüber, dass sich alle regionalen und internationalen Kräfte an einem Punkt einig sind, nämlich darin, gegen das Revolutionsprojekt in Rojava zu sein.

Cemil Bayık, ebenfalls Gründungsmitglied der PKK, mit Besê Hozat gemeinsam die derzeitige Führung der PKK und der Vertreter der „Falken-“fraktion innerhalb der PKK, weist im Dezember 201551 darauf hin: Wir sind weder auf der Seite der USA noch auf der Seite Russlands. Versuchen sie in Rojava einzumarschieren, dann bekriegen wir alle Kräfte, die an der Invasion beteiligt sind und tragen zusätzlich den Krieg in die Türkei hinein.

Bei der Einschätzung seitens der PYD und der YPG sieht es nicht anders aus. Schon bei der Machtübernahme in Rojava 2012 erklärte der Hohe Kurdische Rat (29. Juli 2012): Wir verteidigen die Revolution, aber auf friedlichem Wege; außerdem lehnen wir Separatismus ab.52

Der Oberkommandierende der YPG, Sipan Hemo, sprach im März 201453 eindeutige Worte: Sie möchten ein Vorbild für ganz Syrien sein und hätten von Anfang an gegen die Türkei, die Saudis und die Imperialisten aber auch gegen Warlords und islamistische Banden gekämpft. Sie hätten gleichzeitig auch gegen das syrische Regime gekämpft und ihr Interesse sei die Stärkung der revolutionären Kräfte. Er weist darauf hin, dass die internationalen Kräfte ihre eigenen Ziele verfolgten und dafür den Tod von Millionen von Menschen in Kauf nehmen würden. Er spricht von „kollaborierenden Kurd*innen“ (damit meint er die Barzani-Fraktion), die mit dem Imperialismus zusammenarbeiten würden. Die imperialistischen Kräfte versuchten über jene kollaborierenden Kurd*innen und ihrem Nationalismus die Revolution zu negieren und ihre eigenen Interessen umzusetzen.

Salih Müslim, Ko-Vorsitzender der PYD, sprach erst kürzlich (10.09.16) wieder klare Worte in einem Interview mit der ARD54: Die USA und Russland seien Supermächte, die eigene Ziele verfolgen würden. Vor allem die USA seien seit Jahrzehnten Verbündete der Türkei im Rahmen der NATO und dergleichen, deshalb erwarte die PYD nicht, dass die USA auf ihrer Seite seien. Nur der Kampf gegen den IS sei es, auf den sie sich einigen könnten – wenn die USA es denn ernst meinten. Rhetorisch geschickt meint Müslim: Vielleicht sei es den Amerikanern ja doch nicht so wichtig mit dem IS, vielleicht würden sie ihn einfach weiterexistieren lassen wollen für andere Zwecke, vielleicht dafür, dass die Türkei Verwendung für ihn findet. Mit den Russen hingegen habe man schon am Anfang des Syrienkrieges Kontakt aufgenommen und pflege gute Beziehungen zum Außenministerium. Trocken und direkt meint er sodann: Die Amerikaner wissen ganz genau, was wir wollen und die Russen auch.

Mit Amis, Russen, Regime und Opposition gleichzeitig??

Dass sich die kurdischen Kräfte auch wirklich entsprechend ihrer Statements verhalten, sprich taktisch vorgehen und zwischenimperialistische Widersprüche im Sinne ihrer eigenen Interessen versuchen auszunutzen, kann man ganz einfach sehen, wenn man sich einmal anschaut, was sie im Syrien der letzten paar Jahre gemacht haben und was ihnen deshalb von verschiedenen Kräften vorgeworfen wurde und all das im Vergleich dazu betrachtet, was die PKK-nahen kurdischen Kräfte in Syrien strategisch verfolgen.

So waren die PKK-nahen kurdischen Kräfte von Anfang an nicht an der FSA oder der offiziellen Opposition (Etilaf, SNC, etc. etc.) beteiligt und lehnen eine Teilnahme bis heute ab. Stattdessen haben sie sich mit anderen zumeist sozialistischen, nasseristischen und teils offen pro-Assad Parteien im NCC zusammengeschlossen. Dies und der Umstand, dass das syrische Regime 2012 die Gebiete, die heute Rojava oder nordsyrische Föderation genannt werden, ohne Konflikte räumte, sorgt seitdem dafür, dass die PKK-nahen kurdischen Kräfte von den Barzani-nahen Kräften (ENKS) wie auch von der gesamten restlichen syrischen Opposition als Marionetten des syrischen Regimes bezeichnet werden. Auch der türkische Geheimdienstchef Hakan Fidan und der (damalige) türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu bezichtigten Anfang 2014 die Kurd*innen der Zusammenarbeit mit dem syrischen Regime und sagten den kurdischen Kräften Hilfe zu, sofern sie sich vom Regime abwenden und mit den anderen Oppositionellen zusammenarbeiten sollte. Öcalan lehnte die Vorschläge erzürnt ab.55 Großes Geschrei gab es auch, als Salih Müslim im Juli 2015 sogar vorschlug, dass die YPG/J Teil der syrischen Armee sein könnten – vorausgesetzt natürlich, Syrien wäre ein anderes als das heutige.56 Assads wohlwollende Reaktion auf diesen Vorschlag Ende 201557 war wieder ein ausschlaggebender Grund für die restliche Opposition und die Türkei, um zu kreischen: Die Kurden, das sind Marionetten des syrischen Regimes!

Als dann die PKK-nahen kurdischen Kräfte mit der Schlacht um Kobanê Ende 2014 anfingen, auch US-amerikanische Hilfe anzunehmen, da fing dann das gegenteilige Geschrei an: Die Kurden, das sind Marionetten des US-Imperialismus! Die nationalistischen Antiimperialist*innen/„Kommunist*innen“ in der Türkei verrenkten sich damals die Hälse darüber, das Verhältnis der USA zur Türkei und zu den Kurd*innen zu erklären. Denn die türkische Regierung (AKP) ist ja nur ein verlängerter Arm des säkularen Gottes namens USA oder NATO, wie kann es dann sein, dass der Gott auch seinen Widersacher, also die Kurd*innen, unterstützt? Bar jeder materialistischen Dialektik und d.h. jeden Verständnisses von (zwischenimperialistischen) Widersprüchen vollbrachten damals z.B. die Chefideologen der sich kommunistisch nennenden Partei der Türkei (KP) die Glanzleistung, all das als ein großes Szenario zu beschreiben! Im Ernst verstiegen sie sich in eine Verschwörungstheorie davon, dass die USA die Auseinandersetzung zwischen AKP und Kurd*innen nur inszenierten, um davon abzulenken, dass sich durch alle diese Scheinwidersprüche hindurch die Interessen des US-Imperialismus durchsetzten und dass eben AKP und Kurd*innen beide pro-imperialistisch seien. Meinte man es gut mit diesen „Kommunist*innen“, konnte man nur Mitleid empfinden mit ihrer Ersetzung ihres Marxismus-Leninismus durch bürgerliche Metaphysik.

Revolutionär*innen, die anderer Meinung waren, hoben das hervor, was auch dieser Artikel hier hervorhebt, nämlich dass sich die Kooperation zum Großteil auf militärische Unterstützung beschränkte und dass die USA das machen mussten, wenn sie nicht mitansehen wollten, wie ein NATO-Partnerland in ein unkontrolliertes Chaos versinkt, und die Kurd*innen ihrerseits so handeln mussten, wollten sie in Kobanê nicht zu Tausenden massakriert werden. Die Kooperation bestand fast ausschließlich aus Kleinwaffen, Munition und Luftschlägen (die US-Sondereinsatzkommandos sind vor allem dafür da, die Luftschläge zu koordinieren, sie mischen selbst nicht in den Kämpfen mit). Natürlich rechneten und rechnen sich die US-Imperialisten seitdem aus, dass sie die Revolution eben mit softeren Mitteln ersticken würden: nämlich dadurch, dass die kurdischen Kräfte militärisch und hegemonial zunehmend vom westlichen Imperialismus abhängig werden und pro-imperialistische Kräfte unter den Kurd*innen (z.B. die Barzani-nahe ENKS) erstarken. Jene Revolutionär*innen hoben, im Gegensatz zu unseren ahnungslosen deutschen Nahostexpert*innen und ML-Heroes, schon damals das eigentliche Instrument des US-Imperialismus zwecks Unterhöhlung der Revolution in Rojava hervor: das Abkommen von Dohuk vom Oktober 2014.58 Darin wurde beschlossen, dass unter den Kurd*innen ein Rat erschaffen werden sollte, wo sich PKK-nahe und Barzani-nahe Kräfte die Waage halten sollten. Aber die PKK-nahen Kräfte sind ja nicht dumm und dämlich, die wussten schon sehr genau, was der US-Imperialismus da versucht zu machen und was die eigenen Spielräume sind. Die Rätestrukturen in Rojava blieben erhalten (dazu mehr im Abschnitt „Die Revolution in Rojava und ihre Probleme“) und die YPG/J galt weiterhin unangefochten als einzige „offizielle“ kurdische Armee in Rojava. Zusätzlich erkämpften sich die PKK-nahen Kräfte mit der Schlacht um Schengal eine Anerkennung in den Gebieten der nordirakischen KRG, wo sie mittlerweile viel aktiver geworden sind und strategischere Bündnisse mit der Goran-Bewegung und der PUK von Talabani eingehen. Die Barzani-nahen Kräfte hingegen konnten aufgrund ihrer sektiererischen anti-PKK Haltung die wenigen Zugeständnisse nicht ausnutzen und stellen in Rojava eine politisch, militärisch und hegemonial betrachtet schwache Kraft dar und verlieren auch im Nordirak immer mehr an Boden.

