U-Bahn-Schläger in Uniform

30. Dezember 2013

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admin

Wer in Istanbul Taschentücher in der U-Bahn verkauft, muss damit rechnen, erschlagen zu werden. Ein Augenzeugenbericht.

Man kann es frei heraus sagen: In den allermeisten Fällen sind Menschen mit Uniform, wenn sie nicht im Krankenhaus arbeiten oder in der Guerilla kämpfen, riesige Arschlöcher. Security-Guards gehören zu den Arschlochigsten in dieser an Arschlochhaftigkeit reich gesegneten Gattung. Sie glauben, weil sie irgendeinen lächerlichen Fummel tragen, ist alles, was sie tun von irgendeinem heiligen Gesetz gedeckt. Verantwortung tragen sie sowieso nie für ihre Taten, denn das alles sei eben ihr Job.

Istanbul, Taksim-Platz, 18 Uhr 30, 20. Dezember 2013: Zwei Jungs aus einem Armenviertel verkaufen Taschentücher in der Station, hatten kein Ticket. Es gibt einen Konflikt mit der Security. Einer der Angestellten des Sicherheitsdienstes tickt aus, schlägt dem älteren der beiden Brüder mit einem Metalldetektor den Schädel ein, so erzählt es der jüngere Bruder. In diesem Moment kommen wir dazu, viele Passanten bleiben stehen, es liegt ein junger Mann am Boden, er blutet aus dem Kopf, er bewegt sich nicht, ansprechbar ist er schon gar nicht.

Was ist das erste, was man in dieser Situation macht? Die Rettung rufen? Nein. Erst einmal muss natürlich der Täter in Sicherheit gebracht werden, damit man ihn nicht fotographieren oder gar zur Rede stellen kann. Und dann? Die Rettung rufen? Nein, erstmal den Bruder des Schwerverletzten, der natürlich aufgebracht und verzweifelt ist, anpöbeln und mit Gewalt ruhigstellen. U-Bahn-Schläger in Uniform.

Eine Anwältin, die genauso wie wir zufällig vor Ort ist, ruft die Rettung. Man kann an der Reihenfolge des Eintreffens der verschiedenen Personengruppen ablesen, wie es um diesen Staat bestellt ist. Zuerst kommt natürlich die Polizei, die ist sowieso in dieser Stadt im Belagerungszustand überall und hat es deshalb nicht allzuweit. Was machen die Bullen? Die Augenzeugen befragen? Den Täter festnehmen? Na, sicher nicht. Die setzen erstmal das Werk ihrer Kollegen von der U-Bahn-Schutzstaffel fort und versuchen Augenzeugen zu verscheuchen. Zwischendurch machen sie auch nochmal den Bruder blöd an, schließlich wollen sie ihren „Job“ ja gewissenhaft machen.

Sein Bruder liegt immer noch in der selben Position wie vorher, er ist bewußtlos, blutet stark. Nach den uniformierten Cops kommen erstmal die Zivilpolizisten. Sanitäter sind immer noch keine zu sehen. Die Zivis setzen das begonnene Tagwerk ihrer Kollegen fort, schreien Leute an und fuchteln dumm in der Gegend herum. Keiner der Polizisten kommt auf die Idee, dass man jemanden zum „Tathergang“, wie das so schön in der Sprache der Schreibtischtäter heißt, befragen könnte.

Und dann? Kommt jetzt der Krankenwagen? Wir sind am Taksim-Platz, das nächste Krankenhaus ist vielleicht 500 Meter entfernt… Nein. Jetzt kommt die Presse. Die ersten, die hier etwas Vernünftiges machen, denn sie versuchen, dem Job von Security und Polizei, Augenzeugen zu verscheuchen und Beweise zu vernichten, entgegenzuwirken und das ganze zu dokumentieren.

Das geht natürlich gar nicht. In diesem Land, in dem die Verfassung das Papier nicht wert ist, auf dem sie geschrieben ist, gibt es sowas wie Pressefreiheit nicht. Jetzt tritt ein Typ auf, der wohl selbst gerne Bulle geworden wäre, es aber leider nur zum König der U-Bahn geschafft hat, ein Typ wie Heinrich Manns Diederich Heßling. Schon zuvor war er durch aggressives Verhalten gegenüber dem Bruder des Verletzten aufgefallen, jetzt ist er vollends in seinem Milieu. Er freut sich offenkundig endlich in eine Situation geraten zu sein, in der er Leuten erklären kann, wie wichtig er ist und was sie alles nicht dürfen. Er schubst Kameramänner, versucht Fotographieren und Filmen zu unterbinden. Wir sagen ihm, dass er uns nicht interessiert und wir einen Presseausweis haben, wir also hier Fotos machen können, bis ihm auch das letzte Haar von seiner Semiglatze gefallen ist. Einen Kameramann greift er tätlich an, anderen hält er dauernd die Hand vors Objektiv. Man kann sich gut vorstellen, wie er heute Abend nachhause kommt und seiner Frau erzählt, welch unermesslichen Dienst er heute seinem Vaterland erwiesen hat, bevor er ihr, weil´s Abendessen zu kalt ist, die Fresse poliert. Der vielleicht 17, 18 Jahre alte Junge, dem sein Kollege gerade den Schädel zertrümmert hat, interessiert ihn überhaupt nicht. Er will Ruhe hier, in seinem kleinen Königreich U-Bahn. Schreit der andere Bruder mahnt er ihn, still zu sein, wer will sich denn schon daneben benehmen.

Die Autorität des türkischen Heßling langte nicht, der Vorfall ist gut dokumentiert und jetzt schon z.B. in der Tageszeitung Birgün. Nach der Presse traf, endlich, die Rettung ein. Der junge Mann wurde abtransportiert. Wie schwer seine Verletzung ist, ist noch unklar. Wir wünschen ihm das Beste. Ob der Täter je zur Verantwortung gezogen wird, ist fraglich. Haber Türk schreibt, er wurde mittlerweile festgenommen. Allerdings: In der Türkei gilt in den meisten Fällen: was man mit einer Uniform bekleidet tut, als gerechtfertigt. Und es wird sicher nicht allzu schwer sein, einen Richter zu finden, der dem Wachmann bescheinigt, sich in einer überaus gefährlichen Notwehrsituation gegenüber den zwei Taschentücher verkaufenden Jugendlichen befunden zu haben – falls das Ganze je den Weg zum Gericht findet.

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