Unter dem Schlussstrich kann man sagen, dass das Abkommen von Dohuk bisher mehr den PKK-nahen Kräften genutzt hat. Was die militärische Zusammenarbeit mit den USA angeht, kann man sehen, dass sich die kurdischen Kräfte mal in Zusammenstimmung und Koordination mit den Interessen der USA bewegen (Kobanê, anti-IS, usw.), oft aber auch einfach ohne Zustimmung, ja teils sogar gegen die Interessen der USA (Mare, Azaz, Carablus), wo sie dann auch problemlos bereit sind, militärisch alles selbst zu stemmen. Es ist dann jedes Mal die türkische Reaktion, die sie bisher stillhalten gemacht hat, nicht der Entzug von US-Unterstützung.

Jedenfalls: Die Debatte in der Türkei darum, ob die PKK-nahen Kräfte in Rojava jetzt objektive Agenten des US-Imperialismus sind oder nicht, war kaum am Abebben, da fing die offene und direkte russische Intervention im Syrienkrieg an. Die bürgerlichen Antiimperialist*innen und Kommunist*innen begrüßten zurecht, obzwar aus falschen – nämlich bürgerlichen – Gründen (Antiimperialismus, nationale Souveränität, Erhaltung des Völkerrechts, bla bla bla), die Einmischung Russlands in den Krieg. Der Witz an der Sache: Auch die angeblichen US-Marionetten, die PKK-nahen kurdischen Kräfte, unterstützten die russische Einmischung!! Und zwar aus den richtigen Gründen: weil es die zwischenimperialistischen Widersprüche vertiefen und somit Handlungsspielräume eröffnen würde. Salih Müslim, Co-Vorsitzender der PYD, begrüßte die russische Intervention als Garant gegen eine mögliche türkische Invasion59, am 21. Oktober 2015 wurden Kontakte mit dem russischen Außenministerium geknüpft (die PYD Co-Vorsitzende Asya Abdullah und der Vorsitzende des Kantons Kobanê Enver Müslim besuchten den stellvertretenden russischen Außenminister Bogdanov) und am 24. Oktober deklarierte Salih Müslim, dass sie Außenstellen in Berlin, Moskau und Paris zu öffnen gedenken.60 Beim Treffen in Russland machten Salih Müslim und Selahattin Demirtaş noch einmal klar, dass es „ernsthafte Konsequenzen“ geben würde, wenn die Kurd*innen weiterhin als Verhandlungsobjekt zwischen den internationalen Kräften behandelt würden.61 Der stellvertretende russische Außenminister Meschkow hingegen machte gegenüber der Türkei im Dezember 2015 klar, dass die Kurd*innen nicht vom Friedensprozess und dem Kampf gegen den IS ausgeschlossen werden dürfen62, d.h. er sprach den kurdischen Kräften somit seine Unterstützung zu. Im Februar 2016 wurde eine PYD-Stellung in Moskau eröffnet usw.

So erhielten die Kurd*innen also plötzlich militärische und politische Unterstützung von den USA und gleichzeitig politische sowie militärische Unterstützung von den Russen.63 Die bürgerlichen Antiimperialist*innen und Kommunist*innen ignorierten das souverän und enthielten sich jeden Kommentars. Wahrscheinlich galten ihnen die Kurd*innen mittlerweile eh als gesamtimperialistische Hydra, Ausgeburt der Hölle, Dreizack des Neptuns oder etwas dergleichen. Es waren stattdessen „die westlichen Imperialisten“ und ihre Handlanger, deren Verlängerung die Kurd*innen ja angeblich sein sollten, die polterten: Der britische Außenminister Hammond sprach von „disturbing evidences“ darüber, dass die Kurd*innen in Koordination mit dem syrischen Regime und Russland handelten, türkische Medien und die „offizielle“ syrische Opposition klagten die Kurd*innen ebenfalls der Zusammenarbeit mit Russland an.64

Mit dem syrischen Regime und der „offiziellen“ Opposition wiederum ging es hin und her. Während die kurdischen Kräfte mit Teilen der nicht-jihadistischen Opposition und kurzzeitig auch mit islamistischen Gruppierungen gegen den IS kooperierten, bekämpften sie sich großteils in Damaskus, Aleppo und Nordsyrien. Was das Regime angeht, stellten sich Verhältnisse ein, die das schematisierte Hirn bürgerlicher Antiimperialist*innen glatt sprengten, ließen sie sich denn mal darauf ein, darüber nachzudenken.65 Von den Oppositionellen als Assad-Handlanger bezeichnet lieferten sich die Kurd*innen mit eben demselben Regime Gefechte in Sheikh Maksoud (Viertel von Aleppo unter kurdischer Kontrolle) in den Jahren 2012, 2013 und 2015 (hier gab es auch Luftschläge der SyAAF), nur um während der Belagerung von Aleppo 2016 hier wieder gemeinsam mit dem Regime gegen die islamistischen Banden zu arbeiten. Und während kurdische Kräfte und Verbündete mit Regimekräften und Verbündeten 2015 gemeinsam die Provinz Hasêke vom IS säuberten, eskalierte das Regime eine Woche vor dem türkischen Einmarsch (offensichtlich mit der Türkei und dem Iran abgesprochen) die Situation und ging in eine große, von der syrischen Luftwaffe unterstützte Offensive in der Stadt Hasêke. Die kurdischen Kräfte waren vorbereitet. Zusätzlich blockierte die US-Luftwaffe das Agieren der syrischen Luftwaffe nach ein paar Tagen, so dass die kurdischen Kräfte und Verbündete nun 95% der Stadt halten. Dabei hatten kurdische Kräfte und Verbündete sowie Regimekräfte und Verbündete noch vor der Belagerung von Aleppo im Norden der Stadt offensichtlich miteinander kooperiert: Zur gleichen Zeit, als Anfang 2016 Regimekräfte und Verbündete den Kessel um Aleppo verschärften, gingen die kurdischen Kräfte vom Kanton Afrîn aus im Norden Aleppos in die Offensive und schnitten den „Rebellen“ die Zufuhr ab. Regime wie Kurd*innen wurden von Russland mit Luftschlägen unterstützt, während die Kurd*innen keine paar Hundert Kilometer im Osten Unterstützung von den USA im Kampf gegen den IS erhielten.

Die Perspektive eines demokratischen Syriens und die SDF

All dieses Taktizieren entsprang hierbei keinem kurzfristigen Opportunismus, dem es nur um Macht und Geld geht; sondern das kluge Taktizieren half den Kurd*innen dabei, ihr eigenes Programm umzusetzen. Das war von Anfang an eigentlich recht durchdacht und änderte sich im Wesentlichen nicht mehr.

Öcalan hält in den Gesprächen schon ab 2013 sehr präzise und konsequent bis ins Jahr 2015 fest:66 Es könne ihnen in Syrien aber auch in der Türkei nicht darum gehen, zu versuchen einen eigenen nationalen Staat wie Barzani zu gründen, das würde nur in einem blutigen Massaker enden und ein möglicher kurdischer Staat würde nur noch unterdrückerischer sein als der schon bestehende türkische. Die PYD müsse sich schleunigst darum bemühen so etwas wie eine Syrische Demokratische Einheit im Norden zu gründen, einer Art politischer Mechanismus, wo auch die dort lebenden Araber*innen, Assyrer*innen, Turkmen*innen usw. in ihrer eigenständigen Art und Weise würden teilnehmen können. Sie dürften auch keinen Monopolkapitalismus wie Barzani errichten, sondern müssten sich auf die Errichtung einer kommunalen Ökonomie mit Kooperativen und eines kommunalen Politikmodells konzentrieren. Damals kritisierte er noch Salih Müslim von der PYD, weil er sich zu sehr auf die kurdische Problematik fokussiere. Er forderte, dass man auf einen kurdischen Namen verzichtet, wo es um das gemeinsame Projekt eines demokratischen Nordsyriens geht. Erst wenn dies glücke und man sowohl den IS als auch Regimekräfte aus dem Norden vertreiben könne, könne man sowohl Assad wie auch die Opposition an den Tisch bringen und ihnen das Programm eines demokratischen Syriens aufzwingen, innerhalb dessen auch die Kurd*innen ihre Anerkennung und Eigenständigkeit finden und der Krieg beendet würde. Öcalan amüsiert sich darüber, dass Assad mal gesagt haben soll „ich habe mir da eine Schlange rangezüchtet“ (sprich er habe die PKK in Syrien „toleriert“ und diese Schlange beiße jetzt ihn). Dabei habe er, Öcalan, dem türkischen Staat von Anfang an gesagt dass „Assad bleiben muss“.67 Denn wenn kein Übergang zu einem demokratischen Syrien gelinge, würde sich Syrien in eine „Massakerlandschaft“68 verwandeln.

Dass auch die PKK-Führung diese Perspektive pi mal Daumen teilt, geht aus den oben zitierten Äußerungen derselben hervor: Karayılan redet dort davon, dass sie die Perspektive eines demokratischen Syriens mit einer demokratischen Autonomie für die Kurd*innen verteidigen, Sabri Ok pointiert noch, dass sie dieses System mit jedem auszudiskutieren bereit sind, während Duran Kalkan ihre Perspektive als einen 3. Weg (unabhängig von Regime und offizieller Opposition), der eine demokratische Einheit Syriens anvisiert, bezeichnet.

Dass sie das Programm eines gemeinsamen Vorgehens mit den anderen Völkern und religiösen Gemeinschaften der Region ernst meinen, geht recht eindeutig aus ihrer Praxis hervor. Schon seit 2012 schlossen sich einige FSA-Gruppierungen, die nichts mit den Jihadisten zu tun haben wollten, der YPG an, flohen vor dem IS zu den Kurd*innen oder schlossen Bündnisse mit ihnen.69 Das erste größere Bündnis entstand Ende 2014 während der Belagerung Kobanês und nannte sich Burkan El-Fırat (der Vulkan vom Euphrates), an dem außer der YPG/J noch 8 andere Gruppen beteiligt waren.70 Ende 2015 dann entstand die gereiftere Formation: Gemeinsam mit dem Militärrat der Assyrer und der Syrischen Arabischen Koalition (bestehend aus Burkan El-Fırat, El Sanadid, El Cezire Brigaden und Jaysh al-Thuwar) gründeten die YPG/J die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF oder QSD abgekürzt).71 Mittlerweile übernehmen arabische und gemischte Formationen des SDF wichtige Schlüsselaufgaben: So hält z.B. die aus 12 Brigaden bestehende arabische-kurdisch-turkmenische Koalition Jaysh al-Thuwar (Armee der Revolutionären) die Grenzstadt Tel Abyad.72 Politisch betrachtet wiederum wird Tel Abyad von einem Stadtrat regiert, der, entsprechend der Bevölkerungszusammensetzung der Stadt, aus 7 arabischen, 4 kurdischen, 2 turkmenischen und 1 armenischen Ratsmitglied besteht.73 Während laut der Einschätzung des Sprechers des Weißen Hauses Josh Earnest die SDF mittlerweile bis zu 40% aus nicht-Kurd*innen bestehen,74 ist es bei der politischen Formation der SDF, dem Syrischen Demokratischen Rat (SDC oder MSD abgekürzt), der Fall, dass der Großteil der Ratsmitglieder nicht-kurdisch sind und die Doppelspitze aus einem Araber (Heysem Menaa) und einem PYD-nahen Kurden (Ilham Ahmed) besteht.75 Auch der Gesellschaftsvertrag von Rojava aus dem Jahre 201476, quasi das Grundgesetz, spricht eindeutige Worte: in Art. 3 a) und 12 wird für ein föderales, demokratisches Syrien optiert, die Grenzen des heutigen Staates Syrien anerkannt und deklariert, dass die demokratisch-autonome Verwaltung von Rojava Teil eines solchen zukünftigen föderal-demokratischen Syrien ist/sein wird.

Letztlich wurde im März 2016 die Föderation Nordsyrien-Rojava ausgerufen und im Juni die erste Verfassung der Föderation verabschiedet.77 Diese Föderation wurde sofort von Syrien, der USA, Russland, der FSA, dem HNC, dem SNC etc. pp. verworfen als „Verletzung der territorialen Integrität Syriens“, obwohl, wie gezeigt wurde, die PKK-nahen kurdischen Kräfte und Verbündete von Anfang an eine Spaltung Syriens ablehnten.

Jedenfalls tappt der arme Stoodt auch hier ahnungslos im Dunkel seiner in ML-Worten gekleideten Bewusstseinslosigkeit herum: Er fabuliert von einer möglichen israelisch-kurdischen Allianz auf Grundlage dessen, dass die kurdischen Kräfte an der „produktiven Zerstörung“ der Staaten des Nahen Ostens im Sinne des US-Imperialismus und zwecks eigenem nationalen Gemeinwesen mitmachen. Die Ahnungslosigkeit besteht darin, dass es dieses Bündnis schon längst gibt, nämlich zwischen den USA, Israel und der Barzani-Fraktion. Und jetzt der Witz an der Geschichte: Es sind gerade diese Kräfte in der Region, die die Föderation Nordsyrien-Rojava ablehnen! Und zwar weil ihnen die Föderation nicht unabhängig und kurdisch-national genug, dagegen aber zu feministisch und kommunistisch [sic!] ist!78

Taktik, Strategie und Programm der PKK-nahen kurdischen Kräfte in Syrien

Hinter der Überlegung also, Assad nicht sofort per Gewalt und als erstes Ziel zu stürzen, sondern für eine Demokratisierung Syriens gemeinsam mit den anderen Völkern, Ethnien und religiösen Gemeinschaften der Region zu kämpfen, liegen strategische und programmatische Überlegungen, keineswegs opportunistische, wie Kritiker*innen meinen, die der YPG/J und PYD vorwerfen die SDF usw. nur als Tarnorganisation zu nutzen. Wenn Karayılan im oben zitierten Interview aus dem Jahre 2012 festhält, dass sie nicht gegen das Regime Krieg führen werden, weil das die kurdischen Gebiete in einen Konflikt reinziehen wird, der nicht der ihrige ist, dann liegen dem die selben Überlegung zugrunde wie bei Öcalan und allen anderen PKK-Führungspersonen: Den PKK-nahen kurdischen Kräften ist es wichtig, dass sie die nationalen Rechte der Kurd*innen einfordern können und gleichzeitig eine rätedemokratische Politikstruktur installieren, in der die Werktätigen die Hauptstützen der Macht bilden. Der Weg eines unabhängigen Nationalstaates scheint für sie nach dem Ende der Sowjetunion nicht mehr möglich, zumindest solange sie sich nicht zum Gehilfen des Imperialismus machen, der wiederum eine Ermächtigung der Werktätigen nicht zulassen und stattdessen in Blutbäder führen wird. Andererseits geht für sie die nationale Befreiung der Kurd*innen in einem multiethnischen Gebiet wie Syrien nur dadurch, dass auch die anderen Völker und Religionen an einem politischen System der Ermächtigung der Werktätigen teilhaben. Die „offizielle“ Opposition in Syrien schätzen sie als verlängerten Arm des westlichen Imperialismus ein und sind sich sehr klar darüber, dass sie nicht alleine Assad stürzen und ein neues Syrien errichten werden können. Ihnen ist klar, dass sich das gesamte Syrien in ein Blutbad rivalisierender Warlords und Interessenvertreter oder Kollaborateure imperialistischer und subimperialistischer Mächte verwandeln wird wie Libyen, wenn Assad und das derzeitige staatliche System auf Grundlage der derzeit bestehenden Kräfteverhältnisse gestürzt werden. Denn es gibt derzeit keine gesamtsyrische Alternative, die mächtig genug wäre, ein neues Syrien zu schaffen und sich gleichzeitig der imperialistischen und subimperialistischen Interessen zu erwehren. Deswegen gehen sie den Weg, dass sie die provisorische Föderation Nordsyriens mit rätedemokratischen Elementen und der Beteiligung der unterschiedlichen dort lebenden Völker, Ethnien und religiösen Gemeinschaften als einen eigenen Machtpool erschaffen, der versucht, die anderen Kräfte zu einer Mitte zu zwingen und währenddessen seinen hegemonialen Raum auf weitere Gebiete Syriens ausweitet.

Taktisch betrachtet bieten die PKK-nahen kurdischem Kräfte und Verbündete allen was an und gehen partiell auf deren Interessen ein, solange es auch der Entwicklung ihrer Interessen dient. Strategisch gesehen findet eine sehr eindeutige Positionierung und Abgrenzung gegen alle regionalen und internationalen Mächte statt. Ihnen ist auch klar: Betreffs ihrer strategischen Zielen sind alle bürgerlich-kapitalistischen Akteure der Region sowie international gegen sie und umso erfolgreicher ihr strategisches Projekt (demokratische Autonomie/Konföderalismus) ist, umso mehr feinden die regionalen und internationalen bürgerlich-kapitalistischen Akteure sie an. Sie sind deshalb auch bereit, den offenen Krieg mit jenen Kräften anzunehmen, wenn ihnen keine andere Wahl bleibt, bevorzugen diese Option aber realistischerweise (bisher) nicht oder nur im sehr eingeschränkten Format.

Der Vowurf unserer Antiimp-Helden und Möchtegern-MLer ist ihnen also zurück zu geben: Es sind nicht die kurdischen Kräfte und Verbündete in Syrien, sondern viel mehr jene deutschen „Kommunist*innen“ und Antimperialist*innen, die vor lauter Taktizieren die eigene Identität schon längst aufgegeben haben und vor der herrschenden Bourgeoisie im Rumpfstaat Syrien den Kotau machen. Selbstverständlich ist es derzeit als Revolutionär in Syrien vernünftig, nicht direkt und absolut gegen das syrische Regime vorzugehen. Nur in einigen (post-)trotzkistischen Phantasiewelten ist es der Fall, dass eine angeblich revolutionäre FSA bereit steht, die Macht im Sinne der Revolution zu übernehmen in dem Moment, in dem Assad stürzt, und dann auch noch in der Lage ist, den IS und den Imperialismus zu vertreiben. Realiter ist es der Fall, dass im Prinzip alle Kräfte (außer Kurd*innen und Verbündete), die auf eine Demokratisierung und potenziell Revolutionierung Syriens ausgerichtet sind, zerschlagen, inhaftiert, vertrieben, umgebracht und demoralisiert oder schlicht nicht mächtig genug sind. Diese Kräfte sind derzeit leider weit davon entfernt, die Macht zu übernehmen und den Imperialismus und seine Schergen sowie den IS zu besiegen. Die Kurd*innen und die SDF können das derzeit nur im begrenzten Maße für Nordsyrien leisten und das wissen sie selbst sehr gut. In einer solchen Kräftekonstellation ist klar, dass der Wahnsinn und das blutige Chaos einkehren werden, wenn Assad seitens islamistischer Banden gestürzt wird, was niemand, der alle Sinnen beisammen hat, wollen kann. Genau das sehen die Kurd*innen und Verbündete und fordern sowas deshalb nicht und handeln auch nicht dementsprechend. Daraus folgt aber nicht, dass man sich – ob nun objektiv (bürgerliche Kommunist*innen) oder subjektiv-bewusst und offen deklariert (bürgerliche Antiimperialist*innen) – zum Speichellecker der syrischen Rumpfbourgeoisie macht. Lenin, einer der größten Revolutionäre der Weltgeschichte, ging beizeiten in einer ähnlichen Situation noch weiter als die kurdischen Kräfte und Verbündete: In einer Situation, wo klar war, dass die Bolschewik*innen die Macht nicht übernehmen können, nämlich als der Erste Imperialistische Verteilungskrieg losging, empfahl er Sabotage und Defätismus gegenüber der eigenen Bourgeoisie, obwohl es doch klar war, dass es viel schlimmer kommen würde unter einer eventuellen deutschen Besetzung Russlands. Der Vorschlag Lenins ging zu weit und wurde deshalb abgelehnt. Was aber für Lenin und seine Genoss*innen klar war, war eine Sache: Eine Politik des „kleineren Übels“ wurde nicht verfolgt, immer nur eine des Ausnutzens von zwischenimperialistischen und innerbürgerlichen Widersprüchen bei stetiger Wahrung der eigenen organisationsförmigen, ideologischen und praktischen Unabhängigkeit und Aktivität mit Blick auf die Möglichkeit der Revolution. Das geht unseren bürgerlichen „Antiimperialist*innen“ abhanden, wenn sie Assad und Putin zu Heroen des Weltfriedens hochstilisieren und dabei ganz offen jede proletarische Eigenständigkeit aufgeben genau so wie wenn sogenannte „MLer“ objektiv im Sinne eines kleineren Übels argumentieren, der in der Praxis auf eben dasselbe hinausläuft: Verzicht auf die Revolution im Namen eines – „Völkerrechtssubjekts“ (Stoodt)!!

Die Revolution in Rojava und ihre Probleme

Kommen wir nun zum Kern der Angelegenheit, dem revolutionären Charakter von Rojava. Bei Stoodt heißt es, bezugnehmend auf zwei Texte beim UZ-Pressefest, dass sich Positionen, die sich positiv auf Frieden, Internationalismus, Antiimperialismus und für ein emanzipatorisches Projekt Rojava einsetzen, anfällig sind für offen rechte Position und zur Unterordnung unter die Interessen der USA; Klara Bina meint, etwas vorsichtiger, dass die Frage, inwiefern sich die PKK Richtung „westlicher Demokratie“ bewegte, noch offen sei.

Nicht offen ausgesprochen aber mittels Rhetorik wird suggeriert: Die Kurd*innen setzen (potenziell) nur das durch, was auch die Imperialisten wollen (ein emanzipatorisches Projekt Rojava, „westliche Demokratie“). Das ist schon außerordentlich blöd. Wenn es darum geht, bürgerlich-demokratische Errungenschaften im imperialistischen Zentrum zu thematisieren, dann heißt es: große glorreiche Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse, die der Bourgeoisie aufgezwungen wurden! Wenn nun die Kurd*innen ähnliches in Syrien und sonst wo verlangen und dafür kämpfen, dann sind das plötzlich keine großen Errungenschaften mehr, die man der Bourgeoisie noch kapitalismusintern aufzwingen kann, nein, dann ist das eine proimperialistische Agenda. Obwohl alle Welt inklusive der Kurd*innen weiß, dass überall dort, wo der Imperialismus – unter welchen Vorwänden und schönen Floskeln auch immer – einmarschierte, gerade keine Demokratie, gerade keine Frauenrechte und gerade keine Rätedemokratie erschaffen wurde! Ich rede gar nicht erst vom Selbstbestimmungsrecht der Nationen, einem urleninistischen Prinzip, das jene Antinationalen, über die sich Klara Bina in ihrem Text beschwert, negieren und das Klara Bina gegen die Antinationalen verteidigt – solange es nicht wirklich um eine nationale Befreiungsbewegung geht, im vorliegenden Fall nämlich um die PKK-nahe kurdische Befreiungsbewegung. Eine solche koloniale Mentalität, die „denen da an den Rändern“ proimperialistische Mentalität vorwirft, weil sie dasselbe erkämpfen wollen, was der Arbeiter*innenbewegung im Zentrum gelungen ist, bringe ich gern ohne jede rhetorische Finte und offen auf den Begriff: Diese Einstellung ist nichts anderes als die Rationalisierung eines Sichausruhens auf Errungenschaften der Arbeiter*innenklasse und imperialistischer Rente, die sich in ML-Worten hüllt.

Falls man sich aus marxistisch-leninistischer Perspektive ernsthaft für die Umwandlung der PKK und den derzeitigen Revolutionsprozess in Rojava interessiert, dann wird man die präzise auf ihren Begriff bringen, namentlich auf den Begriff einer Theorie und Praxis des Zustands der Doppelmacht. Der Zustand der Doppelmacht ist ja nach Lenin ein Zustand, in dem innerhalb der bestehenden bürgerlichen Ordnung und relativ autonom zu ihr die Keime einer Gegenmacht, die Macht der Werktätigen, aufblühen und sich die Waage halten mit den dominierenden kapitalistischen Verhältnissen, die allerdings weiterhin bestehen. Es ist klar, dass dieser Zustand nicht ewig dauern kann, sondern früher oder später in die eine oder andere Richtung kippt. Für Lenin stellen die frühen Sowjets im Russland des Jahres 1917 den Pol der Gegenmacht im Zustand der Doppelmacht dar. Die Theorie des demokratischen Konföderalismus und die Revolutionspraxis in Rojava stellen nun genau ein Moment der Doppelmacht in Kopplung mit einer demokratischen Revolution dar.

Einerseits optieren die PKK-nahen kurdischen Kräfte in allen Ländern, in denen sie aktiv sind, für eine demokratische Revolution, die die Aufgaben der bürgerlichen Revolutionen, die in diesen Ländern im besten Fall nur zum Teil demokratisch verliefen, vollenden. Zu den Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution gehören alle die Dinge, die man aus den Zentren des Imperialismus mehr oder minder gewohnt ist: innerhalb des bürgerlichen Rahmens die Erlangung weitestgehender politischer Freiheiten, das Recht auf Ausleben jedweder nationalen, religiösen79, ethnischen usw. Identität, im mindesten Chancengleichheit der Geschlechter, Demokratisierung der Staatsstrukturen usw. Andererseits ist die Einsicht von Lenin noch vorhanden, dass nämlich die Bourgeoisien der jeweiligen Länder, in denen sich die kapitalistische Produktionsweise erst später als in den imperialistischen Zentren entfaltete, die demokratische Revolution aus gutem Grund nicht vollenden, weil das ihrem Charakter nicht entspricht, und dass deshalb der Bourgeoisie die demokratische Revolution aufgezwungen werden muss. Hier kommt das Moment der Doppelmacht ins Spiel: die Rätedemokratie. Lenin verbringt nicht umsonst gefühlt das halbe Jahr 1917 damit, Dutzende von Seiten darüber zu schreiben, wie wichtig die Entwicklung der narodnaja vlast (also die Volksmacht) in Form der Sowjets, also der Räte, im Prinzip ist. Es sind dies die ureigensten politischen Formen der Werktätigen, innerhalb derer die bürgerliche Trennung von geistiger und manueller Arbeit, von Politik und Gesellschaft aufgehoben und eine Ermächtigung der Werktätigen stattfindet – und, das hebt Lenin eigens hervor, es sind Formen, die die bisherige bürgerliche Staatsmaschinerie zunehmend durch eine proletarische ersetzen und eine Verselbständigung der Staatsbürokratie verhindern können. Öcalan und die kurdische Befreiungsbewegung, wie übrigens viele andere revolutionäre Strömungen auch, entnehmen einer Kritik der Mängel der Sowjetunion – nebst einigen irreführenden Schlüssen, die ich gleich anführe – die Überzeugung, dass die Bildung und Stärkung der Rätedemokratie und vor allem ihre Ausweitung auf alle gesellschaftlichen Verhältnisse geradezu zentral ist für eine Revolution, die erfolgreich von den Werktätigen geleitet werden soll. Dahinter steht die Überzeugung, dass der Kapitalismus stets eine Totalität von gesellschaftlichen Verhältnissen und somit auch eine Totalität von Unterdrückungs-, Ausbeutungs- und Marginalisierungsformen ist und dass dementsprechend die Gegenmacht der Revolution ebenfalls eine gesellschaftliche Totalität sein muss, sprich alle gesellschaftlichen Verhältnisse durchdringen muss, will sie nicht den toten Ballast der alten bürgerlichen Ordnung in die neue Ordnung mit hineintragen und somit eine Blockade der Revolution riskieren.

Nun sehen wir genau die Keime einer solchen Gegenmacht mit der Revolution in Rojava blühen: Es werden autonome Frauenräte und -militäreinheiten gebildet, was ein unglaublich großer Schritt der Frauenbefreiung ist in Syrien und vor allem in den kurdischen Teilen Syriens, wo noch Überreste feudaler Geschlechterverhältnisse vorhanden sind und die Frau selten mehr als ein Objekt und als Hausfrau betrachtet wird. Politisch betrachtet werden die jeweiligen Städte angefangen von der kleinsten Einheit von Kiezräten bis hin zum Stadtrat von der jeweiligen Bevölkerung räteförmig organisiert, wobei die höheren Räte stets gegenüber den unteren Räten verantwortlich und gegebenenfalls ersetzbar bleiben. Aber auch z.B. die zivile Verteidigung der Viertel wird von den jeweiligen Viertelsräten, die von den jeweiligen Bevölkerungen gestemmt werden, organisiert und ist von Polizei (Asayish) und Militär (YPG/J) unabhängig, wobei auch Polizei und Militär räteförmig organisiert werden. Inwieweit die Räte der Basis die höchsten politischen Strukturen wie z.B. den Kantonalrat oder die Föderation kontrollieren und organisieren, scheint allerdings noch nicht vollständig geklärt zu sein.

Auch in den Produktionsstätten sehen wir die Ausweitung von Kooperativen und Kommunen, sprich die Umsetzung von Prinzipien der Arbeiterselbstverwaltung: Laut dem Wirtschaftsminister des Kantons Cizire, Ahmad Yousef, werden 33% aller Unternehmen in Rojava von Arbeiterräten verwaltet, während 75% alles bisherigen Privateigentums als Gemeineigentum verwaltet werden (25% alles Eigentums befindet sich im Privatbesitz durch Nutzung).80 Laut demselben Yousef gibt es derzeit 400 Kommunen mit jeweils 20-35 Kommunenmitgliedern im Kanton Cizire.81 Aufgrund des Umstands, dass die Revolution im Prozess begriffen ist und zugleich demokratische Revolution wie auch Doppelmacht ist, sind kapitalistische Verhältnisse nicht abgeschafft. Schon im Gesellschaftsvertrag von Rojava 2014 wird das Recht auf Privateigentum zugesichert (Art. 41). Das wird allerdings eingeschränkt: Einerseits werden Bodenschätze und natürliche Ressourcen als Besitz der Gesellschaft proklamiert (Art. 39), andererseits in ähnlicher Manier Grundbesitz und Boden als Besitz der Bevölkerung deklariert (Art. 40). Als Zweck der wirtschaftlichen Entwicklung werden die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und das würdevolle Leben bestimmt, legitime Konkurrenz geduldet, aber Monopole verboten (Art. 42). Die Widersprüchlichkeit läuft auf den Schluss hinaus: Hier geht es darum, innerhalb des Kapitalismus alternative und antikapitalistische Prinzipien parallel zum Kapitalismus aufzustellen, eine Übergangsökonomie also (entweder Übergang zurück zum Kapitalismus oder vorwärts zum Bruch). Das geht ja auch aus Öcalans neuen Schriften hervor: Öcalan lehnt das Prinzip des Profits und der Profitmaximierung ab und optiert für ökologische Kommunen und andere sozialen Entitäten, die sich nach den Bedürfnissen der Gesellschaft richten und nicht nach dem Profit, wobei er aber gleichzeitig meint, dass sie es vielleicht nicht schaffen werden, den Kapitalismus vollständig zu überwinden.82

Es ist ebenfalls klar, was die prinzipiellen Probleme des Revolutionsprojekts sind (d.h. einmal davon abgesehen, dass sich das Gebiet im permanenten Kriegszustand befindet, was die Entfaltung der Revolution massiv erschwert und ein permanentes Taktizieren entlang zwischenimperialistischer und innerbürgerlicher Widersprüche erzwingt). Und zwar sind dies dieselben Probleme, die jedem Zustand der Doppelmacht entspringen kombiniert mit ideologischen Problemen: Es ist klar, dass allein durch die Entwicklung der Elemente von Doppelmacht und der Rätedemokratie die sozialistische Revolution nicht vollendet werden kann, weil die Bourgeoisie unmittelbar und die kapitalistische Produktionsweise strukturell die Keime der Gegenmacht bedrohen, einengen und permanent angreifen werden. Der Zustand der Doppelmacht ist immer einer, der vorübergehend ist: Irgendwann geht’s zurück in die strukturell uneingeschränkte Dominanz kapitalistischer Verhältnisse oder vorwärts Richtung revolutionärem Bruch. Andererseits, und das ist das Problematischere, werden ideologisch falsche Schlüsse aus der Kritik der Sowjetunion gezogen, namentlich dass die Funktion des Staates innerhalb kapitalistischer Verhältnisse sowie beim Übergang in den Kommunismus und der Klassenantagonismus unterschätzt werden. Eine revolutionäre staatliche oder staatsähnliche Ordnung wird nötig sein gegen die massive und auf Vernichtung der Revolution gerichtete Opposition des Klassenfeindes im Inneren wie außen, die sich einstellen und umso mehr an Fahrt aufnehmen wird, umso mehr die Revolution den Charakter der demokratischen Revolution übersteigt und sozialistische Elemente, Elemente der Macht der Werktätigen ausbildet.83 Die (falsche) Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft, wobei der Staat als das bloß Despotische und die Gesellschaft als das bloß Soziale, Freie und „Natürliche“ begriffen werden, kann mittelfristig und langfristig dazu führen, dass diese im strengeren Sinne sozialistische Perspektive und das auf die Spitze treiben der durch die gesamte Gesellschaft hindurchgehenden Antagonismen aufgegeben werden und dass somit also die Revolution bei der Vollendung der demokratischen Revolution steckenbleibt – was, vergleicht man die Umstände und alle anderen realen Alternativen, auch gar nicht so schlecht wäre. Die Kurd*innen und die anderen Völker kämen dann in den Genuss all derjenigen Rechte und Freiheiten, die alle anderen Völker der imperialistischen Zentren schon haben und vielleicht würde das Blutbad im Nahen Osten oder zumindest in Syrien aufhören.

Die Kommunist*innen und die Revolution in Rojava

Kommunistische Revolutionäre würden sich mit so etwas nicht zufrieden geben und weiterhin dafür optieren, dass die Revolution einen sozialistischen Charakter annehmen sollte und dass dies der Beginn des eigentlichen Prozesses ist bzw. sein kann, der alle Ausbeutungs-, Unterdrückungs- und Marginalisierungsverhältnisse abschafft. Einerseits wäre aber eine vollendete demokratische Revolution sicherlich eine bessere Grundlage für die Ausbildung der sozialistischen Perspektive. Andererseits finden sich in der derzeit stattfindenden Revolution in Rojava mehr als genügend Momente, die über eine bloß bürgerlich-demokratische Perspektive hinausweisen oder hinausweisen können und allein deshalb schon für ein organisches Verhältnis der Kommunist*innen zur Revolution in Rojava sprechen: Im Gegensatz zur eigenen Theorie und zur Tradition des libertären Anarchismus kann die kurdische Befreiungsbewegung etwas vorweisen, was dem klassischen Marxismus-Leninismus zuzuordnen ist: eine stramm disziplinierte, militante Kaderpartei, die PKK, die beizeiten in mehreren Ländern gleichzeitig den revolutionären Volkskrieg führte und den Prozess der demokratischen Revolution koordiniert und sich bisher immer sehr direkt und offen von bürgerlichen kurdischen Parteien abgegrenzt hat. Öcalan bezeichnet sich selbst an vielen Stellen als Sozialist und Antikapitalist, der für einen „demokratisch verstandenen Sozialismus“ (damit meint er eine anarchistische Ordnung ohne Staat) eintritt. Auch wichtige Führungspersönlichkeiten der PKK wie Duran Kalkan oder Sabri Ok – der in dem oben erwähnten Interview darauf hinweist, dass es grundlegende Probleme mit der ökonomischen Revolution in Rojava gibt und davor warnt, dass einfach die Ausbeuter wieder einkehren, falls sie nicht gelingt – weisen immer wieder auf die Bedeutung der Befreiung der Arbeit hin. Noch in einem Artikel zum 1. Mai 2015, in der Duran Kalkan die HDP dafür kritisiert, dass sie nicht bestimmt genug als Arbeiter*innenpartei auftritt, spricht er ganz klar folgende Worte: „Es ist hervorzuheben, dass weder das Konzept der Avantgardepartei noch die der Arbeiter- und Werktätigenorganisation abgelehnt wird. Im Gegenteil: Es dominiert die Vorstellung, dass das Verständnis der Avantgardepartei einem Paradigmenwechsel [also Öcalans neue Theorien, K.Y.] unterzogen wird und dass auf dieser Grundlage die Organisation der Arbeiter und Werktätigen inklusive der Avantgardepartei noch viel stärker und tiefer entwickelt werden.“84

Unter den Hunderten revolutionären Internationalist*innen aus allen Herren Ländern der Welt, die an der Revolution in Rojava teilhaben, dominiert ein mal marxistisch, mal anarchistisch, mal sozialrevolutionär verstandenes Verständnis von Kommunismus. Auch viele der „einheimischen“ kurdischen Kämpfer*innen verstehen sich ganz selbstverständlich als Kommunist*innen. Zu all dem kommt hinzu – und das ist gewissermaßen der Dreh- und Angelpunkt –, dass eine Ermächtigung der Werktätigen in Rätestrukturen innerhalb der Produktion, Zirkulation, des Alltags und unterschiedlichen Sphären der Politik stattfindet, ergo eine für einen erfolgreichen Sozialismus unabdingbare Umstrukturierung der gesellschaftlichen Totalität in Angriff genommen wird.

Die Existenz eines widersprüchlichen Revolutionierungsprozesses, die Perspektive einer demokratischen Revolution, die zugleich eine nationale Befreiung beinhaltet und mit sozialistischen Elementen ausgestattet ist, eine Ideologie, die zwar sicher nicht marxistisch-leninistisch ist, aber viele Elemente der historischen revolutionären Arbeiter*innenbewegung enthält – all das ist für Klara Bina nicht das Thema, für sie gilt: Das sind alles Anti[sic!]-Kommunisten!85 Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Die PKK-nahen kurdischen Kräfte werden nicht als nicht-marxistisch-leninistisch, nicht-marxistisch oder vielleicht meinetwegen als nicht-kommunistisch bezeichnet, sondern als anti-kommunistisch! Anti-Kommunismus, das ist die NATO, die Gladio, das sind die Faschisten der MHP genau so wie die putschistischen Faschisten in ML-Kleidern wie Doğu Perinçek. Anti-Kommunist*innen sind die allerreaktionärsten Elemente des Klassenfeindes, die Speerspitze der bis an die Zähne bewaffneten Konterrevolution. Nun stellt sich Klara Bina hin und bezeichnet sozialrevolutionäre Antikapitalist*innen als anti-kommunistisch! Hier paart sich der bürgerliche Kommunismus mit einem spezifisch kleinbürgerlich-terroristischen Element in der kommunistischen Bewegung, der im engeren Sinne Stalinismus genannt wird. Nach dem Motto „alle, die nicht absolut auf meiner Seite sind, sind Feinde von mir und der Revolution überhaupt“ wird hier allen Sozialrevolutionär*innen und sich selbst offen als Antikapitalist*innen bezeichnenden Personen vorgeworfen, sie seien Feinde der Revolution (denn nichts anderes als das beinhaltet der Vorwurf des Anti-Kommunismus).86 Zu welchen fatalen Säuberungsaktionen und innerlinken Bürgerkriegen solche Logiken in der Geschichte der kommunistischen Revolutionen geführt haben und wie dadurch Revolutionsprozesse beendet oder gestoppt wurden ist hinreichend bekannt. Ebenso, dass solche Positionen nie Revolutionen geleitet haben, weil gemäß einer solchen Perspektive so etwas wie Hegemonie und Bündnisarbeit schlicht unmöglich ist. Man stelle sich vor der Lenin hätte wie eine beleidigte Leberwurst die Arme überkreuzt und trotzig den Kopf schüttelnd „Nee nee, da machen wir nicht mit, da sind wir noch nicht führend, die Produktionsmittel sind noch nicht komplett vergesellschaftet, es sind noch nicht alle Werktätigen des Landes stramme Marxisten-Leninist*innen, die sozialistische Revolution ist noch nicht eindeutig, es führen die bürgerlichen, opportunistischen und sozialrevolutionären Kräfte“ etc. gesagt, nur weil die Menschewik*innen, Kadetten und Sozialrevolutionär*innen die erste bürgerlich-demokratische Regierung nach der Februarrevolution stellten und bis zum September 1917 die Mehrheit in den Sowjets innehatten. Solche kleinbürgerlich-terroristischen Positionen innerhalb der kommunistischen Bewegung konnten sich nur auf schon erfolgreich stattfindende Revolutionen drauf setzen, den Revolutionierungsprozess normalisieren und in geordnete Bahnen lenken, ihn dadurch aber auch nicht mehr weitertreiben und zum Stillstand bringen.

In der derzeitigen Rojava-Debatte sehen wir wieder einen Beweis für diese Feststellung. Die bürgerlichen Antiimperialist*innen haben jede proletarische Perspektive schon längst aufgegeben und kuscheln mit irgendwelchen drecksreaktionären Bourgeoisien und sehen kein Problem darin, mit putschistischen Faschisten wie Doğu Perinçek zusammenzuarbeiten (Antiimperialist*innen im SKFS) oder eine Zusammenarbeit mit „Teile[n] des Politischen Islams“ (Ulrich) zu befürworten. Die bürgerlichen Kommunist*innen hingegen reden sehr viel in ML-Termini und von Klassenperspektiven, machen aber im mindesten objektiv den Kotau vor der syrischen Rumpfbourgeoisie, indem sie den einzig wirkmächtigen und vernünftigen, wenn auch widersprüchlichen, Revolutionsprozess vor Ort als pro-imperialistisch brandmarken und sich dabei gleichzeitig in kolonialer, imperialer Manier ganz besonders marxistisch gerieren.

Diese Elemente der Arbeiter*innenaristokratie und Kleinbourgeoisie, die sich dazu entschieden haben87 sich auf den Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung in den imperialistischen Zentren und auf der imperialistischen Rente auszuruhen, fungieren, zumindest diskursiv, aktiv als Revolutionsblockaden und stiften viel Verwirrung innerhalb der revolutionären Linken. Für Kommunist*innen und Sozialrevolutionäre muss hingegen klar sein, dass die Perspektive eines strategischen Bündnisses mit der PKK-nahen kurdischen Befreiungsbewegung angestrebt werden muss, was Rojava/Syrien, die Türkei und den Nahen Osten angeht. Das heißt, dass die Kommunist*innen, sofern sie die organisatorischen Kapazitäten und Ressourcen hierzu haben, wie üblich ihre organisatorische, ideologische und gegebenenfalls militärische Eigenständigkeit (obzwar in Rojava natürlich unter dem Oberkommando der YPG/J) bewahrend, aktiv und organisch am Revolutionsprozess Seite an Seite mit der kurdischen Befreiungsbewegung teilnehmen und dafür wie für ihre eigene Sache kämpfen oder sich zumindest mit diesem Kampf solidarisieren müssen – schlicht und ergreifend deshalb, weil es ihre eigene Sache ist!

Selbstverständlich beinhaltet ein solches strategisch-organisches Bündnis einen wechselseitigen Prozess solidarischer Kritik und Selbstkritik. Aber nur dadurch, dass Kommunist*innen eine wirkmächtige Kraft im Revolutionierungsprozess werden und aufzeigen, dass es in der Praxis und realiter (nicht allein in Worten und schlauen Belehrungen) ihre Perspektive und ihre Methoden sind, die die strukturellen Probleme, mit der die Revolution in Rojava unweigerlich konfrontiert werden wird und schon wird, überwinden und eine noch umfassendere Ermächtigung der Werktätigen herstellen können, nur dann können die kommunistischen Kräfte daran mitarbeiten, die sozialistischen und kommunistischen Potenziale der Revolution in Rojava zur Entfaltung kommen zu lassen und mit dafür sorgen, dass die demokratische Revolution plus nationale Befreiung in eine sozialistische Revolution übergeht. Das auf Unwissen gründende, ignorante und arrogante Belehren von Außen hingegen wird nur dazu führen, dass die kommunistischen Kräfte glatt an allen Entwicklungen vor Ort abprallen und als elitäre Schnösel wahrgenommen werden.

Ein möglicher Erfolg der popularen demokratischen und eventuell sozialistischen Revolution in Rojava wird nicht zuletzt große Wirkungen auf den gesamten Nahen Osten und die Türkei haben. Nur dadurch, dass diese Revolution an Fahrt aufnimmt und siegt und somit einen popularen Machtpool im Nahen Osten darstellt, wird es möglich sein, das revolutionäre Potenzial in anderen Ländern des Nahen Ostens (wieder) zu stärken, z.B. die libanesische Hizbullah und die Sadr-Bewegung im Irak von den Fittichen des Iran befreien und zu ihren potenziell revolutionär-demokratischen, antiimperialistischen Wurzeln zurückführen. Gleichzeitig werden sozialistisch-revolutionäre Bündnispartner wie die PFLP in Palästina und der Revolutionsprozess in der Türkei gestärkt und wer weiß, vielleicht auch die Revolutionsbewegung in Ägypten revitalisiert werden. Nicht zuletzt deshalb sollte einer unser Slogans Biji berxwedane Kobanê! sein und unsere Grüße und unser Dank an die hunderten Internationalist*innen, an die Kader Ortakayas, Suphi Nejat Ağırnaslıs, Ashley Johstons, Ivana Hoffmans, Kevin Jochims, Günther Kelstens und viele mehr gehen, die im Kampf für die Revolution gefallen sind und an alle die mutigen Kommunist*innen, Anarchist*innen, Sozialrevolutionäre, Autonomen, revolutionären Demokrat*innen und andere, vor allem die kurdischen Kräfte, die weiterhin dort kämpfen und die revolutionären, internationalistischen Prinzipien hochhalten. Dem selbstvernichtenden Defätismus Stoodts, der, ganz im Sinne des rechten Flügels der Arbeiter*innenbewegung seit Kautskys Motto à la „der Klassenfeind hat nun einmal viel zu viele starke Waffen, deshalb sind Revolutionen nicht mehr möglich“, mehrmals die Übermacht des US-Imperialismus hervorhebt und dem Revolutionsprojekt in Rojava keine Chance einräumt, braucht niemand zu verfallen. Auch der US-Imperialismus ist nur ein Papiertiger im Angesicht der fortschreitenden Revolution. Hauptsache sie schreitet voran!

  • Von Kader Yıldırım

 

5Der folgende Artikel bezieht sich vor allem, aber nicht nur, auf die oben zitierten Artikel.

7Für die Präsentation einer „kaukasischen“ Position innerhalb des Militärs, vgl. folgendes Interview mit dem ehemaligen Vizeadmiral Cem Gürdeniz: http://t24.com.tr/haber/emekli-tumamiral-cem-gurdeniz-tanki-durdurana-sahip-cikarim,351771,

8Hier beschreibt er das Treffen mit den russischen Verantwortlichen: http://www.ulusalkanal.com.tr/rusya-da-kritik-saatler-makale,5661.html.

14Genau das ist der pragmatische Tenor des ehemaligen Admirals der US Navy, James Stavridis: http://foreignpolicy.com/2016/07/18/turkey-and-nato-what-comes-next-is-messy-coup-erdogan-incirlik-air-base-nuclear-weapons/.

15Abdullah Öcalan, Democratic Confederalism, Köln, 2011, S. 33-34.

16Zum Folgenden vergleiche ausführlicher Nikolaus Brauns/Brigitte Kiechle, PKK – Perspektiven des kurdischen Freiheitskampfes: Zwischen Selbstbestimmung, EU und Islam, Stuttgart, 2010, S. 94-108.

17Abdullah Öcalan, Demokratik kurtuluş ve özgür yaşamı inşa (imralı notları), Neuss, 2015, S. 168.

20So z.B. Salih Müslim, Co-Vorsitzender der PYD: http://orf.at/stories/2248762/2248750/.

21Z.B. Cemil Bayık im Interview mit dem ARD am 11. Oktober 2014, vgl. z.B. hier: http://www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_71361012/pkk-droht-tuerkei-mit-neuem-krieg.html.

22Das ist im Übrigen der eigentliche Punkt gewesen und ist es immer noch, an dem der US-Imperialismus am effektivsten versucht, das Revolutionsprojekt in Rojava von innen zu zersetzen, in das bestehende System der Machtverhältnisse zu integrieren und von sich selbst abhängig zu machen. Es ist bezeichnend, dass die „linken“ Kritiker*innen des Revolutionsprojekts in Rojava aus Deutschland dies gerade nicht sehen. Denn ihnen geht es gar nicht wirklich um die Probleme und Widersprüche der Revolution, sondern nur um die eigenen Projektionen und Allüren.

23Der YPG-Sprecher Can Polat meinte dazu mal in leicht munterem Ton: „Wir haben leider keine Kontrollpunkte in der Luft, um die Amerikaner zu kontrollieren. Übrigens wozu auch?“

24In dieses Gekreische mischt auch Stoodt mit, der offensichtlich am wenigsten Ahnung davon hat, was wirklich läuft: „Im syrischen Bürgerkrieg und seinen Konsequenzen für die Kurdistanfrage sammelt sich eine andere Koalition, deren AktivistInnen nicht zum Bündnis mit Russland, sondern mit den USA bereit sind.“ Usw.

25Öcalan, imralı notları, a.a.O., S. 97.

26Ebd., S. 185.

27Ebd., S. 111.

28Ebd., S. 359-60.

29Ebd., S. 151-52, 244.

30Ebd., S. 184.

31Einige ausgewählte Passagen zu Öcalans Einschätzung des Irans finden sich hier: ebd., S. 176-77, 183, 240, 434-36.

32Ebd., S. 126.

33Ich werde hier auf die Verhandlungstaktik Öcalans gegenüber dem türkischen Staat nicht länger eingehen, nur dies: Genau so sehr, wie Öcalan mit dem Staat verhandelt und insbesondere Regierung und AKP auffordert, sich von den Putschisten und NATO-Elementen im Staat zu trennen und stattdessen mit ihm zu verhandeln, genau so oft droht er, mal offener, mal verdeckter, mit entgrenztem Krieg und verweigert sich jeder Entwaffnung oder auch nur Wegsendung der Guerilla ohne greifbare Demokratisierungsprozesse in der Türkei. Die Verhandlungen sieht er als Früchte des bewaffneten Widerstands und sagt, dass diejenigen, die den Krieg führen (also er und die PKK) über den Frieden entscheiden werden, nicht die BDP, die damalige parlamentarische Partei der Kurd*innen. Man merkt, dass Öcalan davon überzeugt ist, dass er den Revolutionierungsprozess auch ökonomischer Verhältnisse in der Türkei weiter vertiefen wird, falls eine Demokratisierung der Türkei nach seinen Vorstellungen gelingen und die legale politische Sphäre vollständig geöffnet und wirkmächtig werden sollte. Hier kritisiert er auch Selahattin Demirtaş dafür, dass er sich zu sehr auf Auseinandersetzungen mit Erdoğan einlässt, statt dem Volk die Prinzipien des „demokratischen Sozialismus“ beizubringen, die BDP/HDP im Allgemeinen dafür, dass sie keine von den herrschenden kapitalistischen Verhältnissen unabhängige kommunale Ökonomie aufbauen usw.

34Ebd., S. 156.

35Ebd., S. 182.

36Ebd., S. 244.

37Ebd., S. 257.

38Ebd., S. 361.

39Ebd., S. 420.

40Ebd., S. 420, 423-24, 425-26.

41Ebd., S. 423-24.

42Ebd., S. 361.

43Ebd., S. 383.

44Ebd., S. 397-98.

45LCM, Hinter den Barrikaden. Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg, Münster, 2016, S. 135.

46Öcalan, imralı notları, a.a.O., S. 453-54.

47Ebd., S. 456.

54Das Interview findet sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=3YqtpjeVkZc.

55Vgl. Öcalan, imralı notları, a.a.O., S. 233-34, 254.

61Öcalan, imralı notları, a.a.O., S. 368-69.

65Eine sehr gute Zusammenfassung gibt folgender Artikel: http://www.offiziere.ch/?p=29051.

66Siehe z.B. Öcalan, imralı notları, a.a.O., S. 111, 112, 147, 185-86, 456.

67Ebd., S. 360.

68Ebd.

71Taştekin, Suriye, a.a.O., S. 467.

75Siehe die Zahlen aus dem betreffenden Wikipedia-Artikel: https://en.wikipedia.org/wiki/Syrian_Democratic_Council.

79Übrigens wirft in der türkischen Linken der PKK niemand vor, sie sei islamfeindlich; das gerade Gegenteil davon findet statt: Der PKK wird in der Türkei von so Organisationen wie der KP „Postmodernismus“ vorgeworfen, weil sie aktiv eine eigenständige Islampolitik verfolgt z.B. mit Konferenzen zu und Praktiken dessen, was Öcalan „demokratischer Islam“ nennt. Klara Bina und Stoodt, die der PKK aufgrund der Nutzung des (sicherlich falschen) Begriffs „Islamfaschismus“ oder „IS-Faschismus“ im Prinzip westlichen, antimuslimischen Rassismus vorwerfen, sollten sich wirklich einmal mit dem beschäftigen, was sie da kritisieren.

80Strangers in a Tangled Wilderness, A Small Key Can Open A Large Door: The Rojava Revolution, 2015, S. 26-27.

82Güllistan Yarkın, „The ideological transformation of the PKK regarding the political economy of the Kurdish region in Turkey“, in: Kurdish Studies, Vol.: 3, No.: 1, Mai 2015, S. 26-46, hier: S. 36-37.

83Marxisten-Leninist*innen und Anarchist*innen unterscheiden sich in der Staatsfrage auch noch betreffs des Umfangs und der Struktur des Gemeinwohls, das mit der sozialen Revolution hergestellt und revolutionär organisiert werden soll. Grob gesagt vertreten Anarchisten hier die Vorstellung, dass das Gemeinwohl etwas sein sollte, was sich auf Grundlage der absoluten negativen Freiheit der Assoziierten gründet, während Marxisten-Leninisten der Meinung sind, dass es auch übergreifendere Elemente der wirtschaftlichen Planung geben sollte, die zwar auch mit und durch die Assoziierten entworfen werden sollten, aber dann derart sind, dass sich die jeweiligen Assoziierten auch entsprechend der umfassenderen Planung zu verhalten haben, sprich Marxisten-Leninist*innen machen eher einen Begriff von positiver Freiheit stark. Ich verzichte hier aufgrund von Platzmangel auf die Diskussion dieses Punktes, weil dieser Punkt auch in der Debatte bisher eigentlich nicht vorkommt.

85Im erwähnten Artikel von Klara Bina heißt es, bezugnehmend zur anarchistisch-utopischen Ideologie der Zapatisten und der PKK: „Sie [eine Haltung, die darauf wartet, dass die Herrschenden ihre Entmachtung akzeptieren; K.Y.] ist in ihrem Kern unwissenschaftlich und antikommunistisch, weil sie sich gegen die Erkenntnisse und auch Erfolge der kommunistischen Weltbewegung richtet. Sie ist auch deshalb antikommunistisch, weil sie – versteckt – eine Kritik an der revolutionären leninistischen Orientierung, die Macht des Staates unbedingt erringen und den Staatsapparat der Bourgeoisie zerschlagen zu müssen, beinhaltet ohne das explizit zu sagen.“ Der Witz ist: Wenn die Kurd*innen dann doch per Gewalt die Staatsmacht in Nordsyrien übernehmen und eine neue Staatsmaschinerie anfangen aufzubauen, dann kommt ein Stoodt, der das als „proimperialistisches Vorgehen“ und eine Leukefeld, die das als „Türoffnung für Intervention“ bezeichnet! Entweder anti-kommunistische Sau oder pro-imperialistischer Scherge: Die PKK macht immer alles falsch, nur die MLer und Antiimps des imperialistischen Zentrum wissen, wie’s geht.

86Klara Bina macht sich damit übrigens derselben Sache schuldig, die sie die ganze Zeit den Antinationalen vorwirft: namentlich des Umstandes, dass sie perfekte (in ihrem Fall: ML-) Kriterien aus dem imperialistischen Zentrum heraus aufstellt, an denen dann die Bewegungen der Peripherie bemessen werden, was sehr komischerweise dazu führt, dass natürlich fast alle aktiven nationalen und sozialrevolutionären Befreiungsbewegungen das Qualitätssiegel „bündnisfähig“ nicht ausgestellt bekommen.

87Ich betone den aktiven Part um klar zu machen, dass es nicht die Errungenschaften der Arbeiter*innenbewegung oder der relative Wohlstand in den Zentren ist, die dazu führen, dass einige Linke permanent oder temporär die koloniale, imperiale Mentalität übernehmen und in linke Worte hüllen; sondern dass ein subjektives Moment des Denkens, Handelns und Tuns – ob bewusst oder unbewusst – hinzukommen muss, damit jene objektiven Bedingungen diesen manifesten Ausdruck annehmen.

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